Читать книгу Szenenwechsel - Elisa Scheer - Страница 4

FR 18.04.2008

Оглавление

Die Extemporalien waren kein besonderer Erfolg gewesen, erinnerte sich Hilde auf dem Weg zum Friedhof. Sowohl die Zehnte als auch der Grundkurs hatten vorgegeben, aus allen Wolken zu fallen, völlig geknechtet und überarbeitet zu sein und überhaupt fix und fertig. Hilde war sich richtig grausam vorgekommen, hatte aber doch darauf beharrt, dass die paar popligen Aufgaben zu bearbeiten seien.

Mit Grummeln und Stöhnen hatten sie sich schließlich an die Arbeit gemacht und nach einigen Minuten hatte in beiden Klassenzimmern konzentrierte Ruhe geherrscht, von leisem Getippe auf Taschenrechnertastaturen einmal abgesehen.

Beim Einsammeln war der Jammer noch einmal aufgebrandet, aber so schlimm schien es doch nicht gewesen zu sein.

Sie hatte den Kram zu Hause abgelegt, ihr Friedhofskostüm angezogen, sich beim In-die-Schuhe-schlüpfen wieder daran erinnert, warum sie diese vermaledeiten Pumps sonst nie anzog, ihr Täschchen gepackt und sich auf den Weg gemacht.

Um Viertel vor drei parkte sie vor dem Friedhof und stöckelte den kurzen Weg zum Krematorium entlang.

Da waren sie ja schon alle!

Papa hatte sein Ich bin von Existenzsorgen ganz niedergedrückt - Gesicht aufgesetzt, Mama schaute betrübt und tuschelte mit Sabine, Martin und Jenny hielten sich abseits und versuchten, cool dreinzuschauen, und Sabines Tobias stand in einer Ecke und sprach leise, aber energisch in sein Handy.

Zwischen zwei Terminen schnell Tante Martha begraben, dachte Hilde ärgerlich und umarmte ihre Mutter.

„Schön, dass du da bist“, murmelte Mama und hielt Hilde ein bisschen von sich ab. „Du siehst müde aus. Schläfst du auch genug? Isst du richtig?“

„Mama“, stöhnte Hilde, „ich schlafe soviel wie geht, und dass ich in deinem Sinn richtig esse, sieht man doch daran, dass ich total fett bin.“

„Unsinn, Kind. Männer mögen es, wenn an einer Frau ein bisschen was dran ist.“

„Ja, genau“, murmelte Hilde und beobachtete, wie Tobias sein Handy wegsteckte und einer gertenschlanken, schwarz gekleideten Frau nachstarrte, während seine eigene - eher dralle - Frau unbeachtet neben ihm stand und ungeduldig auf die Uhr sah.

„Können wir nicht bald mal anfangen?“, fragte sie dann Hilde in weinerlichem Ton, „ich hab die Kinder zur Nachbarin getan, aber das geht ja auch nicht stundenlang! Was denken die sich hier eigentlich, wie Leute mit kleinen Kindern das hinkriegen sollen?“

„Frag mich nicht, ich arbeite nicht hier“, antwortete Hilde etwas patzig, „aber es ist erst fünf vor drei. Die liegen also noch voll in der Zeit. Schau, da kommt ja schon der Pfarrer!“

Ein Bediensteter öffnete die Türen zu dem kirchenartigen Raum, und sie suchten sich Plätze ganz vorne, während die Eltern schnell den Pfarrer begrüßten.

Zwei ältere Damen traten noch ein und sahen sich etwas unsicher um. Hilde erhob sich und begrüßte die beiden, die sie als Tante Marthas beste Freundinnen kannte. Sabine schaute verständnislos zu.

„Was wollten die denn?“, tuschelte sie dann.

„Frau Knetzler und Frau Schwinghammer sind Tante Marthas Freundinnen. Kennst du die beiden denn nicht? Natürlich nehmen sie an der Trauerfeier teil.“

„Nie gehört. Ich dachte, das ist eine Familienfeier.“

„Mein Gott, wenn du mal abnippelst, darf dann diese Irina nicht kommen? Oder diese beiden, mit denen du immer shoppen gehst?“

„Das ist doch was ganz anderes“, zischte Sabine und sah dann fromm nach vorne, denn der Pfarrer hatte sich hinter das Rednerpult begeben. Auch Hilde verkniff sich die Frage Wieso was anderes?, die ihr schon auf der Zunge gelegen hatte.

Wer hatte denn dem Pfarrer so dürftiges Material übergeben? Was für ein öder Nachruf, ärgerte sich Hilde. Wie lustig und lebensfroh Tante Martha gewesen war, wie sehr sie ihren Mann geliebt hatte und wie erfolgreich sie ihr Vermögen verwaltet und damit durchaus auch Gutes getan hatte, wieviele Interessen sie gehabt hatte, das kam alles nicht vor. Nur dass sie eine liebevolle Schwester gewesen war und keine Kinder gehabt hatte – ansonsten Staub zu Staub und die anderen üblichen Bibelstellen. Halb fromm, halb Dann muss sie ja alles uns vererben. Ziemlich durchsichtig. Ob es hinterher eigentlich einen Leichenschmaus gab? Ob die Eltern da irgendetwas organisiert hatten?

Der Pfarrer kam zum Ende, und unter getragener Musik fuhr der etwas spärlich mit Blumen geschmückte Sarg hinter einen Vorhang. Hilde spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und suchte nach einem Taschentuch. Der Vorhang schloss sich wieder und ein Friedhofsbediensteter sammelte die Gestecke ein. Damit würden sie wohl die Grabstelle markieren – Tante Martha würde ja neben Onkel Franz begraben werden.

Die Eltern erhoben sich geräuschvoll, Tobias, Sabine und Hilde taten es ihnen nach. Beim Umdrehen bemerkte Hilde noch einen älteren Herrn, der so richtig nach Anwalt aussah. Die Eltern stellten sich an den Ausgang, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen.

Als Tante Marthas Freundinnen die Aussegnungshalle verließen, stellte Hilde empört fest, dass niemand Anstalten machte, sie irgendwohin einzuladen. Die Eltern nickten nur höflich, als die beiden sie passierten. Martin und Jenny drückten sich nach draußen und kramten nach Zigaretten, Tobias hatte schon wieder sein Handy in der Hand.

Sabine rempelte Hilde an, als sie ins Freie drängte.

„Trampel“, schimpfte Hilde, aber Sabine fauchte nur: „Dann geh mir halt aus dem Weg. Ich hab schließlich Kinder, das ist ja wohl wichtiger!“

„Wichtiger als an Minimum an gutem Benehmen? Typisch Muttertierterror. Hast du eigentlich außer deinen zwei Mädels jemals irgendwas auf die Beine gestellt?“

„Na, und du?“, keifte Sabine mit mühsam unterdrückter Stimme. „Du hast doch noch nicht mal einen Mann, von Kindern ganz zu schweigen!“

„Dafür kann ich mich selbst ernähren! Und außerdem muss ja wohl jemand die Kinder erziehen, die Leute wie du ohne Sinn und Verstand in die Welt setzen. Oder erziehst du Lara und Alina etwa? Die dürfen doch alles!“

„Was verstehst du denn schon davon, du herzlose Kuh, du!“

„Kinder!“, mahnte Mama leicht verstimmt, denn sie waren in Hörweite geraten. „Doch nicht heute! Das hier ist übrigens Dr. Jörgens. Er ist Rechtsanwalt und hat uns für Montag um vier zu sich gebeten, wegen Tante Marthas Testament.“

„Euch beide?“, fragte Hilde und reichte dem Anwalt höflich die Hand. Sabine schmollte stumm.

„Nein“, fiel Papa etwas missvergnügt ein. „Euch auch. ich verstehe zwar nicht, warum, aber euch eben auch. Dann seid aber wenigstens pünktlich!“

Hilde inspizierte ihren Terminplaner. „Jetzt mach dich bloß nicht wichtig“, stöhnte Sabine. „Ich bin schließlich die, die schon wieder bei der Nachbarin zu Kreuze kriechen muss! Du hast doch sowieso schon ab mittags frei!“

„Gott erhalte dir deinen Kinderglauben“, murmelte Hilde. „Vier Uhr geht gut, ja. Und wo ist das, bitte?“

Sie notierte die Adresse und sah dann auf. „Ist jetzt noch irgendwas geplant? So was wie ein Leichenschmaus?“

„Unsinn“, wehrte ihr Vater ab, „wozu denn? Das kostet doch bloß Geld. Das Begräbnis ist doch schon teuer genug gewesen. Wieso zahlst du das eigentlich nicht? Du warst doch immer so dicke mit ihr!“

Hilde grinste böse. „Du erbst und ich zahle? Typisch!“

„Du bist doch Beamtin“, warf Martin ein, der offenbar endlich mit seinem Telefonat fertig war, „du brauchst ja keine Altersvorsorge. Du lebst im Alter ja herrlich auf Steuerzahlers Kosten.“

„Was für ein Quatsch“, entgegnete Hilde gereizt. „Aber euch kann man ja nichts erklären, und eigentlich kann es mir auch egal sein, was ihr von mir denkt. Eure Ansichten sind schließlich völlig irrelevant. Also, wenn nichts mehr passiert, dann gehe ich jetzt mal. Oder was macht ihr jetzt?“

„Ich muss mich um meine Kinder kümmern“, rief Sabine. „Tobias, komm!“

Tobias schloss sich ihr gehorsam an.

„Ich hab noch zu arbeiten“, verkündete Martin. „Bin ja kein Beamter!“

Hilde versuchte, ihn ans Schienbein zu treten, aber er wich ihr geschickt aus, nahm Jenny an der Hand, die entschuldigend zurückgrimassierte, und entfernte sich.

„Tja…“, machte Hildes Mutter und sah Hilde Verständnis heischend an, „dann war´s das wohl… Bis Montag, Kind. Um vier!“

Hilde verzichtete darauf, zu erwähnen, dass sie doch eben deshalb gerade den Termin notiert hatte, sagte brav Ciao und entfernte sich langsam.

„Das Geld können wir gut gebrauchen“, hörte sie ihren Vater noch. „Wenn wir dafür Sparbriefe kaufen, haben wir im Alter doch wenigstens einen Notgroschen!“

Notgroschen!, dachte Hilde ärgerlich. Er hatte doch schon stapelweise Notgroschen, von dem riesigen Haus mal ganz abgesehen.

„Und die Kinder?“, wandte ihre Mutter zaghaft ein.

„Die sollen gefälligst arbeiten, mussten wir ja schließlich auch!“

Hilde beschleunigte ihren Gang, um diesem Blödsinn nicht länger zuhören zu müssen.

Sie fuhr nach Selling zurück, streifte kurz durch den Supermarkt und füllte den Wagen nur mit gesunden Waren. Mäßig und gesund, viel spazieren gehen… vielleicht nützte es ja doch etwas? Und keinesfalls eine Mahlzeit überspringen!

Zu Hause räumte sie alles sorgfältig ein, putzte die Wohnung eher flüchtig durch, warf allerlei in Müll und Altpapier, freute sich an dem puristischen Ambiente, aß eine bessere Kleinigkeit und setzte sich schließlich an den Schreibtisch. Zwei Exen korrigieren, ein Ex entwerfen, eine Schulaufgabe entwerfen, Noten eintragen…

Gegen neun lehnte sie sich zufrieden zurück – alles geschafft, bis Montag musste sie nichts mehr für die Schule tun. Sie packte alles in die entsprechenden Mäppchen und verstaute diese in ihrer Aktentasche, polierte die Schreibtischplatte und nahm sich dann ihr Konto vor – ein bisschen kaufen, ein bisschen verkaufen…

Beim Durchforsten des Regals entdeckte sie noch drei Bücher, die sie morgen der Lesefabrik anbieten konnte. Danach fand sie in diversen Taschen noch insgesamt sieben Euro zwölf Cent und ein altes Fünfzigpfennigstück. Ein Kontrollblick in die Kochnische zeigte perfekte Sauberkeit – abgesehen von drei vergessenen leeren Colaflaschen. Hilde packte die Flaschen in eine Stofftasche (wobei sie sich schon arg tugendsam vorkam), trank ein großes Glas Wasser und sammelte noch einigen Müll ein. Dann zog sie ihre alten Turnschuhe an und machte sich auf den Weg zur Containerinsel. Morgen würde sie Flaschen und Bücher loswerden, überlegte sie, als sie zügig durch allerlei Nebenstraßen zurückmarschierte. Ein Seitenblick in ein Schaufenster freute sie aber trotz aller Tugendhaftigkeit nicht: immer noch so feist von der Seite, richtig mit Doppelkinn und Schwabbelwampe! Und dieser Hintern!

Da musste wirklich was passieren – aber keine Diät, das hatte sie ja schon fest beschlossen. Vielleicht sollte sie noch ein-, zweimal um den Block traben. Täglich natürlich. Und ein bisschen auf den Fettverzehr achten. Und zu Hause ordentlich herumwerken. Bewegungsintensiv.

Vielleicht auch ein bisschen tanzen – zu Radiomusik. Eine halbe Stunde täglich, abends. Das musste doch drin sein? Man musste doch ohne Diät und ohne so eine dämliche Muckibude zu einer normalen Figur kommen?

Im Moment kniffen die Jeans nicht, aber die waren ja auch ausgeleiert. Wenn sie direkt nach der Wäsche mal nicht mehr kniffen – das wäre was!

Gut, drei Pfund bis zum 17. Mai. Das wären dann 92. Und am 17. Juli 89. Und am 17. September 86. Dann würden die Schüler im neuen Schuljahr fragen: „Haben Sie irgendwie abgenommen?“ Nicht aus Interesse, aber sie glaubten sicher, das käme gut an.

Sie rechnete beim Marschieren weiter, obwohl sie wusste, wie albern das war – am 17. November 83, am 17. Januar 80, am 17. März 77, am 17. Mai 74, am 17. Juli 71, am 17. September 68… Das müsste eigentlich ganz gut aussehen, zu Beginn des Schuljahrs 2011/12. Noch lange hin… zu Beginn also der heißen Phase des Doppeljahrgangs. Aber dann konnte sie die vorhandenen Klamotten noch in Ruhe auftragen…

Apropos Klamotten – was trug man zum Besuch beim Anwalt? Und wozu mussten sie eigentlich alle dahin? Hatte Tante Martha etwa so etwas wie eine Videobotschaft hinterlassen, die sich alle ansehen mussten? Das konnte sie sich nicht vorstellen, Tante Martha war durchaus lebendig und pfiffig gewesen – aber einen Videorecorder programmieren… oder gar einen Computer verwenden… ein Handy – das war alles nicht ihr Ding. Sie schrieb Briefe mit ihrer schicken elektrischen Schreibmaschine (immerhin!), telefonierte mit dem brokatverhüllten Gerät auf dem Telefontischchen im Flur und guckte Spielfilme dann, wenn sie nach dem Willen der Sender eben kamen.

Eine Videobotschaft lag also bestimmt außerhalb ihres Fokus. Oder hatte sie den Kindern etwa etwas vererbt?

Oh Gott! Tante Martha war so nett gewesen – aber dieses schauerliche Zucker- und Sahneset aus verbeultem Silber brauchte sie eigentlich nicht wirklich. Lieber bloß das geniale Album mit all den uralten Familienfotos! Damit waren die nächsten hundert Wochenende gesichert - herauskriegen, wen all diese sepiafarbenen Porträts darstellten, würde Zeit kosten – und Spaß machen.

Oder ein bisschen Schmuck? Eher wohl die gesammelten ledergebundenen Schmöker vom Buchklub…

Sie grinste, als sie sich vorstellte, dass ihr Vater den Krempel bekam.

Nein, Mama erbte die Immobilien und das sonstige Vermögen, Papa nahm es ihr sofort ab und legte es so blöde wie möglich an, Sabine maulte, dass ihre göttlichen Gören nichts bekamen, Martin würde mit seinem Handy herumspielen (und ein Paar Manschettenknöpfe erben, wenn´s hochkam).

Und sie selbst würde ein Pokerface aufsetzen und ab und zu wichtig auf die Uhr schauen. Eigentlich kein Wunder, dass Sabine regelmäßig ausrastete!

Im Schaufenster der Rheinland-Apotheke gab es Krempel gegen Cellulite und außerdem allerlei Säftlein und Pülverlein – gegen Übersäuerung, zur Sättigung, extra Ballaststoffe, Appetitzügler… Dass die diesen Mist immer noch verkaufen durften? Und dafür noch Werbung machten? Gut, Basenpulver konnte nützlich sein, aber das würde sie zur Strafe in einer anderen Apotheke kaufen, in einer, die nicht so verantwortungslos Werbung machte.

Tief befriedigt von ihrer konsumkritischen Einstellung machte Hilde sich auf den Heimweg – ein paar Schritte joggte sie sogar, als gerade niemand hersah.

Freitagabend. Alles aufgeräumt, alles korrigiert, gelaufen (hach, wie gut das klang!) – jetzt hatte sie sich was verdient. Aber was?

Am einfachsten wohl einen Spielfilm. Nachdem sie mit der Gesamtsituation völlig zufrieden sein konnte, bot sich wohl Der Schuh des Manitu an. Die Aussicht beflügelte sie, und wenige Minuten später konnte sie sich schon auf ihr durchgesessenes Sofa fallen lassen und zur Fernbedienung greifen.

Szenenwechsel

Подняться наверх