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2 – Dienstag, den 09.11.2010

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So früh wie Katja musste sonst keiner aus dem Haus, also schlief noch alles, als sie so leise wie möglich duschte, sich anzog, ihre Tasche kontrollierte und aus dem Haus schlich. Auf dem Weg zur Schule kam sie an einer exzellenten Bäckerei vorbei, die um sechs öffnete und um halb sieben schon sehr gut sortiert war. Dort holte sie sich zwei Sandwiches, eine Flasche Orangensaft und eine Flasche Wasser. Mandarinen hatte sie noch in ihrem Fach liegen (wenn sie keiner geklaut hatte).

Das war am Mariengymnasium wie an allen Schulen das Problem - niemand hatte etwas ausreichend Großes und Abschließbares – es gab Postfächer, die mit der Sendung eines Prüfexemplars und zwei Kopiervorlagen schon vollgestopft waren, und die Stapel auf den Tischen – jeder hatte vor sich Bücher, halb eingesammelte Schulaufgaben, diverse Zettel, unbearbeitete Post, einen Kaffeebecher mit Stiften, meistens noch weitere Kaffeebecher mit unappetitlichen Kaffeeresten, Obst, angebrochene Gebäcktüten, daneben (sofern noch Platz war) einen CD-Player und zusammengerollte Lerntafeln. Für etwa dreißig arrivierte Kollegen gab es noch abschließbare Schränkchen im Format vierzig mal vierzig – mit drei Ordnern waren die praktisch voll, aber den Besitzlosen erschienen diese zerkratzten Schränkchen an der hinteren Wand des Lehrerzimmers als unerhörter Luxus.

Katja stellte im noch menschenleeren Lehrerzimmer fest, dass sich niemand an ihrem Stapel vergriffen hatte, packte ihre Tasche aus und um und ging nach nebenan, um den Kopierer hochzufahren.

Sie produzierte drei Stapel Arbeitsplätter und eine Folie, lochte alles und verräumte es, danach packte sie ihre Brotzeit in das Körbchen auf ihrem Platz und verschloss es.

Ach nein, sie hatte ja noch gar nicht gefrühstückt! Sie trank ein paar Schlucke Saft, aß die Semmel mit Leberkäse, Senf und Gurke, verräumte den Müll und begrüßte die ersten Kollegen, die nun langsam eintrudelten. Kurz vor halb acht, da wurde es hier immer lebendig.

Das freundliche Nicken von Luise Wintrich und Hilde Suttner freute sie am meisten, die beiden waren nett und kompetent und bemühten sich wirklich, in dieser heillos überfüllten Schule die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Nicht leicht ohne Geld und ohne Platz, aber sie hatten schon einiges erreicht. Luise hatte es vor einiger Zeit sogar fertig gebracht, Teile des Albertinums noch hier unterzubringen. Die hatten jetzt eine nagelneue Schule draußen in Mönchberg. Mit nicht gerade wenigen Mängeln und schon wieder zu klein, wie man hörte…

An Katjas Tisch wurde es zusehends voller. „Hast du deine Englisch-Klausur schon fertig?“, fragte Sabine, heftig in ihrer Tasche wühlend. „Verflucht, wo hab ich´s denn, ich kann´s doch nicht vergessen haben…“

„Nö. Du?“

„Ach wo. Ich schaff´s bestimmt nicht bis zum sechzehnten. Ich seh mich überhaupt nicht mehr durch. Und jetzt hab ich die Mappe für die achte in Spanisch vergessen. Kacke.“

„Bis zum sechzehnten musst du´s aber schaffen“, mahnte Katja. „Hilft nichts, aber die Waldner ist da streng. Drei Wochen, nicht länger.“

„Mist. Wie weit bist du denn? Hast du mal einen Rotstift?“ Sabine plumpste neben sie. Katja gab ihr einen von denen, die für schnorrende Kollegen gedacht waren – von denen kriegte man nie was zurück.

„Hier. Nur noch den Essay, den Rest hab ich. Vielleicht kann ich´s am Donnerstag rausgeben. Schaut nicht schlecht aus.“

„Bei mir schon. Garantiert über vier null. Dann muss ich ja auch noch zum Chef – dann kann ich die drei Wochen ja gar nicht einhalten.“ Sie grinste triumphierend.

„Vergiss es“, zerstörte Katja ihre Hoffnungen, „so was ist eingerechnet. Du musst dich wohl ranhalten. Aber ein Wochenende hast du ja noch.“

„Was nützt mir ein Wochenende? In meinem Kurs sind 22 Leute, ich hab noch vier Aufgaben vor mir, und wir fahren am Wochenende zu Wolfis Schwester nach Hamburg. Mal so richtig durch die Kneipen ziehen.“

Katja wunderte sich ein bisschen. Was war das für eine Planung? Andererseits war so etwas Kopfloses für Sabine durchaus typisch.

„Ich hab 25“, sagte sie also nur. „Oh, ich muss los. Die 10 b wohnt mal wieder am Arsch der Welt, im Dachgeschoss.“

„Dann mach dich mal an den Aufstieg. Hasta la vista, baby.“

Eine Stunde Vorbereitung auf die Lateinschulaufgabe, eine Doppelstunde Englisch in der Elften, dann hatte sie wieder eine längere Pause. Sie trieb sich im Lehrerzimmer herum, sortierte ein Ex fertig, dessen letzte Exemplare man ihr ins Fach gelegt hatte, und steckte es der Fachbetreuerin für Latein ins Fach, tat das gleiche mit einem Ex der 5 c und begann die Sozialkundeklausur zu entwerfen. Da hatte sie alle vier Kurse gleichzeitig – furchtbar, fast hundert Leute. Sie hatte erst eine korrekturtaugliche Aufgabe gebastelt, als sie wieder in den Unterricht musste – ein Häppchen Sozialkunde, zwei Stunden Intensivierung in der Fünften.

Die Kleinen waren einfach entzückend, sinnierte sie auf dem Weg zurück ins Lehrerzimmer. Und so eifrig. Manchmal noch nicht so ganz gewitzt, aber es waren ja auch noch so kleine Köpfe…

Im Lehrerzimmer herrschte immer noch gewaltiger Trubel. Katja fiel ein, dass heute Nachmittag Seminare stattfanden – also war das Gedränge wohl kein Wunder. Na, ihr reichte es jetzt. Vielleicht würde sie im nächsten Jahr auch ein Seminar anbieten…

Da sollte sie mal drüber nachdenken.

Isi setzte sich zu ihr und stöhnte. „Boah – wieso hab ich eigentlich nur Mittelstufe? Solche Rotznasen! Für ihre Muttersprache interessieren die sich doch einen Dreck.“

„Hast du dich mitten in der Pubertät für Textzusammenfassungen und indirekte Rede interessiert?“

Isi musste lachen. „Nee, du hast ja Recht. Ist mir alles total am Arsch vorbei gegangen. Aber wir glauben ja immer -“

„- dass wir so wahnsinnig motivierend sind, ganz anders als unsere ollen Pauker früher“, vollendete Katja den Satz und feixte.

Isi feixte zurück. „Ganz genau. Na, ich gehe jetzt heim und streiche den Flur. Hab ich schon seit Tagen vor. So was lenkt so schön von allem anderen ab. Und wenn man schon mal keine Schulaufgaben liegen hat…“

„Welche Farbe?“

„Zart apricot. Der Flur ist so dunkel. Die Wohnung ist eigentlich grausig, aber die Miete ist schön billig. Am Bahnhof. Nur schlechte Kneipen, wohin man schaut.“

„Das stelle ich mir eigentlich ganz lustig vor“, überlegte Katja.

„Echt? Ich hätte lieber was Gepflegteres in einer besseren Gegend. Aber dafür reicht´s noch nicht. Ist schließlich erst mein zweites Jahr hier. Wo wohnst du eigentlich?“

„Leiching“, gab Katja ungern zu.

Isi pfiff durch die Zähne. „Wow! Vom Feinsten, was?“

„Naja. Fade Gegend. Und ich würde lieber wo wohnen, wo es genug heißes Wasser gibt, eine funktionierende Heizung und wenigstens überhaupt mal eine Kneipe.“

„Hast du so ne Bruchbude erwischt? Dann zieh doch um!“

„Will ich jetzt auch. Ausziehen, besser gesagt.“

Isi schaute besorgt. „Du willst dich trennen? Tut mir Leid.“

„Wie – trennen?“

„Na – ausziehen, das klingt, als wolltest du dich von einem Macker verabschieden.“

Katja spürte, wie sie rot wurde. „Lach nicht – ich wohne noch zu Hause. Sozusagen, ich finde nicht, dass das ein Zuhause ist.“

„Bei den Eltern? Wie alt bist du? Dreißig?“

Katja nickte. „Meine Mutter ist eine wahnsinnige Glucke, sie hat praktisch alle Kinder um sich versammelt. Nur meine Schwester ist entkommen.“

„Hut ab!“

„Zu viel der Ehre. Sie wohnt eine Straße weiter und hat schon fünf Kinder. Und ich glaube nicht, dass es dabei bleibt. Mama kennt nur zwei mögliche Karrieren für ihre Töchter – Ehefrau und Mutter oder in der Firma arbeiten. Deshalb bin ich sowieso das schwarze Schaf. Und das hab ich jetzt langsam satt.“

„Firma?“

„Ach, die stellen Möbel her. Aber mich interessieren Holz, Design und BWL halt so gar nicht.“

„Man soll ja schon machen, was einem auch liegt“, meinte Isi, „aber wenn du hier bist und deine Schwester hauptberuflich brütest, wer kümmert sich dann eines Tages um die Firma?“

„Jetzt vor allem meine Mutter, aber ich habe auch zwei Brüder und noch eine Schwester. Und die drei sind in der Firma. Das muss reichen, finde ich.“

„Finde ich auch. Brüder? Hübsch? Wie alt?“

Katja lachte. „Vergiss es. Alex ist ein Workaholic und verheiratet, und Nick ist ein Workaholic und schwul.“

„Schade. Mir hätte Leiching schon gefallen.“

„Nicht in diesem Haus. Ich muss jetzt wirklich nach einer Wohnung suchen, sonst raste ich noch total aus.“

„Was willst du denn so ausgeben?“

„Keine Ahnung. Mir schweben zwei oder drei Zimmer vor, am liebsten hier in der Nähe oder im Malerviertel. Was kostet so was wohl?“

Isi überlegte. „Je nach Zustand und Alter… ich denke, so zwischen siebenhundert und zwölfhundert.“

Jetzt war es an Katja, durch die Zähne zu pfeifen. „Ganz schön happig! Zwölfhunderttausend – das ist ja über eine Million! Das hab ich nicht. Nicht annähernd! Ich würde mich bis an mein Lebensende verschulden. Bist du sicher?“

„Ja. Aber ich habe gemeint, zwischen siebenhundert und zwölfhundert Euro im Monat. Miete, du verstehst?“

Katja schaute zerknirscht. „Logisch. Ich komme mir jetzt selbst vor wie aus dem Elfenbeinturm… aber ich suche schon eine Eigentumswohnung.“

„Unser Prinzesschen… Eigentum… da würde ich sagen, so um die zweihunderttausend herum. Im besseren Malerviertel vielleicht noch ein bisschen mehr. Hast du das?“

„Das kriege ich hin“, wich Katja aus. „ich glaube, ich gehe jetzt heim und studiere den Immobilienteil.“

„Und wenn sie dich dabei erwischen?“

„Okay, du hast Recht. Ich gehe ins Café und lese da den Immobilienteil. Und danach ziehe ich mir das Theaterstück rein, hinterher fahre ich heim und spiele das Unschuldslamm.“

„Und ich verziehe mich jetzt an meine Farbtöpfe. Das Theater kann mir gestohlen bleiben, ich kann nicht jeden Tag abends noch hier herumlungern. Frohes Zeitungslesen!“

Katja packte zusammen, grüßte noch einmal in die Runde und strebte zum Parkplatz. Sie fuhr nicht weit, nur in die Patriziergasse, wo es in einem Durchgang zur Welsergasse ein putziges Café gab. Auf dem Weg dorthin nahm sie noch schnell einen Morgenexpress mit und schlug ihn begierig auf, sobald sie sich in ein stilles Eckchen verzogen und einen Espresso und ein Stück Himbeerkuchen bestellt hatte.

Das war schließlich ihr Mittagessen, verteidigte sie sich vor sich selbst. Und warum nicht Himbeerkuchen? War doch gesundes Obst?

So, und war jetzt hier im Angebot?

Aha, das klang gut. Drei Zimmer, Kochnische, Duschbad, interessanter Grundriss. Nähe Mönchberg.

Hm. Wieso bei der Wohnungsgröße nur Kochnische und Duschbad?

Sie las weiter. Fünfzig Quadratmeter? Wie konnten das denn drei Zimmer sein? Und interessanter Grundriss – war das was Gutes oder doch eher seltsam? Und Nähe Mönchberg… was war da in der Nähe, was man nicht laut sagen konnte?

Selling. Na toll. Voll die Fünfziger Jahre!

Was gab´s denn noch?

2ZKB, 70 qm, Bj.08, zentr. Lage, umständehalber günstig abzugeben.

Was das wohl für Umstände waren?

Drei Zimmer, 84 qm, Philippinengasse. Sanierter Altbau. Hm, wahrscheinlich knarzten die Böden und es gab kein heißes Wasser. Das hatte sie ja nun schon in Leiching. Immerhin waren die Wörter der Anzeige ausgeschrieben. Wie viel wollten die haben? Vierhunderttausend? Frech.

Zweizimmerküchebadbalkon in der Altstadt, gut vermietet… nein.

Zweizimmerküchebadbalkon in S-Bahn-Nähe. Huch! Schnell weiter. Das war wahrscheinlich in Waldstetten oder so. Eine halbe Stunde bis zur S-Bahn.

Zweizimmerküchebadbalkon. Nur hundertzwanzigtausend gegen leichte Gartenarbeit. Nein danke - das kannte sie von zu Hause, Mamas sehnsüchtiger Blick: Jemand müsste mal das Laub unter der Hecke

Dreizimmerküchebadbalkon Baujahr 1969. Nein, bestimmt nicht.

Zweieinhalbzimmerküchebadbalkongästetoilette. Nicht schlecht… ach, in Leiching. Zu nahe dran – und zu weit weg von der Schule.

Danach kamen die Vierzimmerwohnungen. Zu teuer und zu groß, sie hatte eigentlich keine Lust, jede Woche vier Zimmer durchzuputzen.

Alles andere war vermietet, am Arsch der Welt, zu alt oder zu teuer. Nichts Brauchbares also.

Was sie allerdings doch interessiert hätte, waren die „Umstände“, warum diese eine zentrale und recht neue Wohnung günstig abzugeben war. Ob sie da mal anrufen sollte?

Lieber nicht. Lieber morgen noch mal in die Zeitung schauen!

Sie sah auf die Uhr – fast fünf. Um sechs sollte das Theaterstück beginnen, dann wäre sie etwa um neun zu Hause. Kein Abendessen. Aber der Himbeerkuchen hatte sich schon recht sättigend ausgewirkt…

Sie könnte in die Schule zurückkehren, noch ein bisschen arbeiten – aber was? Die Klausur hatte sie zu Hause in den Schreibtisch eingeschlossen. Vorbereiten? Naja, ein bisschen vielleicht. Und kurz vor dem Theater noch was essen…

Sie nahm sich zwei Brezen und eine Flasche Apfelschorle mit und fuhr in die Schule zurück. Viel schaffte sie nicht, bevor sie in der Aula Platz nahm, um dem Unterstufentheater zuzusehen.

Das Stück, eine kesse Neuinterpretation von König Drosselbart, war lustig. Und sehr putzig gespielt. Susanne Barthel, die den AK Theater betreute, nahm etliche Blumensträuße und tosenden Applaus entgegen und verbeugte sich mit ihrer Truppe unzählige Male, bevor der Vorhang fiel und Katja, müde und ungeduldig, entschlüpfen konnte.

Sie fuhr zügig nach Leiching, parkte auf der Straße, weil die Auffahrt mal wieder zugestellt war, und schlich sich leise ins Haus. In ihrem Zimmer sah sie sich missmutig um. Groß war es, bestimmt vierzig Quadratmeter. Eine Wohnung wäre insgesamt kaum größer. Aber der knarrende Holzboden, die schweren dunklen Möbel, die immer schon hier gestanden hatten, das kleine Duschbad im Stil der mittleren Sechziger, mit dem abgeschabten Duschkopf und dem halbblinden Spiegel, der nicht erneuert werden durfte…

Scheußlich. Authentische Zustände aus den Sechzigern. Das war die Renovierung der Großeltern gewesen, und Mama klammerte sich an die Idylle ihrer jungen Ehe. Ob es Papa hier eigentlich gefallen hatte? In seinem Elternhaus? Aber wer konnte schon die Ehe der Eltern beurteilen, obendrein im Nachhinein? Das konnte ihr ja auch egal sein, Hauptsache, sie kam hier mal raus und in eine Wohnung, die dem einundzwanzigsten Jahrhundert entsprach…

Sie musterte unzufrieden die zahllosen Flaschen und Näpfchen auf dem Badewannenrand und auf der winzigen Glasplatte unter dem unbrauchbaren Spiegel. Kaufte sie Kosmetika eigentlich als Ersatzbefriedigung, weil sie sich hier nicht wohl fühlte? Was war das alles für ein Zeug?

Sie schüttelte einige der Flaschen – halb leer. Die sollte sie verbrauchen, bevor sie hier auszog.

Überhaupt sollte sie ihren Krempel gründlich ausmisten, beschloss sie. Mit all diesem Schotter würde sie nicht umziehen.

Viertel vor zehn… heute würde sie mit dem Ausmisten nicht mehr anfangen. Vielleicht noch ein, zwei Essay-Aufgaben und dann ins Bett?

Immerhin kam keiner herein, das Haus war still. Keine Fragen, warum sie so spät nach Hause kam, ob sie nicht noch was essen wollte, ob sie morgen nicht dies oder jenes erledigen könne, ob sie nicht doch lieber in der Firma…? Allein schon wegen geregelterer Arbeitszeiten?

Sie schaffte noch drei Essays, zählte den Rest durch und stellte befriedigt fest, dass damit nur noch zehn fehlten. Vielleicht morgen früh noch ein paar, den Rest morgen Nachmittag, am Abend die Endkontrolle und dann raus damit…

Sie schminkte sich rasch ab, putzte sich so leise wie möglich die Zähne und fiel ins Bett.

Kein Wohlgefallen

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