Читать книгу Szenenwechsel - Elisa Scheer - Страница 7
MI 23.04.2008
ОглавлениеDer Unterricht und sogar die blöde Sitzung des AK Wettbewerbe (in den man sie hineingequatscht hatte, Lust hatte sie darauf nie) waren im Nu verflogen, zog Hilde Bilanz, als sie um halb drei im Lehrerzimmer ihre Tasche umräumte und einige unnütze Kopien entsorgte. Man sollte immer etwas Erfreuliches am Nachmittag vorhaben, um den Vormittag beschwingt zu durchtänzeln…
Nein, lieber doch nicht. Dann hatte man vormittags immer diesen Zeitdruck, ob man auch rechtzeitig fertig wurde. Und täglich etwas Schönes – das nutzte sich auch ab.
Aber heute um drei – in fünfundzwanzig Minuten, genau – durfte sie ihr Erbe besichtigen. Tante Marthas Höhle.
Bestimmt war sie schrecklich, Tante Martha hatte alles Mögliche gesammelt und nie etwas weggeworfen, außerdem einen Hang zu schweren, dunklen Möbeln gehabt. Aber klare, eckige Linien – tatsächlich irgendwas zwischen Bauhaus und Art Déco. Sie musste wieder an die Verfilmungen der Hercule-Poirot-Romane denken. Daraus würde sich schon etwas machen lassen, schließlich hatte sie ja alle Zeit der Welt.
Und jetzt sollte sie nicht länger tagträumen, sondern aufbrechen.
Waldburgplatz 12. Tolle Adresse. Und ein ziemlich imposantes Haus, aus den zwanziger Jahren. Es hatte ihr immer schon gut gefallen, erinnerte sie sich: Dicke Wände, breite, niedrige Sprossenfenster, gemauerte Balkone, alles cremefarben verputzt mit gelegentlichen Schmuckbändern aus Mosaiksteinchen in verschiedenen Brauntönen.
Von außen sehr ansehnlich, fand Hilde. Der Notar ließ noch auf sich warten, also betrachtete sie sich in aller Ruhe die Fassade, danach das Klingelschild (kein Tesafilm, keine Plastikschildchen, alles sehr gepflegt. Wahrscheinlich hoher Eigentümeranteil, überlegte sie fachkundig) und schließlich den streng angelegten Vorgarten - Buchsbaum, Rasen, ein Kirschbäumchen.
Schließlich öffnete sich hinter dem Kirschbäumchen ein Fenster und Küchenschwaden wehten hinaus. Ihnen folgte eine unfreundliche Stimme: „Was machen Sie da?“
„Ich warte auf jemanden“, gab Hilde höflich Auskunft.
„Aber nicht hier, sonst hole ich die Polizei!“, blaffte die Stimme zurück.
„Tun Sie das, ich warte hier“, entgegnete Hilde, nun doch leicht gereizt. Was fiel dem Kerl eigentlich ein – oder war das eine Kerlin? Die Stimme lang irgendwo dazwischen.
„Hier ist Sperrbezirk!“ wurde sie nun informiert. Da konnte sie ja nur noch den Kopf schütteln. War der blind? Sah sie aus, als könnte sie sich so ihr Geld verdienen?
„Ich bin die Nichte von der Frau Willinger“, rief sie in Richtung Küchenfenster, um für etwas mehr Vertrautheit zu sorgen.
„Dann haben Sie hier erst recht nichts mehr zu suchen, die Willinger ist nämlich tot“, war die charmante Antwort.
„Das weiß ich. Ich habe die Wohnung geerbt.“
Ein schrilles Kreischen war die Antwort. Großer Gott! Hysterischer Anfall? Ältlicher Papagei? In diesem Moment hörte sie hinter sich eine Autotür klappen. Jörgens kam den kurzen Weg durch den Vorgarten entlang.
„Geerbt?“, kreischte es aus dem Fenster. „Geerbt? So ein junges Flitscherl? Das war immer ein anständiges Haus!“
„Jetzt hoit hoit dei Bapp´n“, plärrte es aus dem ersten Stock, „oida Depp!“
Ein Lockenwicklerkopf erschien neben der halbgerafften Spitzengardine. „Nix für ungut, Fräulein!“
Während erster Stock und Erdgeschoss sich weiter bepöbelten, schloss Jörgens die Haustür auf und ließ Hilde eintreten. Das Treppenhaus war kühl und halbdunkel und roch nach Bohnerwachs. Im Hintergrund bohnerte auch jemand.
„Grüß Gott, Frau Remmel“, sagte Hilde artig, als sie die Hausmeisterin erkannte.
„Ach, Fräulein Suttner. Mei, so schad, gell? Die arme Tante… Beileid, gell?“
„Danke schön, Frau Remmel. Jetzt werde ich hier wohl wohnen.“
„Ah, gehns weiter, wirklich? Mit dem Herrn Ohlmann werden´s aber keine Freude haben, der mag keine jungen Dinger.“
„Ist das der Herr im Erdgeschoss, der eben aus dem Fenster gekeift hat? Der ist mir früher noch nie aufgefallen.“
Frau Remmel erlaubte sich ein Grinsen. „Der is´. Furchtbar, aber was soll man machen?“
„Ist das ein Mieter oder ein Eigentümer?“, schaltete sich Dr. Jörgens ein.
Das wusste Frau Remmel aber auch nicht, nur dass Herr Ohlmann schon seit Jahren hier wohnte. Jörgens wandte sich Hilde zu und zuckte die Achseln. „Den werden Sie wohl ertragen müssen.“
Hilde zuckte ebenfalls die Achseln. „Ohren auf Durchzug und bei Bedarf eine Beleidigungsklage. Schauen wir uns die Wohnung an?“
Sie winkte Frau Remmel zu, die weiter bohnerte, und stieg die elegant geschwungene Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Hier gab es zwar einen Lift, hatte sie festgestellt, aber in den ersten Stock schaffte sie es wohl gerade noch so. Das konnte sie langfristig einige Kilos kosten. Auch nicht schlecht.
Dr. Jörgens schloss die Wohnung auf, und ihnen schlug aus dem Dämmerlicht muffige Luft entgegen.
„Können wir mal lüften?“, fragte Hilde, während sie sich im Flur umsah.
Dr. Jörgens eilte in ein Zimmer, das Hilde für das Arbeitszimmer hielt (wozu hatte Tante Martha eigentlich ein Arbeitszimmer gebraucht?), und riss ein Fenster auf. Hilde ließ den Blick schweifen. Links das Arbeitszimmer, daneben das Wohnzimmer. Das kannte sie gut – riesig, etwas düster, völlig überfüllt. Hier hatte sie oft mit Tante Martha gesessen. Daneben die Küche – auch mit Zugang zum Balkon - , dann kam das Bad, dann das Schlafzimmer und dann dieses etwas fiese Gästebad, um das Tante Marthas Putzfrau anscheinend gerne einen Bogen gemacht hatte. Der Flur war relativ groß, auf dem schwarzen Steinboden lagen verschiedene Teppiche, die Hilde nicht gefielen; wo immer es ging, standen Kommödchen, Tischchen und Schränkchen. Was da wohl alles drin war? Über der größten Kommode hing ein fetter in Gold gerahmter Spiegel. Den würde sie nicht behalten, das war schon mal klar. Zwischen den Möbeln standen und lagen Stühle, Taschen, Tüten… Hilde seufzte innerlich. Da würde sie noch ordentlich was auszumisten haben!
Dr. Jörgens kam aus dem Zimmer linker Hand zurück und zuckte zusammen, als im Treppenhaus wüstes Geschrei ertönte. Mehr als „G´schwerl“, „ein Wort mitzureden“ und „kommt gar nicht in Frage“ war nicht zu verstehen – aber Hilde war klar, dass sich da Ohlmann gegen eine Hausbewohnerin unter siebzig wehrte. Ziemlich vergeblich allerdings.
„Kein angenehmer Nachbar“, murmelte er. „das tut mir ehrlich Leid.“
„Mit dem werde ich schon fertig“, meinte Hilde optimistisch. „Sie möchten die Wertgegenstände aufnehmen, nicht? Für meine Mutter?“
„Nur den Schmuck“, versicherte Jörgens. „Teppiche, Porzellan und so weiter gehören zum Inventar. Ich nehme es nur überschlägig auf, damit der Gesamtwert und damit die Erbschaftssteuer bestimmt werden können.“
„In Ordnung. Kann ich Ihnen dabei helfen oder soll ich mich einfach so mal umschauen?“
„Sehen Sie sich nur um. Ich kann mir schon denken, wo sich Wertgegenstände befinden.“
Hilde begann im Arbeitszimmer, sobald sie sich in die schwarzbraune Pracht traute. Schwere Regale, ein wuchtiger Schreibtisch, ein ebenso wuchtiger Stuhl… alles vollgestopft und mit Papieren, Zeitschriften und undefinierbarem Kram bedeckt. Das Zimmer war etwa drei mal fünf Meter groß und hatte die Fenster auf der Längsseite, schöne Fenster mit dunklen Sprossen. Die Spitzenstores mit den üppig über der Gardinenstange drapierten Gazewolken waren allerdings grauenhaft.
Hilde kam sich schon vor wie ein Henker, der diesen und jenen zum Tode verurteilt. Immerhin hatte Tante Martha das alles doch geliebt…
Aber sie hatte auch gewusst, dass Hilde anders dachte, sie hatte ja oft genug gesagt: Tante Martha, tu doch diese grässlichen Stoffwolken weg, es ist doch schade um die schönen Fenster! Und Tante Martha hatte gelacht.
Hieß das jetzt nicht: Hilde, mach mit der Wohnung, was du willst? Und schmeiß als erstes diese Gardinen raus? Genau das hatte sie gewollt, beschloss Hilde, und nahm ihre kritische Wanderung wieder auf.
Im Wohnzimmer traf sie auf Dr. Jörgens, der eine Schublade in der Schrankwand aufgezogen hatte und leise murmelnd hineinspähte. Von der Seite sah sie Silber funkeln. Alles, was zu einem gepflegten Bürgerhaushalt gehörte – sicher gab es irgendwo auch noch ein vollständiges Service für zwölf Personen – Meißen oder Nymphenburger. Naja, nicht ganz. Fürstenberg oder Thomas, vielleicht auch Rosenthal. Und das ihr, die gerade mal vier knallblaue Steingutteller und zwei Kaffeebecher, blau und weiß geringelt, besaß, und Blechbesteck mit blauen Plastikgriffen für vier Personen. Ob sie das jetzt wegwerfen sollte?
Das Wohnzimmer war etwa vier mal acht Meter groß, und die ganzen fensterlosen acht Meter lang lief eine Regalwand aus sehr dunklem Holz, sehr gerade, sehr eckig, mit einigen Schubladen und drei unregelmäßig verteilten kleinen Schrankfächern – und alles voller Bücher, Zeitschriften, Schächtelchen, Nippes.
An der einen Schmalseite eine schwere Sitzlandschaft, mit cognacfarbenem Leder bezogen und mit Kissen in den grausigsten Mustern bedeckt, an der anderen Seite, die auf den Balkon blickte, eine Essecke aus Mahagoni - Thonetstühle und ein ausziehbarer ovaler Tisch. Sehr edel, eigentlich, wenn man das Blumenarrangement aus weißer und rosa Seide ignorierte. Und die wieder mal entsetzlichen Vorhänge, natürlich. Und Tante Martha hatte leider vor einigen Jahren („Kind, es zieht so von unten!“) Teppichboden über das schöne dunkel gebeizte Ahornparkett legen lassen. Hoffentlich lose und nicht verklebt – dann konnte die cremefarbene Wolle rückstandslos entsorgt werden. Besonders schön war sie ohnehin nicht mehr.
Dr. Jörgens inspizierte weiter murmelnd die Schrankfächer, und Hilde wandte sich der Küche zu.
Gar nicht übel, stellte sie fest. Tante Marthas Geschmack hatte ihr hier schon damals durchaus gefallen – dunkles Holz (wie überall) und cremeweiß gemaserte Arbeitsplatten. Wenn man den herumstehenden Krempel verräumte und mal ordentlich sauber machte… sogar ein kleines Esseckchen gab es neben der Balkontür, und in der Küchenzeile nicht nur einen Geschirrspüler, sondern auch eine Waschmaschine und einen Trockner. Der pure Luxus!
Nie mehr mit der Wäsche in den Keller stiefeln – aber wahrscheinlich gab es hier auch gar keine Waschküche.
Die Küche war also sehr erfreulich, sofern man ihr einen eher puren Look verpasste – aber das galt wohl für die ganze Wohnung.
Tante Marthas Bad hatte Hilde noch nie gesehen – wenn sie zu Besuch gewesen war, hatte man sie ins Gästeklo geschickt. Entsprechend überrascht war sie von der Neuzeitlichkeit – glänzende graue Kacheln und mattierte Mischbatterien, eine separate Regenwalddusche und eine Wanne mit breiten Ablageflächen. Und groß war dieses Badezimmer – hier musste man nicht mit einem Bein in der Kloschüssel und mit dem anderen in der Dusche stehen, wenn man sich die Zähne putzte!
Luxus pur, allerdings auch wieder sehr voll. Kosmetika in allen Regenbodenfarben, bordeauxfarbene Handtücher (aus diesem fiesen Velours, der nicht richtig abtrocknete), Regale und Regälchen, Körbe und Körbchen und ein Behältnis für Reserveklopapier, Spitzengardinen vor dem Fenster, Bilder an der Wand oberhalb der Kacheln…
Allmählich fühlte Hilde sich etwas benommen – bis sie diese Fülle gezähmt hatte, würden ja noch Jahre vergehen… wo sollte sie denn hin mit all diesem Kram? In den Wertstoffhof? Ob der Tafelshop das alles brauchen konnte? Sie würde es eben versuchen müssen. Vielleicht konnte man manches auch verkaufen und damit das Depot ein bisschen aufstocken. Für eine Anzahlung brauchte sie es ja nun nicht mehr, glücklicherweise.
Gut, Küche und Bad waren abgehakt. Jetzt kam dann wohl das Schlimmste – das Schlafzimmer. Einmal hatte sie es gesehen, vor einem Jahr etwa, und den Eindruck einer Höhle behalten – noch voller und düsterer als der Rest. Und das Bett wie ein Podest.
Sie trat ein, regelrecht furchtsam, und sah ihre alptraumhaften Erinnerungen sofort bestätigt. Wieder dunkles Holz ohne Ende – was war das eigentlich? Mahagoni? Ebenholz? Irgendein dunkler Obstbaum? Schön gemasert war es ja, aber so erschlagend düster… An einer Wand von Tür bis Fenster eine glatte Schrankwand. Vom Prinzip nicht schlecht, aber…
Nun ja. Gegenüber das Bett. Breit, dunkel, sorgfältig glatt gestrichen, rechts und links ein Nachtschränkchen in passendem Holz, darauf Nagellack, stapelweise Bücher, Zeitschriften, eine Brille (die Hilde fast die Tränen in die Augen trieb), Medikamente und ein Porzellangefäß in Form eines weißsilbernen Schwans, aus dessen Rücken farbige Wattebäuschchen quollen.
Putzig.
Ach, Tante Martha…
Rund ums Bett eine Bettumrandung im Stil der Fünfziger. Schafwolle offensichtlich. So etwas brauchte Hilde nicht, sie lief nie barfuß und liebte Parkett.
Und schon wieder Spitzengardinen. Wieso nicht glatt? Und dafür ein bisschen farbiger? Die ganze Wohnung wirkte nahezu schwarzweiß, wenn man sich eine Art Sepia-Tönung dazudachte: Mahagoni und weiß oder naturweiß, creme und grau. Bunt war nur die überall herrschende Fülle an Kleinkram. Hilde stand nicht an, dies als Unordnung zu bezeichnen.
Und jetzt noch das immer etwas angestaubte Gästebad – in zartgelb!
Nicht übel. Hier konnte sie ihre paar gelben Handtücher weiterverwenden. Toilette, Duschkabine, Waschbecken, Spiegel. Standard. Dazu Papierkörblein, Seifenkörblein, Handtuchbehälter, eine Zierpuppe, eine venezianische Maske, wie man sie im Veneto in jeder Fußgängerzone nachgeworfen bekam (wahrscheinlich Made in Taiwan) und hinter dem klassischen rahmenlosen Spiegel drei rosa Plastikrosen, die aussahen, als hätte sie jemand auf der Wies´n in München geschossen. Genau, ein Lebkuchenherz an der Tür fehlte eigentlich noch.
Nichts gegen Aufbewahrungsmöglichkeiten für Gästeseifen – aber weiß lackierte Körbchen, an denen sich der Staub begeistert festsetzte?
Auch da würde ihr etwas anderes einfallen.
Hilde verließ das Gästeklo und traf auf Dr. Jörgens, der im Gehen etwas notierte.
„Fertig?“
„Ich schon“, sagte Hilde. „Sehr eindrucksvoll, das alles. Und sehr überfüllt. Und Sie?“
„Ebenfalls. So viel war es gar nicht. Den Schmuck habe ich in Verwahrung genommen, wenn es Ihnen recht ist.“
Hilde sah auf die Samtschatulle unter seinem Arm und nickte. „Kein Problem. Müssten Sie mir das dann irgendwie quittieren oder wie?“
„Selbstverständlich. Ich habe eine Liste erstellt, die wir jetzt durchgehen sollten. Ansonsten gibt es hier kaum Wertgegenstände, die ich erfassen müsste. Das meiste liegt unter der Grenze. Was nicht heißt, dass es sich nicht lohnen könnte, manchen Nippes zu verkaufen. Ich könnte Ihnen die Adresse eines guten Porzellan- und Silberfachmanns geben.“
Hilde bedankte sich. Das war ja prima – vielleicht kam der dann sogar noch ins Haus, nahm den ganzen Krempel mit und ließ dafür Geld da? Sie studierte rasch die Liste und nickte dann billigend.
„Außerdem hat Ihre Tante zwei Pelzmäntel hinterlassen. Möchten Sie die gerne haben?“
Hilde schüttelte sich. „Ich vermute mal, einen Nerz und einen Persianer, ja? Nein, danke. Sie können Mama fragen, aber wahrscheinlich will die sich auch keine toten Tiere umhängen. Was macht man mit so was? Begraben?“
„Verkaufen“, antwortete Dr. Jörgens trocken. „Es gibt immer noch Liebhaber. Und manche Kürschner verarbeiten ältere Felle als Mantelfutter. Ich könnte mir das Plazet Ihrer Mutter holen und mich dann an einen mir bekannten Kürschner wenden.“
„Machen Sie das“, bat Hilde herzlich. „Wissen Sie, bei Geld habe ich keine Probleme, Anlagen und so. Aber dieser ganze bürgerliche Wohlstandskram – da weiß ich echt nicht, wie man den am besten unterbringt. Bücher, die mir nicht liegen – gut, Lesefabrik. Aber sonst?“
„Die Lesefabrik ist eine gute Adresse dafür“, lobte Dr. Jörgens. „Aber zeigen Sie Bücher aus dem 19. Jahrhundert vorher dem Antiquariat Füssli & Hermanns. Die machen Ihnen einen fairen Preis, wenn etwas von Wert dabei ist.“
„Was täte ich ohne Sie?“, seufzte Hilde.
„Das ist doch meine Aufgabe. Was glauben Sie, wieviele Wohnungen ich schon aufgelöst habe! Und dabei geht es doch oft darum, noch möglichst viel für die Erben herauszuholen.“
„Sie kennen nicht zufällig auch jemanden, der diese überflüssigen Schränklein und Trühlein und Kästlein für teures Geld abholen möchte?“
Dr. Jörgens grinste. „Nur die Caritas. Leider, die Möbel sind solide und meiner persönlichen Meinung nach auch nicht hässlich, aber zum größten Teil Maßanfertigungen aus den achtziger Jahren – wert sind sie nichts. Das sind nur Gebrauchtmöbel. Die Caritas holt sie wenigstens ab.“
„Die großen Sachen gefallen mir ja nicht so schlecht“, beeilte sich Hilde zu sagen, „aber dieser Kleinkram – so was kann ich nicht haben. Ist das nun pietätlos?“
„Aber nein, Unsinn. Sie hat sich doch ausgemalt, wie Sie hier umräumen und aussortieren werden und sich diebisch gefreut. Hilde macht was aus der Höhle, hat sie gesagt.“
Hilde seufzte wieder. „Mit dem ganzen Steuerkram weiß ich auch nicht so gut Bescheid…“
„Aber das machen doch ohnehin wir! Natürlich halten wir Sie dabei auf dem Laufenden. Soll ich auch das Telefon ummelden?“
Hilde nickte. Sie hatte bis jetzt immer nur das Handy gehabt, noch nie einen eigenen Festnetzanschluss. Einen WLan-Router musste sie sich auch besorgen.
Im Treppenhaus herrschte zunächst Ruhe, aber als Dr. Jörgens und Hilde um den Absatz bogen, wurde die Erdgeschosstür aufgerissen und ein kleiner grauhaariger Mann baute sich kampflustig auf seiner Fußmatte auf, die Hände in die etwas speckigen Hüften gestützt.
„So, und Sie glauben also, Sie könnten sich hier breitmachen?“
„Allerdings“, antwortete Hilde höflich, aber so kalt sie konnte. „Warum auch nicht? Ich habe die Wohnung gerade geerbt und ich wüsste nicht, was Sie das überhaupt angeht.“
„Ach ja? Also, erstens, die Frau Willinger konnte ihre Wohnung überhaupt nicht vererben. Da hat ja wohl der Vermieter noch ein Wörtchen mitzureden! Und einer muss hier schließlich für Ordnung sorgen, sonst geht´s hier doch drunter und drüber!“
„Ach ja?“ Jetzt hatte sich auch die andere Wohnungstür im Erdgeschoss geöffnet und die Remmel schaute heraus. „Wenn du Depp dich hier nicht so aufspielen würdest, hätten wir gar keine Probleme. Jetzt halt halt einmal deine Gosch´n mit dem Schmarrn!“
Ohlmann blubberte, und ein junger Mann, der von oben herabkam, bemerkte: „Na, muss sich der Herr Blockwart wieder mal aufspielen? Schade, dass das Tausendjährige Reich vorbei ist, was?“
„Da herrschten wenigstens noch Zucht und Ordnung!“, keifte Ohlmann.
„Braune Sau“, entgegnete der junge Mann freundlich lächelnd.
„Was? Ich zeig Sie an, Sie Kommunistensau! Sie da, Sie machen mir die Zeugin!“
„Gerne“, sagte Hilde. „Sie haben soeben einen Nachbarn als Kommunistensau bezeichnet. Ich finde, man sollte Sie wegen Störung des Hausfriedens abmahnen und rauswerfen. Wenn Sie öfter so drauf sind, werde ich mich gerne darum kümmern, mit der Unterstützung meines Anwalts. Nicht wahr, Herr Dr. Jörgens?“ Sie grinste falsch, und Jörgens rückte seine Brille sehr amtlich zurecht, musterte Ohlmann streng und nickte dann. „Das scheint mir auch dringend geboten.“
„Was?“ Ohlmanns Stimme überschlug sich fast. „Und was hat der Mistkerl mich geheißen?“
„Mistkerl“, notierte Jörgens. „Wir haben nicht gehört, dass Ihr Nachbar Sie irgendwie geheißen hätte. Nur Sie können sich ganz offenbar nicht so benehmen, wie es sich gehört.“
Dr. Jörgens schritt einige Stufen hinunter und Hilde folgte ihm. „Ach ja“, sagte sie dann, „und viel Spaß bei der Suche nach meinem Vermieter. Sie wollen mich doch verpetzen, nicht?“
Sie winkte der streitbaren älteren Dame und dem jungen Mann von oben zu und folgte Dr. Jörgens nach draußen.
„Puh“, sagte sie dann, „wer da wohnt, braucht echt keinen Fernseher mehr. Wieso ist mir der nie begegnet, wenn ich Tante Hilde besucht habe? Kommt der nur vor die Tür, wenn jemand einziehen will? Der Typ kommt mir vor wie aus einer ganz, ganz schlechten Talkshow.“
„Mir auch“, sagte der junge Mann hinter ihr. „Ich heiße übrigens Ben Schuster.“
„Hilde Suttner“, antwortete Hilde artig und reichte ihm die Hand. „Ist dieser Ohlmann nicht ganz dicht oder was?“
„Kontrollfreak, alter Nazi und offensichtlich stark unterbeschäftigt“, antwortete Schuster und hielt Hildes Hand einen Moment länger als nötig fest.
Sie studierte ihn so unauffällig wie möglich. Ganz nett, ja – aber ganz nett waren eigentlich viele. Groß, schlank, braune Haare, graue Augen, Jeans und Sweatshirt. Außerdem musste der ja wohl kein Interesse an einer übergewichtigen und bestimmt fünf Jahre älteren Nachbarin haben!
„Und loswerden kann man ihn wohl nicht, wenn er schon ewig hier wohnt“, fügte sie dann hinzu. „Außerdem ist es auch ein bisschen seltsam, wenn ich kaum hier bin und schon versuche, andere Hausbewohner loszuwerden.“
Schuster lachte. „In diesem Fall wären Ihnen alle dankbar – aber es stimmt schon, es hat etwas von Leuten, die irgendwo hinziehen und dann versuchen, Gockelhahn, Kirchenglocken und Kindergarten wegzuklagen.“
Hilde musste auch lachen. „Genau! Aber einen richtigen Nachbarschaftskrieg können wir hier wohl auch haben.“
„Mit Ohlmann? Locker! Solange Sie gute Nerven haben?“
„Gute Nerven habe ich, aber ich passe schon auf, ob nicht was mit Beleidigungsklage geht. Dass ich unter neunzig und eine Frau bin, ist kein Grund, unverschämt zu werden.“
Sie schaute streng, als Schuster schon wieder grinste. Jörgens neben ihr räusperte sich mahnend, und sie wandte sich ihm etwas schuldbewusst zu.
„Möchten Sie noch den Keller sehen?“
„Sollte ich wohl – sonst versuche ich nachher noch, den falschen zu entrümpeln, nicht?“ Sie folgte Jörgens wieder ins Haus und die Treppe hinunter. Im Keller roch es etwas modrig mit einem unangenehmen Unterton, aber sie kam nicht darauf, was das sein konnte, und der allwissende Schuster war auf der Straße geblieben.
Na, man gewöhnte sich an alles, auch an einen strengen Geruch. Hilde folgte Suttner ans Ende eines kurzen Gangs, wo er auf einen Lattenverschlag zeigte. „Das ist der Keller Ihrer Tante. Sehen Sie, dieser Schlüssel passt in das Vorhängeschloss.“
Hilde nickte. Das war ja wohl auch nicht so schwer zu verstehen.
„Und am Montag kann ich die Wohnung beziehen?“
Jörgens schaute etwas verdutzt. „Haben Sie es denn so eilig?“
Hilde zuckte die Achseln. „Naja… die Wohnung ist ungefähr fünf mal so groß wie meine jetzige, und das Entrümpeln wird noch ganz schön lange dauern… je eher ich anfangen kann, desto besser.“
Jörgens schmunzelte. „Dann können Sie sich bei den Nachbarinnen ja gleich beliebt machen, wenn Sie sich beim Teppichklopfen oder Einkaufen treffen…“
Hilde feixte. „Da muss ich Sie enttäuschen, Dr. Jörgens. Ich kaufe erst abends ein, wenn ich nach Hause komme, da sind die Nachbarinnen sicher schon fertig, und Teppiche klopfe ich bestimmt nicht. Wozu gibt es Staubsauger? Außerdem weiß ich noch gar nicht, ob ich Tante Marthas falsche Perser behalten will.“
„Ach ja…“ Dr. Jörgens´ Lächeln wurde etwas dünner. „Und was machen Sie gleich wieder beruflich, wenn ich fragen darf?“
„Ich unterrichte Mathematik und Geographie am Mariengymnasiumymnasium“, antwortete Hilde würdevoll. Was hatte der denn gedacht? Dass sie Hausfrau sei? Und wovon, bitteschön, sollte sie dann leben?
„Was haben Sie denn gedacht?“, konnte sie sich nicht verkneifen. Dr. Jörgens schaute etwas ratlos drein.
„Naja“, begann er dann, „ich - eigentlich wusste ich doch, dass Sie Lehrerin sind. Aber da müssten Sie mittags doch fertig sein?“
„Kaum“, beschied sie ihn kühl – schließlich hatte er sich nur von einem Fettnapf in den nächsten begeben. „Erstens haben wir spätestens seit dem G 8 sehr viel Nachmittagsunterricht, zweiten müssen wir ja irgendwann auch mal vorbereiten, nachbereiten und korrigieren, und drittens haben wir mindestens dreimal in der Woche nachmittags oder abends eine Veranstaltung in der Schule – Sitzungen, Projektgruppen, Fortbildungen, Konzerte, Elternabende und so.“
„Ach“, machte Dr. Jörgens schwächlich, „tatsächlich? Wann kommen Sie denn dann so aus der Schule?“
Hilde zuckte die Achseln. „Verschieden. Vier, fünf – elf. Freitags schon um zwei, da gibt es keinen Nachmittagsunterricht. Die Eltern finden zwar bestimmt, das faule Lehrerpack könnte auch am Freitag gefälligst wie alle anderen Leute bis acht Uhr abends arbeiten, aber sie wollen ja mit ihren Kindern um zwei ins Wochenende fahren. Wahrscheinlich fänden sie es schön, wenn wir da immer Pflichtfortbildungen hätten: Wie gehe ich hinreichend einfühlsam auf verzogene Bälger ein und sorge dafür, dass auch das beschränkteste Kind ohne Stress und Leistungsdruck das Abitur schafft? Oder so ähnlich.“
Das war total übertrieben, aber Hilde hatte gerade eine unbestimmte Wut gepackt.
„Um elf??“, pickte Dr. Jörgens sich das heraus, was er verstanden hatte. „Abends?“
„Ja, klar. Eine bessere Abendveranstaltung dauert bis zehn, dann haben die Eltern meist noch Fragen… aber vor Mitternacht bin ich im Allgemeinen zu Hause.“
„Großer Gott, um acht müssen Sie ja dann schon wieder in der Schule sein! Kriegen Sie die Überstunden wenigstens bezahlt?“
Hilde musterte ihn erstaunt. „Als Beamtin? Natürlich nicht. Mehrarbeit wird stets mit ausfallenden Stunden verrechnet, und irgendwann ist jede Klasse mal nicht da. Außerdem kommen bei uns nur die notorischen Faulpelze um acht. Der Rest ist ab kurz vor sieben in der Schule, um zu arbeiten und vorzubereiten. Um acht ist ja auch der Kopierer schon wieder heißgelaufen, da kann es dann eng werden.“
„Das klingt ja richtig anstrengend!“
Hilde feixte. „Ja, gar nicht so, wie man sich gemeinhin die faulen Säcke so denkt, nicht? Keine Sorge, solange die Arbeit Spaß macht, schadet das doch auch nichts. Herr Dr. Jörgens, vielen Dank für Ihre freundliche Begleitung. Kann ich mir am Montag bei Ihnen die Schlüssel abholen?“
„Ja, wenn Sie wirklich gleich am nächsten Montag… das Inventar habe ich ja nun aufgenommen… eigentlich könnte ich Ihnen die Schlüssel auch gleich… zu tun ist ja in der Wohnung nichts mehr, den Schmuck habe ich hier“ – er klopfte auf die Samtschatulle – „nur die beiden Pelze…“
„Kann ich die nicht selbst meiner Mutter geben, damit sie sie beim Kürschner abliefert?“
„Ja… ich denke, das ginge auch.“ Er seufzte tief auf. „Nun gut… hier!“ Er ließ den Schlüsselbund in Hildes ausgestreckte Hand fallen. „Sind das zwei Sätze?“, fragte Hilde prompt. „Oder ist noch irgendwo anders ein Satz im Umlauf?“
„Ich glaube, die Hausverwaltung hat einen Generalschlüssel“, vermutete Jörgens. Hilde schnaufte. „Und immer, wenn dieser Ohlmann irgendetwas Verdächtiges riecht, sieht oder hört, lassen die ihn rein, was? Ich werde als erstes das Schloss an der Wohnungstür ändern lassen.“
„Das erscheint mir dringend geboten“, stimmte Dr. Jörgens zu und verabschiedete sich.
Hilde sah ihm nach. Selbstständige Frauen waren dem wohl ein bisschen unheimlich? Aber sonst ganz nett, in seiner etwas altjüngferlichen Art…
Sie verstaute den Schlüsselbund und sah an der Fassade hoch. Heute noch? Nein, heute nicht mehr.
Hinter ihr wurde das Erdgeschossfenster wieder aufgerissen. „Wehe, Sie kommen noch mal wieder! Ich hole die Polizei!“
„Herr Ohlmann, wenn Sie sich weiter so schlecht benehmen, hole ich die Polizei. Ich wohne jetzt im ersten Stock, damit müssen Sie sich abfinden. Aber ich neige nicht zu lauter Musik oder Staubsaugen um Mitternacht, also können Sie ja wohl beruhigt sein.“
Das musste doch jeden normalen Menschen zufrieden stellen?
Nein, den nicht.
„Flittchen!“ schrie er und knallte das Fenster zu. Hilde notierte sich das samt Datum und ging zum Auto.