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3 – Mittwoch, den 10.11.2010
ОглавлениеSie kam am nächsten Morgen sogar mit den ganzen zehn Essays durch, errechnete den Durchschnitt, machte die acht Besten fertig, duschte dann möglichst leise, wobei die Flasche mit dem unsäglichen Pfirsich-Duschgel leer wurde, cremte sich mit einem Rest Bodylotion ein – wieder was weg – und zog sich an, Jeans, hellgraue Bluse, grauer Herringbone-Blazer, graue Ballerinas.
Nicht übel, fand sie.
Nicht, als stamme sie aus dieser verwesten Gruft!
Sie ordnete ihre Tasche, steckte den Geldbeutel nach vorne, damit es nachher beim Bäcker schneller ging, schlich nach unten – unter Vermeidung der zwei knarzenden Stufen – und verließ so geräuschlos wie möglich das Haus.
Im Auto drehte sie aber sofort das Radio auf, weil ihr dieser lautlose Morgen auf die Nerven ging. Fröhlich falsch mitgrölend fuhr sie zum Bäcker und dann zur Schule. Dieses Mal war sie nicht die erste im Lehrerzimmer – Hilde Suttner war schon da, kauerte vor dem Kopierer und entfernte leise fluchend einen Papierstau.
Katja ging ihr zur Hand. „Scheißgerät. Das macht er immer, wenn man eine Farbkopie braucht.“
Hilde grinste. „Die Freuden der Technik. Ich höre, du suchst eine Wohnung?“
Katja war perplex. „Woher weißt du das denn?“
„Isi. Isi ist eine alte Quadratratsch´n. Hast du das noch nicht gewusst?“
„Na, jetzt weiß ich´s. Und – weißt du vielleicht eine Wohnung für mich?“
„Leider. Vor kurzem war bei uns was frei, direkt am Waldburgplatz – aber da ist jetzt ein junges Paar drin, und die brüten auch schon. Ich glaube, die bleiben länger. Mieten oder kaufen?“
„Hat Isi das nicht erzählt? Kaufen.“
„Hm. Da ist es eigentlich einfacher… Wo hast du denn schon geschaut?“
„MorgenExpress.“
„Schau im Internet. Gib ein, was du willst und wo und schau. Da gibt es oft auch bessere Fotos und anständige Grundrisszeichnungen.“
Katja ärgerte sich. „Ich Huhn, da hätte ich aber auch selbst draufkommen können.“
Hilde lachte. „Denk dir nichts, was glaubst du, auf was alles ich schon nicht gekommen bin. Hast du deinen Rechner dabei?“
Das hatte Katja dummerweise nicht – und die Rechner im Lehrerzimmer waren dauernd besetzt. Deshalb ging ihr Hildes Rat die ganzen acht Stunden, die sie heute hatte, im Kopf herum und lenkte sie von den eigentlichen Themen ab. Nur gut, dass niemand in ihre Sprechstunde kam, sie hätte ihm wahrscheinlich recht unpassende Antworten gegeben.
Nachdem sie ja gestern praktisch den ganzen Tag in der Schule verbracht hatte, verschwand sie heute schon um drei, fuhr zügig nach Hause und machte sich zu Frau Remmlers Missfallen in der Küche selbst ein Brot.
„Frau Remmler, es tut mir ja Leid, aber zum Mittagessen war ich zu spät, und bis heute Abend halte ich ohne Essen nicht durch“, fuhr sie die Köchin schließlich an.
„Aber das ist es ja gar nicht. Ich könnte Ihnen doch – und richtig mit ordentlich Butter drauf… oder ein Süppchen? Ich hab auch noch kaltes Huhn da.“
Katja seufzte. „Frau Remmler, ich wollte Sie nicht anschnauzen – aber ich hasse Butter. Was Sie im Übrigen eigentlich wissen könnten. Ich möchte jetzt einfach zwei Scheiben Vollkornbrot und ein Stück Käse dazwischen. Wenn Ihnen das aber Probleme bereitet, kaufe ich mir ab morgen eben ein Sandwich in der Bäckerei.“
Frau Remmler war beleidigt – seit Jahren legte sie alleine fest, was in der Nussbaumallee 36 gegessen wurde und was die Familie zu mögen hatte – und jetzt machte sich da eine mausig? Grummelnd verschwand sie in der Speisekammer und garantiert würde sie sich nachher bei Mama beklagen.
Egal.
Katja schnappte sich ihr Brot und noch schnell zwei hoffentlich gewaschene Tomaten dazu und eilte in ihr Zimmer am Ende des Westtrakts. Wieso hatte sie eigentlich bloß ein Zimmer, überlegte sie missmutig. Sogar Nick, der genauso alleine lebte (zumindest offiziell) hatte zwei, Alex und Irma drei riesige (aber auch nicht üppig für drei Leute) und Lisa für sich und Leon zwei und eine Kammer… Hier war doch alles unfair und gemein!
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm sich die Reste der Klausur vor, genussvoll kauend. Nach einer halben Stunde war der Packen fertig, überall standen Noten drauf, alles war abgezeichnet und der Schnitt lag bei 3,14. Sehr ordentlich. Der Kurs war auch sehr nett und eifrig.
Sie füllte den Umschlag aus, packte alles in eine Mappe und versenkte diese in ihrer Tasche; danach packte sie die Tasche für den Donnerstag um, schrieb sich auf, welche Leute noch das Sozialkunde-Ex zurückgeben mussten und rief dann Google auf. Zwei Zimmer – Leisenberg/Malerviertel - Kauf – Klick.
Hui!
Es entrollten sich haufenweise Angebote.
Bei näherer Betrachtung konnte man die meisten allerdings gleich wieder streichen. Zu groß, zu klein, zu teuer, zu alt oder den im Allgemeinen anklickbaren Grundrissen zufolge bescheuert angelegt.
Es blieben zwei gute Angebote übrig und eins, das ihr bekannt vorkam. Sie rief sofort bei den angegebenen Nummern an – mit ihrem Handy, da Mama für die hauseigene Anlage einen Einzelverbindungsnachweis bekam, diese Anrufe sie aber rein gar nichts angingen.
Eigentlich nahm sie immer ihr Handy. Auch etwas, was Mama ärgerte: „Tu doch nicht immer so geheimnisvoll!“ Privatsphäre war ihr eben so gar kein Begriff.
Die erste Wohnung war höchstwahrscheinlich schon weg und so schön, dass sie einen Konkurrenten überbieten musste, war sie auch wieder nicht.
Die zweite war langfristig vermietet. „Ach, haben wir das nicht erwähnt? Aber Sie können natürlich auf Eigenbedarf klagen…“
Ja, toll. Jahrelange Prozesse und währenddessen noch hier wohnen, nichts als dicke Luft?
Katja bedankte sich kühl und legte auf.
Das dritte Angebot war schon wieder diese komische Wohnung, die umständehalber günstig abzugeben war. Neugierig geworden, klickte Katja sie an. Hm – der Grundriss war vernünftig. Sogar ganz nett. Alles hell, Balkon nach Westen…
Was für Umstände?
Das stand nicht drin. Natürlich nicht. Der Kaufpreis war sensationell, 110.000 € - für eine knapp zwei Jahre alte Wohnung? War darin ein Blutbad angerichtet worden? Gehörte sie der Mafia oder wie?
Sollte sie da mal anrufen?
Ach, warum. Es gab doch sicher noch mehr Wohnungen, und die hier musste eine Macke haben. Vielleicht eine bedenkliche.
Sie änderte die Anfrage auf Eigentumswohnung 2-3 Zimmer Leisenberg und klickte wieder.
Aha, da waren ja noch andere Wohnungen!
Kunststück, jetzt gab´s auch welche in Selling, Leiching und Zolling. Selling war zu spießig, Leiching von der Mischpoche verseucht und Zolling – naja. Ganz schön weit zur Schule!
Henting, An der Flussaue – nein danke, das klang nach Überschwemmungsgebiet. Sie konnte sich ihre Schüler schon vorstellen: „Frau Herzberger, wir haben Sie gestern in den Nachrichten gesehen, Ihnen ist die Wohnung abgesoffen!“ Musste sie nicht haben.
Außerdem war Henting genauso schlimm wie Leiching. Wirklich schöne hochherrschaftliche Villen gab´s ohnehin nur im nördlichen Waldburgviertel.
Sie sah die Angebote rasch durch. Nichts – alles wieder zu groß, zu klein, zu teuer, zu seltsam… warum bauten die Leute denn so scheußliche Wohnungen?
Jetzt riss ihr der Geduldsfaden und sie gab gleich Waldburgviertel ein.
Zwei Angebote – na toll.
Das eine kannte sie ja schon – die seltsamen Umstände…
Das andere klang toll. Zweieinhalb Zimmer, nagelneue Einbauküche, Bad und Gästebad, Dachterrasse, Baujahr 2009…Sie pfiff durch die Zähne, aber der Pfiff erstarb, als sie den Preis sah: vierhunderttausend? Das war eindeutig zu viel. Zweieinhalb Zimmer waren eben nur zweieinhalb Zimmer – auch wenn sie achtzig Quadratmeter hatten.
Vielleicht hatte sie ja morgen mehr Glück. Sie rief sicherheitshalber eine unverfängliche Website auf und löschte das Protokoll, dann betrachtete sie sich das Zimmer. Die Möbel konnte und wollte sie nicht mitnehmen – aber den Inhalt. Naja, den wesentlichen Inhalt. Den unwesentlichen sollte sie mal zügig entsorgen!
Sie begann mit den Schulordnern, die im Moment nicht im Gebrauch waren. Englisch 6 und Englisch 7 waren die ersten Opfer. Sie kontrollierte sie auf Vollständigkeit, nahm die unnützen Kopien heraus und legte damit einen Stapel Schmierpapier an. Englisch 8 schaffte sie auch noch, dann hatte sie keine Lust mehr auf Schreibwaren und öffnete ihren Kleiderschrank.
Hm. Wohl gefüllt; kein Wunder, wenn man nur einen solchen Schrank hatte – eine Kleiderstange, vier Fächer, ein Hutfach und unten eins für die Schuhe. Im Hutfach waren ihre Taschen, ihre Handschuhe, ihr Schirm und tatsächlich ein Hut untergebracht.
Die Fächer enthielten einen Stapel T-Shirts, einen mit Strickjacken und Pullis, ein Fach war der Nachtwäsche vorbehalten, in einem stand eine Pappbox mit Unterwäsche und eine weitere mit Strümpfen, und ganz unten befanden sich ihre Jeans.
An der Stange baumelten vier Blazer, zwei bessere Hosen, etwa zehn Blusen, ein dunkles Kostüm, ein schon recht bejahrtes Abendkleid und ein kleines Schwarzes.
Sieben Paar Schuhe standen ganz unten. Was sollte sie da ausmisten, das war doch nun wirklich nicht zu viel?
Sie sah die Nachtwäsche durch – vier Nachthemden (plus eins unter dem Kopfkissen), alle in Ordnung, alle schön, alle aus solider gewirkter Baumwolle mit Punkten oder Blümchen, alle schön lang. Die würden alle bleiben. Der Morgenmantel daneben war das dünne Ding für Sommer und/oder Reisen. Den konnte sie mal waschen, er wirkte etwas muffig. Sie warf ihn in Richtung Tür, an der der Wintermorgenmantel schon hing. Beide dunkelgrau, beide aus Seide, das Winterexemplar mit Fleece gefüttert. Beide schön.
Strümpfe. Das hieß zwei Strumpfhosen, einige Paar Socken aus dünner Seide, einige Feinsöckchen, einige Baumwollsocken. Na gut, das eine dunkelblaue Paar wirkte an den Fersen schon sehr dünn. Sie legte einen neuen Haufen an, indem sie das Sockenpaar in einer Mülltüte versenkte.
Die Wäsche war auch völlig in Ordnung, sieben Garnituren, bestehend aus je einem BH und drei Slips, alles spitzenverziert, in verschiedenen Farben. Keine losen Gummis, keine herausspießenden Drahtbügel… Alles in Ordnung.
Sie entsorgte ein T-Shirt, das durch häufiges Waschen mehr breit als lang geworden war, griff in alle Blazertaschen (Ausbeute: vier einzelne Euro) und stand dann seufzend vor dem Schrank. Viel konnte da nicht weg.
Und das Bücherregal? Auf die Ordner hatte sie immer noch keine Lust, aber die füllten ja auch nur zwei Fächer… die Bücher aber zehn. Sie fand zwei schlechte Krimis, die sie garantiert nie wieder lesen würde, einen Bildband, den sie mal geschenkt bekommen hatte, einige eselsohrige Reclamheftchen, die sie nie wieder brauchen würde, und zwei Betriebsanleitungen, die zu längst dahingeschiedenen Geräten gehörten. Altpapier resp. Lesefabrik-Tüte. Da würde sie in den nächsten Tagen noch weiter suchen und die Tüte dann einmal nach der Schule entsorgen.
Halb sechs – noch zweieinhalb Stunden Zeit bis zum Familiendinner.
Unter ihr wurde es lauter. Sie kontrollierte gerade ihre Bettwäsche – aber wenn man gerade mal drei Garnituren besaß, konnte man nichts entsorgen. Außerdem mochte sie die drei Bezüge, wenn sie auch weder kostbar noch besonders eindrucksvoll waren. Sie hätte sich gerne Bassettis geleistet, aber die würde Doris ja doch bloß bei jemand anderem aufziehen, sobald sie einmal vergaß, den Kleiderschrank abzuschließen.
Von Hotel Mama konnte keine Rede sein, sie putzte selbst, sie wusch und bügelte selbst und aß nur abends hier, sie parkte meistens auf der Straße und benutzte fast nie den Garten – den Park, wie Mama zu betonen beliebte.
Was gab es noch, was weg konnte?
Die Handtücher im Bad gehörten nicht ihr, sie stammten aus dem Familienfundus und waren cremefarben, dünn und kratzig. Sie gehörten eigentlich in die Altkleidertonne, aber das war ja nun nicht ihr Problem. Die vielen Kosmetika allerdings waren sehr wohl ihr Problem; sie setzte sich auf den Badewannenrand neben die Duschabtrennung und musterte die Flaschen. Halbleer, das wusste sie schon. Und zweimal das gleiche Rosenduschgel! Sie goss die beiden zusammen und stellte die leere Flasche zur Entsorgung bereit. Die Seife mit dem Zitronenduft mochte sie nicht, darauf juckte die Haut. Weg damit! Ach nein, die würde sie ins Gästebad im Erdgeschoss schmuggeln und warten, ob das jemand merkte.
Das Farbtreu-Shampoo in der Dusche war übrigens leer.
Na, immerhin! Sie erhob sich und schlich mit den Flaschen und der Seife nach unten, wo sie die Seife diskret platzierte und die beiden Flaschen in die Plastikmülltüte stopfte.
Kaum war das erledigt, traf sie Mama, die gerade das Haus betreten hatte.
„Na, Katja? Schon zu Hause?“
War das ironisch gemeint? Am besten dumm stellen!
„Ja – du auch schon, wie ich sehe… Guten Abend!“
„Dir auch. In der Firma ist im Moment eine Menge los. Wir könnten da schon noch eine tüchtige Kraft brauchen…“
Ging das schon wieder los!
„Dann solltest ihr vielleicht inserieren… Wahrscheinlich richten sich jetzt viele Firmen neu ein, wo die Krise vorbei zu sein scheint?“
„Ja, genau. Immerhin, du scheinst dich ja doch für die Wirtschaftslage zu interessieren?“
„Natürlich“, antwortete Katja mit wohl dosiertem Erstaunen, ohne sich aber auf eine Diskussion einzulassen.
Ihre Mutter seufzte. „So was Unzugängliches wie dich erlebt man wirklich selten. Willst du dich nicht doch mal ein bisschen einfügen?“
„Ach, Mama! Ich habe meinen Traumberuf, glaub´s mir doch. Und für das andere werde ich schon eine Lösung finden, sei nur beruhigt.“
„Hoffen wir´s! Doris und Frau Remmler haben sich schon wieder bei mir beklagt.“
Musste sie eigentlich so leben, wie es dem Personal gefiel?, dachte Katja rebellisch. Vielleicht sollte sie doch diese Wohnung mit den komischen Umständen nehmen, um die angekündigte Lösung so schnell wie möglich zu erreichen?
Aber das würde sie sich nach dem Abendessen überlegen.
Jetzt kam ihr erst einmal Leon entgegen, wie üblich begeistert kreischend. Katja breitete die Arme aus, und er stürzte sich hinein. „Tante Katja, Tante Katja! Ich war heute der Beste beim Basteln!“
„Toll, Leon. Was hast du denn gebastelt?“
„Was mit Perlen. Los, komm, ich zeig´s dir!“
Katja ließ sich von ihm nach oben ziehen und bewunderte, von Lisa nachsichtig beobachtet, eine Perlenstickerei: Erdnussgroße silberne Perlen auf rotem Stramin, darstellend ein Herz. Wenn man seine Phantasie benutzte. „Das schenke ich der Mama zu Weihnachten“, flüsterte Leon gut hörbar, und Lisa wandte sich hastig ab und täuschte starkes Beschäftigtsein vor.
„Das ist eine sehr gute Idee“, lobte Katja. „Da wird sie sich bestimmt sehr freuen. Und das Herz bedeutet, dass du sie ganz doll lieb hast, ja?“
„Ganz doll!“, bestätigte Leon. „Du-u? Spielst du mit mir Playmo?“
Katja ergab sich in ihr Schicksal. Leon würde ihr fehlen, überlegte sie, während sie sich freundschaftlich zankten, wie man den Bauernhof am besten aufbauen sollte. Aurora auch. Aber es war ja nun nicht so, dass die beiden täglich nach ihr verlangten. Ungefähr einmal pro Woche wollte Leon mit ihr spielen, meistens Playmobil, denn darin war Katja ganz, ganz gut, wie er kürzlich laut verkündet hatte. Aurora erinnerte sich noch seltener an sie. Sie erzählte ihr manchmal endlos lange – und genau genommen auch endlos langweilige – Geschichten vom Reiten, durchsetzt mit Ponyhofgeschichten, die sie leidenschaftlich gerne las, und manchmal spielten sie Memory. Katja hatte ihr letztes Weihnachten ein selbst gebasteltes Memory geschenkt, nur mit Pferdebildern, die sie selbst auf verschiedenen Reiterhöfen aufgenommen und dann über einen online-Fotoservice in ein Memory hatte verwandeln lassen. Das war der absolute Renner gewesen, Alex und Irma waren mit einem richtigen Reitdress und einem tragbaren Radio/CD-Player dagegen stark abgefallen und hatten fast ein bisschen geschmollt.
Sie bauten den Bauernhof auf und stellten die Familien zusammen, Stier, Kuh und Kälbchen, Hengst, Stute und Fohlen, eine Sau mit vielen Ferkeln -
„Wo ist denn da der Papi?“
„Der ist gerade nicht da. Der besucht Freunde auf einem anderen Hof“, behauptete Katja schnell.
„So wie mein Papi“, kommentierte Leon gleichmütig und knibbelte zwei weitere Zaunstücke zusammen.
„Ja, genau“, antwortete Katja und tauschte mit Lisa einen Blick.
„Dein Papi besucht dich aber manchmal“, sagte Lisa.
„Ja-ah. Katja? Wo ist denn der Hund?“
Katja wühlte gehorsam in der Kiste und fand den Hund, außerdem drei Katzen und einen Stall mit mehreren Kaninchen. „Hier. Aber nicht wieder in den Mund nehmen!“
Leon war beleidigt. „Mach ich nich´! Ich bin doch kein Baby mehr!“
„Dann ist es ja gut.“
Katja rappelte sich auf und trat zu Lisa, während Leon ganz vertieft weiter bastelte. „Wann war denn Björn das letzte Mal da?“, fragte sie halblaut.
Lisa zuckte die Achseln. „Wir waren zusammen mit Leon auf dem Oktoberfest in München. Und danach noch einmal, um Allerheiligen rum. Er hat angeblich immer soo viel zu tun. Ich glaube, er interessiert sich nicht so sehr für seinen Sohn. Und hierher kommt er nicht so gerne, er hat nicht vergessen, was er von Alex mal auf die Nase gekriegt hat.“ Katja unterdrückte ein Prusten. „Da wollte er Alex verklagen, oder?“
Lisa grinste. „Stimmt. Kinderschänder hat Alex ihn genannt.“
Leon sah von seinem Spiel auf. „Was ist ein Kinderschänder?“
„Tja, Lisa, war schön, mit dir geplaudert zu haben… ich muss jetzt leider zurück an die Arbeit.“ Katja verschwand hastig und hörte noch, wie Lisa sagte: „Ja, also… ein Kinderschänder ist einer, der -“
Sie wollte in ihr Zimmer zurück, traf unterwegs aber Nick und Raphael. Sie grüßte freundlich und erntete von Raphael wie immer einen kalten Blick, aber keine Antwort. Nick dagegen strahlte sie an. „Hi, Schwesterchen! Du-u?“
Das klang wie bei Leon. „Ja?“
„Ich hab´s nicht mehr zum Geldautomaten geschafft – kannst du mir mal schnell zweihundert Euro leihen?“
Katja schüttelte den Kopf. „Sorry, ich hab selber grad noch einen Zwanziger. Aber der Geldautomat ist doch gleich vorne am alten Zollhaus? Das schaffst du doch noch locker vor dem Essen?“
„Kannst du dir nicht was holen?“
Katja legte den Kopf schief. „Hast du deinen Dispo so überzogen? Automat essen Karte auf?“
„Komm, lass, die ist so ungefällig wie immer“, meinte Raphael und wollte Nick weiterziehen.
Katja seufzte. „Na gut. Ich brauch ja auch bald wieder was. Zweihundert? Und wann krieg ich die wieder?“
„Bald“, versprach Nick. „Ganz bald.“
Katja holte sich ihre Tasche und fuhr schnell zur Bank am alten Zollhaus. Sie hob dreihundert Euro ab, fuhr zurück und drückte Nick die zweihundert in die Hand. „Hier! Aber denk dran, Wiedersehen macht Freude.“
„Pfennigfuchserin“, murmelte Raphael.
„Und wenn du deinem Süßen nicht bald mal Manieren beibringst, war das ohnehin das letzte Mal“, fügte sie hinzu.
„Jetzt lass gut sein, Rafi“, sagte Nick prompt. „Danke, Katja. Wie viel hast du für dich geholt?“
„Einen Hunderter“, antwortete Katja. „Der dürfte bis nächste Woche reichen, ich brauche ja bloß Frühstück und Mittagessen zu bezahlen. Und die Wäsche natürlich.“
Nick schüttelte den Kopf. „Iss doch hier. Und lass hier waschen. Dann sparst du doch echt Geld.“
„Das mag ich nicht“, wehrte Katja ab. „Und so früh gibt´s hier eh kein Frühstück. Wieso ist denn dein Dispo so überzogen? Kannst du nicht was verkaufen und das Konto ausgleichen?“
„Was geht dich das denn an?“, fuhr Raphael sie an.
„Nichts“, antwortete Katja. „Blas dich nicht so auf.“
Sie verzog sich in ihr Zimmer. Zwischen Raphael und ihr bestand seit Längerem eine Hassliebe. Nein, falsch. Nur Hass. Was ihm nicht passte, war ihr unklar. Sicher, er mochte keine Frauen, aber zu Susi, Irma und Lisa war er doch auch nicht so ekelhaft? Sie hasste ihn, weil er sie hasste – ansonsten war er ihr egal.
Nick schien echte Geldprobleme zu haben. Wieso eigentlich? Er hatte genauso wie sie selbst und alle anderen Geschwister vor elf Jahren ein Zehntel von Papas Privatvermögen geerbt, und 150 000 Euro konnte man in den vergangenen Jahren recht schön vermehren.
Oder grandios in den Sand setzen, natürlich. Er würde doch nicht in amerikanische Immobilien investiert haben? Oder in Lehman-Zertifikate? Aber Nick war doch nicht blöd? Er verstand bestimmt mehr von Geldanlagen als sie selbst, und wenn sie auf vierhunderttausend gekommen war, dann musste er doch eine halbe Million mindestens geschafft haben?
Andererseits lebte er aufwendiger, er ging abends gerne aus, er fuhr einen teuren Wagen und er hatte seine zwei Zimmer recht kostspielig eingerichtet. Trotzdem, so viel Geld konnte man doch nicht verplempern! Spielsüchtig oder nach sonst etwas süchtig war er auch nicht, er konnte nicht mal pokern.
Wo war sein Geld hin? Oder hatte er bloß zu viel fest gebunden, so dass er im Moment nichts flüssig machen konnte? Andererseits verdiente er netto bestimmt sechstausend bei Herzberger-Möbel, und da er hier Kost und Logis frei hatte… wie konnte man denn da das Konto überziehen?
Katja, die meistens auswärts aß, konnte ja schon jeden Monat über zweitausend Euro ins Depot schieben und hatte ein mehr als ausgeglichenes Konto – dann musste er doch noch viel mehr sparen können? Raphael kostete ihn bestimmt nichts, der verdiente selbst sehr gut. Man konnte dem alten Frauenhasser ja viel nachsagen, aber er nutzte Nick keinesfalls aus.
Warum zum Henker wohnten eigentlich alle hier?
Gut, Lisa war auf die Kinderbetreuung angewiesen – sie stand kurz vor dem Bachelor und hatte wirklich keine Zeit, Leon täglich vom Kindergarten abzuholen und ihn bis abends zu betreuen, obwohl sie sich schon viel um ihn kümmerte und Leon keinesfalls wirkte wie ein armes Kind, das ans Personal abgeschoben wurde.
Nick wollte offenbar sparen.
Alex und Irma – auch die freuten sich über das Personal, das sich auch um die achtjährige Aurora kümmerte. Aber manchmal fragte Katja sich schon – der bestimmt nicht arme Firmenerbe und seine Frau, die mit einer Headhunter-Agentur auch nicht schlecht verdiente: Wollten die nicht mal ein eigenes Haus?
Vielleicht glaubte Alex ja, er würde auch das Haus einmal alleine erben?
Aber er bekam ja schon die Firma?
Egal.
Sie selbst wollte weder noch. Lieber eine kleine, neuzeitliche Wohnung und ihre Ruhe!
Eine knappe Stunde hatte sie noch – ob es noch weitere Angebote gab? Sie versuchte es also noch einmal. Nein, nur das Übliche. Halt – nein! Was war das hier? Zwei Zimmer Küche Bad Balkon Kammer, Baujahr 2004, 60 Quadratmeter, zentrale Lage, neuwertige Einbauküche, Garage, 250 000 Euro.
Hm. Das klang nicht schlecht, allerdings – der Quadratmeterpreis betrug über 4000 Euro, das war schon recht happig. Die Wohnung sollte sie erst einmal sehen! Gab es einen Grundriss? Sie klickte ein wenig herum und fand ihn.
Naja. Nicht schlecht, aber sehr glatt – keine Nischen, keine Möglichkeiten, Schränke und Regale einzubauen. Und die Küche wieder bloß eine Nische – da roch doch die ganze Wohnung nach Essen. Nein, sie wollte eine Küchentür haben. Für den Preis brauchte sie sich nicht mit Küchenmief abzufinden!
Da war die Umständewohnung wieder. Die hatte eine richtige Küche, sogar mit Fenster… Ach, egal, jetzt wollte sie es aber wissen! Gab´s da eine Kontaktadresse? Da, rechts oben…
Sie schrieb eine Mail an diese Adresse und bat um nähere Angaben bezüglich der Umstände und vielleicht um einen Besichtigungstermin am späten Nachmittag.
Und was gab es sonst noch? Da, die klang nicht schlecht – ach nein, die hatte sie schon mal angeschaut. Und die war das mit dem bescheuerten Grundriss. Die auf der zweiten Seite? Nur 10 Minuten bis zum Stadtrand – das konnte bedeuten, eine Dreiviertelstunde bis ins Stadtzentrum, bei freien Straßen… So scharf war sie wirklich nicht aufs Landleben!
Halb acht. Na gut, ein bisschen Familiensinn vorzutäuschen konnte nicht schaden.
Sie zupfte ihre Kleidung zurecht, zog einen Blazer über, frisierte sich frisch, puderte das Gesicht rasch über und ging nach unten. Nick und Raphael saßen im Wohnzimmer in den tiefen, schon etwas schäbigen Sesseln, rauchten und unterhielten sich in trägen Bemerkungen. Da würde sie nur stören… Sie schaute in die Bibliothek – leer. Im Arbeitszimmer dahinter saß Mama und schaute leicht belästigt auf, als Katja hereinsah. „Gibt es etwas? Ich müsste noch schnell diese Angebote durchsehen…“
„Ach nein. Wir sehen uns ja gleich beim Essen… Lass dich nicht stören!“
Da wollte sie einmal einen auf familienfreundlich und kontaktfreudig machen und dann hatte keiner Zeit. Na, immerhin hatte sie heute schon mit Leon gespielt, das reichte doch eigentlich.
Sie setzte sich in die Bibliothek und griff nach der Zeitung, die dort herumlag. Wie von selbst schlug sich die Zeitung beim Immobilienteil auf. Rasch überflog sie die Angebote, aber sie fand nichts, was sie nicht schon kannte – außer einem Angebot in Henting – eine Einliegerwohnung in einer herrschaftlichen Villa. Also, da konnte sie ja auch gleich hier bleiben.
Sie blätterte noch ein bisschen herum, als Alex und Irma eintraten. „Ach, Katja“, sagte Alex, als habe er sie schon halb vergessen. „Was machst du denn hier?“
Ich kann auch wieder gehen, dachte Katja wütend. „Rumsitzen“, antwortete sie stattdessen.
„Ach ja. Irma, willst du was trinken?“
„Nein danke“, antwortete die und setzte sich Katja gegenüber. Offensichtlich suchte sie nach einem Gesprächsthema, also erbarmte sich Katja. „Wie läuft deine Firma gerade?“
„Oh, wunderbar“, strahlte Irma auf. „Wir haben in diesem Monat schon vier Führungskräfte vermittelt, und da werden ja recht anständige Provisionen fällig… Ich kann mich nicht beklagen.“
„Du solltest dich lieber für Herzberger interessieren“, mahnte Alex über die Schulter. „Schließlich lebst du ja davon.“
„Blödsinn!“, ärgerte sich Katja. „Du weißt ganz genau, dass das nicht wahr ist.“
„Ach nein? Du wohnst hier gratis, du isst hier – und dein Erbe basiert auch auf der Firma. Wahrscheinlich willst du später mal einen Anteil an der Firma einklagen, was?“
„Nein, will ich nicht!“, entgegnete Katja aufgebracht. „Und sag doch einfach Mama, sie soll mich rausschmeißen. Oder Miete verlangen, wenn dir die paar Kröten so leidtun.“
„Paar Kröten? Du bist ja gut!“
„Streitet euch nicht“, bat Irma. „Das ist doch alles Blödsinn.“
„Finde ich auch“, sagte Katja.
„Blödsinn?“, regte Alex sich auf. „Na, weißt du! Aber Frauen haben einfach keinen Sinn für Finanzen…“
„Du wirst unverschämt“, .kommentierte Irma kalt.
„Außerdem kann man für mein Zimmer echt nicht viel verlangen“, stichelte Katja weiter. „Ein Zimmer, möbliert, ein ältliches Bad, keine Küche, kein Keller, absolut keine zentrale Lage, kein eigener Eingang. Eigentlich kann man es nur zur Untermiete vermieten. Aber tröste dich, dafür kann man das Mietverhältnis fristlos kündigen.“
„Woher hast du denn diese Weisheiten? Hast du einen Juristen kennen gelernt?“
„Wie kommst du mir vor?“, entrüstete sich Irma. „Wenn eine Frau was weiß, dann hat sie einen Fachmann kennen gelernt – oder wie?“
Alex schnaubte. „Haltet ihr nur zusammen!“ Er kippte seinen endlich fertig gemixten Drink herunter und verließ die Bibliothek. Sicher hätte er gerne mit der Türe geknallt, aber die hatte einen Feststeller und sank butterweich ins Schloss. Katja grinste, wurde dann aber wieder ernst und wandte sich an Irma. „Weißt du, was er zurzeit hat? Gestern hat er auch schon so getan, als fräße ich allen die Haare vom Kopf. Steckt die Firma in irgendeiner Krise?“
Irma zuckte die Achseln. „Mir hat er nichts gesagt, und Mama wirkt doch eigentlich recht zufrieden, oder? Ich glaube, Herzberger läuft ganz gut. Jetzt mieten die Leute doch wieder Büros an, sie suchen ja auch neue Leute, wie ich wohl am deutlichsten merke. Na, und neue Leute brauchen oft auch neue Büromöbel.“
„Stimmt schon“, meinte Katja nachdenklich, „aber Alex kommt mir vor wie einer, der vor lauter Angst vor dem Bankrott überall das Licht ausdreht, um ein paar Cent zu sparen. Irgendwas hat er.“
„Ich nehme ihn mir mal vor“, versprach Irma und erhob sich. „Fünf vor… ich hab Hunger, du nicht?“
„Geht so“, sagte Katja. Irma musterte sie. „Du Glückliche! Wenig Hunger erhält wohl diese Traumfigur?“
Katja zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Ich ignoriere meine Figur. Ich esse nur viel Obst und nichts zwischen den Mahlzeiten. Das scheint zu helfen.“
„Muss ich auch mal probieren.“
Sobald sich alle um die Tafel versammelt hatten – sogar Aurora aß heute mit – wurde Kürbiscremesuppe aufgetragen. Aurora ekelte sich lautstark davor, bis Alex ein Machtwort sprach. Danach versuchte Aurora unter Tränen, die Suppe herunterzuwürgen.
Schließlich schaltete sich Mama ein. „Lass nur, Kind. Du musst nichts essen, was du nicht magst. Aber da sagt man leise „Nein danke“ und nörgelt nicht herum.“
Dankbar ließ Aurora den Löffel sinken und wischte sich die Augen. Alex schaute wütend drein, widersprach aber nicht. In verkniffenem Schweigen wurden die Teller leer gelöffelt. Doris sammelte die Teller wieder ein, Nick und Raphael gingen eine rauchen, was Mama mit Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm, aber nicht kommentierte.
Katja unterhielt sich mit Lisa über Leons Kindergarten und bemühte sich, ihren schandbaren Beruf nicht zu erwähnen. So überstand man den Hauptgang (Roastbeef mit Bratkartoffeln) und das Dessert (Birne Hélène). Katja aß ein Stückchen Roastbeef-Anschnitt, wo das Fleisch weniger rosa war, einige Bratkartoffeln und eine kleine Portion Dessert. Doris rümpfte gewohnheitsmäßig die Nase, wahrscheinlich weil sie heute keinen Käse wollte. Katja ignorierte das und freute sich im Stillen auf den Tag, an dem sie sich ihr eigenes Essen machen und es ganz alleine verzehren würde. Ja, gut – auch alleine abspülen. Aber vielleicht hatte die neue Wohnung ja dann auch eine neue Küche und die wiederum eine Spülmaschine?
Mama erhob sich. „Heute Abend gibt es einen alten Spielfilm. Titanic.“
„Oh Mann!“, stöhnte Nick. „Ich bin der König der Welt, ja? Ich verrat dir was: Das Schiff sinkt am Ende.“
Mama maß ihn mit verächtlichem Blick. „Nicht die Fassung. Die von 1953.“
„Mit Barbara Stanwyck?“, fragte Katja.
Sie genoss den lobenden Blick. „Genau. Willst du mitschauen?“
„Ja, gerne“, sagte Katja, die wegen ihrer Abseilpläne allmählich direkt ein schlechtes Gewissen bekam.
Eigentlich war es ganz gemütlich, fand sie später, im Wohnzimmer auf einem der großen, leicht durchgesessenen braunen Samtsofas zu lümmeln und die Panik auf dem Schiff zu verfolgen. Irma guckte noch mit; die Männer hatten diese Art der Abendgestaltung natürlich mit Hohn und Spott quittiert – Nick und Raphael wollten noch Freunde treffen und Alex hatte wie immer etwas Wichtigeres zu tun. Aurora war trotz ihres Protests ins Bett geschickt worden.
Trotzdem, dachte sie später auf der Treppe, sie musste hier raus. Schließlich konnte sie ja immer noch einmal pro Woche mit einer leckeren DVD unterm Arm vorbeischauen.