Читать книгу Szenenwechsel - Elisa Scheer - Страница 5
MO 21.04.2008
ОглавлениеEin herrliches Wochenende, dachte Hilde zufrieden, als sie in der Klasse stand und aufpasste, dass im Ex nicht (oder wenigstens nicht so auffällig) gespickt wurde.
„Isabel! Nicht schielen!“
Isabel kicherte und starrte wieder betont auf ihr eigenes Blatt. Seufzen, Schnaufen, das Klappern, wenn jemand im Mäppchen nach dem Tintenkiller suchte, zwischendurch der angstvolle Aufschrei: „Wie lang noch?“.
Hilde passte auf und schaute ab und zu aus dem Fenster in das junge Grün. Vor der Schule stritten sich zwei Kollegiaten um den letzten Parkplatz, von hinten näherte sich die Müllabfuhr und von vorne die Paketpost. Gleich ging das Gehupe wieder los.
„Noch zwei Minuten“, verkündete sie.
„Nein!“
„Viel zu wenig Zeit!“
„Noch fünf Minuten mehr!“
„Zwei Minuten“, verkündete Hilde unbeirrt. Seufzen im Saal. Noch herrschte draußen Ruhe.
Hilde schritt einmal durchs Zimmer, guckte, was Thomas und Timo geschrieben hatten (die deckten ihre Machwerke sofort ab), sagte: „Letzte Minute“, kehrte nach vorne zurück, fixierte den Sekundenzeiger und sammelte nach einigen Anstandssekunden ein.
Aufgeregtes Geplapper, sobald sie alles in der Tasche verstaut hatte, untermalt vom pünktlich einsetzenden Hupkonzert von der Straße.
„Spielen wir jetzt was?“, fragte Susi aus der ersten Reihe.
„Klar“, antwortete Hilde, „wir spielen was. Wir spielen Ausklammern.“
„Och nöö!“
„Och doch. Also: 36 a + 24 b?“
Mürrisch fügten sie sich, aber dann arbeiteten sie doch einigermaßen willig mit, und nachdem Hilde aus der Sache doch noch ein Spiel gemacht hatte – Wand gegen Fenster – stieg der Eifer weiter an.
Müde, aber zufrieden verließ Hilde um eins die Klasse.
Der Vormittagsunterricht war damit beendet, und sie hatte ein Ex und eine Schulaufgabe eingefahren, alles durchgenommen, was auf ihrer Agenda gestanden hatte, einen erbitterten Krieg zwischen zwei Zicken aus der Zehnten geschlichtet (hoffentlich), alles mögliche abgelegt, dem armen Hubert aus der 11 c die Schullaufbahnberatung empfohlen (in der Kollegstufe konnte das nichts mehr werden, und warum sollte er seine schönsten Jahre hier verplempern, wenn die FOS viel eher seine Kragenweite war?), ihr Fach aufgeräumt, etliches weggeworfen, den Hausmeister gebeten, die überquellenden Papierkörbe im Lehrerzimmer auszuleeren und eine anständig große Papierkiste hinzustellen und überhaupt richtig herumgerödelt. Sehr brav!
Jetzt noch zwei Stunden Nachmittagsunterricht und dann schnell zu diesem Jörgens.
Zeitverschwendung, wahrscheinlich. Nur, um Tante Marthas silbernes Trachtenarmband oder ihre gesammelten Angélique - Bände zu erben?
Aber nicht hingehen – das gehörte sich auch nicht. Und vielleicht hatte Tante Martha ja doch so was wie eine Botschaft hinterlassen… Sie hatten sich doch eigentlich immer recht gut verstanden!
Zwei Stunden Leistungskurs – das war die reinste Freude, denn hier wurden die Hausaufgaben gemacht, hier verstanden alle etwas von Stochastik, und hier dachten auch alle nach, bevor sie redeten.
Hilde schmuggelte eine Aufgabe unter das Gruppenübungsmaterial, die sie nahezu genauso in der Klausur nächste Woche zu stellen gedachte, und hoffte, es werde eine freudige Überraschung sein. Im Grundkurs konnte sie ja leider sicher sein, dass solche milden Gaben gar nicht bemerkt wurden.
Schließlich entließ sie die müden KollegiatInnen und packte selbst zusammen. Noch eine kurze Kontrolle – schwarze Samthose, dunkelgrauer Tweedblazer, blassgelbes T-Shirt: in Ordnung. Frisur: ging noch. Gesicht: leichter Glanz. Sie puderte sich von dem winzigen Spiel im Vorraum des Lehrerzimmers und fuhr doch noch einmal mit der Bürste durch die schwarzen Wellen. So, absolut vorzeigbar!
„Auf die Piste?“, fragte Lilly, die hinter ihr auftauchte. „Am helllichten Nachmittag?“
„Anwalt. Meine Tante ist doch gestorben, und offenbar kriegen wir noch so was wie eine letzte Botschaft“, erklärte Hilde und überlegte, ob sie Lippenstift – nein, übertrieben. „Da will man ja korrekt aussehen, nicht?“
„Klar“, meinte Lilly und grinste breit, „du auf jeden Fall. Immer korrekt! Vielleicht erbst du ja auch was?“
„Kaum. Erben wird meine Mutter. Naja, lange dauern wird es wohl nicht.“
„Schade. Ich meine, ich würd´s dir wünschen, dass du was erbst. Du kannst doch nicht ewig in diesem Kabuff wohnen!“
„Tu ich ja auch nicht. In ein paar Jahren kann ich was Größeres anzahlen. Weißt du doch!“
„Ja, aber wie ich dich kenne, wirst du dir dann den Höllenluxus von eineinhalb Zimmern gönnen. Wie kann man so bescheiden sein?“
Hilde grinste. „Aber mit separater Küche – das ist nämlich wahrer Luxus! Und vergiss nicht – wenn ich zehn Zimmer bewohne, muss ich ja auch zehn Zimmer putzen. Danke bestens!“
„Schon mal was von Putzfrauen gehört?“
„Das finde ich nun wirklich dekadent. Ohne Villa, ohne Kinder – da muss man doch wirklich nicht putzen lassen.“
„Sehr brav. Sag mal, wenn du jetzt doch was erbst, nimmst du es dann an?“
Hilde warf Lilly einen nachsichtigen Blick zu. „Klar. Wenn´s nicht gerade die gesammelten Schulden sind. Aber ich wette, ich erbe nichts. Oder bloß irgendwelches scheußliche Geschirr.“
Lilly streckte die Hand aus. „Wetten wir? Um eine Flasche Prosecco?“
Hilde schlug ein. „Ich mag Prosecco. Besorg ihn schon mal!“
Lilly kicherte noch, als Hilde das Lehrerzimmer verließ. Auf dem Parkplatz steckte sie alles Wesentliche in ihr Handtäschchen und verschloss die schwere Schultasche im Kofferraum, dann fuhr sie los.
Dr. Jörgens residierte dankenswerter Weise in einem gesichtslosen Bau aus den Fünfzigern, der über einen eigenen Parkplatz verfügte. Drei Plätze waren für die Kanzlei reserviert, zwei waren noch frei, und Hilde schlug zu. Sollte der Rest doch schauen, wo er parkte – sie hatte es satt, immer zurückzustecken, weil alle anderen wichtiger/älter/ärmer/kränker/kinderreicher waren. Um die Ecke gab es sicher auch noch Parkplätze! Oder sie stellten sich auf die Plätze, die für die Eisdiele Bella Roma reserviert waren, die hatte doch garantiert sowieso noch nicht eröffnet.
Dr. Jörgens hatte ein Wartezimmer wie ein altmodischer Zahnarzt – durchgesessene Sesselchen, die nicht zusammenpassten, ein Tischchen mit sehr uninteressanten Zeitschriften und Broschüren (Juristische Rundschau, Erbrecht heute, Die Patientenverfügung) und in der Ecke einen traurig wirkenden Philodendron. Hilde setzte sich in die Ecke, faltete die Hände im Schoß und wartete. Der Blick aus dem Fenster war auch nicht fesselnd, das Zimmer ging auf einen menschenleeren und durchgehend grauen Hinterhof hinaus. Nicht mal malerisch sah das aus, nur nüchtern.
Kurz nach vier trudelten die anderen ein, nicht ohne irritierte Bemerkungen, dass Hilde es gewagt hatte, sich auf den Parkplatz zu stellen. Martin fasste es dann für alle zusammen: „Lehrer eben, die haben ja genug Zeit, früher zu kommen und die Plätze zu blockieren.“
Hilde murmelte „Leck mich“ in sich hinein und lächelte falsch. Glücklicherweise wurden sie nun in das Zimmer von Dr. Jörgens gerufen und nahmen in einer Reihe auf recht unbequemen Stühlen Platz.
Dr. Jörgens äugte in geradezu klassischer Weise über seine Halbbrille und musterte die Familie der Reihe nach: „Ich verlese jetzt das Testament der verstorbenen Martha Willinger, datiert auf den 20.11.2005.“
„Wieso denn, meine Frau muss doch sowieso alles erben“, nölte Hildes Vater. Jörgens warf ihm einen scharfen Blick zu. „Ganz so ist es auch nicht. Und es gibt eine ganze Reihe von Erben. Darf ich jetzt bitte fortfahren?“
Gegrummel.
Jörgens räusperte sich.
„Das Penthouse in der Avenariusgasse 3 erbt mein Neffe Martin Suttner, dazu eine Summe in Höhe der fälligen Erbschaftssteuer.“
„Yep!“, machte Martin und reckte glücklich die Faust. Hilde grinste. Ein Penthouse, genau, was der kleine Yuppie sich wünschen musste. Jetzt konnte er bloß hoffen, dass es nicht vermietet war!
„Die Doppelhaushälfte in der Puellstraße 23 soll meine Nichte Sabine Thießen bekommen, damit ihre Kinder endlich einen richtigen Garten zum Spielen haben. Vielleicht bescheren Sabine und Tobias mir ja postum noch einen Großneffen!“
Sabine strahlte und warf dann Hilde einen hämischen Blick zu. Gerade, dass sie ihr nicht die Zunge herausstreckte!
„Auch Sabine bekommt aus der restlichen Erbmasse den Betrag der Erbschaftssteuer.“
„Was? Das bleibt ja für uns gar nichts mehr!“, entrüstete sich der Vater. „Das fechte ich an! Das muss man ja anfechten! Das ist ja sittenwidrig!“
„Nicht im Geringsten“, war die kalte Antwort.
„Meiner Nichte Hilde Suttner vermache ich -“
O Gott, dachte Hilde, jetzt kommt das Geschirr! Und Papa sah aus, als träfe ihn gleich der Schlag – Hilde auch noch? Und er wurde dem Hungertod preisgegeben??
„- meine Wohnung am Waldburgplatz, mit allem, was darin ist, außer dem Schmuck, und ebenfalls genügend Geld, um die Erbschaftssteuer zu bestreiten. Mögest du Spaß daran haben, daraus dein eigenes Nest zu bauen, Hilde! Alles Übrige erhält meine Schwester Helga Suttner, geborene Winter. Ich hoffe, dass sie wenigstens einen Teil für sich selbst behält und nicht alles ihrem lieben Herbert ausliefert, der nicht halb so viel von Geldanlagen versteht wie er glaubt.“
Jörgens sah auf und musterte die Gesichter. Hilde strahlte still vor sich hin. Eine Dreizimmerwohnung! Im besten Waldburgviertel! Nur noch zehn Minuten bis zum Mariengymnasium! Das sie auf Vordermann zu bringen gedachte! Drei Zimmer!
Drei Zimmer voller Krempel.
Ihr Lächeln erstarb.
Sabine rief: „Einen Sandkasten! Und eine Schaukel! Einen Kletterbaum! Tobias, das können unsere Süßen jetzt alles haben, herrlich!“
„Liebe Tante Martha“, murmelte Hilde. „Und für jeden das Richtige!“
„Das fechte ich an!“, rief ihr Vater wieder.
„Herbert, du hältst jetzt endlich den Mund“, zischte ihre Mutter.
Verblüfftes Schweigen, dann begann Hilde, auf der Stuhllehne Applaus zu klopfen wie in der Uni. Martin und Tobias fielen sofort ein, Sabine, die ein Studium aus Weiblichkeitsgründen abgelehnt hatte, schaute ratlos und machte das Klopfen dann etwas ungeschickt nach.
„Bravo, Helga!“, lobte Tobias. „Lass dir nichts gefallen!“
„Eine Anfechtung wäre auch zwecklos“, erläuterte Dr. Jörgens. „Ich habe das Testament selbst aufgesetzt, der Anteil Ihrer Gattin ist angemessen hoch und Ihren Kindern werden Sie ja wohl etwas gönnen!“
Das hätte ihr Vater wohl am liebsten bestritten, dachte Hilde amüsiert, wenn er sich nicht doch geniert hätte. Außerdem war er bleich und zugleich rotfleckig, wahrscheinlich, weil ihm seine Frau zum ersten Mal seit über dreißig Jahren den Mund verboten hatte. Mama sah sich kriegerisch um.
Armer Papa! Eine Runde Mitleid.
Hilde grinste immer noch, als sich alle erhoben. Sabine und Tobias konnten sich ihr neues Haus heute noch ansehen, das hatte Dr. Jörgens schon arrangiert, Martin musste noch etwas warten, weil die Mieterin des Penthouse erst zum ersten Mai ausziehen würde.
„Und Sie, Frau Suttner, können am nächsten Montag in die Wohnung Ihrer verstorbenen Tante. Ist Ihnen das Recht? Wir müssten vorher das Inventar überschlägig aufnehmen, den Schmuck sicherstellen, den ja Ihre Frau Mutter bekommt, und die Unterlagen sichten. Möchten Sie daran gerne teilnehmen? Ich hätte an übermorgen gedacht, so ab drei Uhr?“
Hilde war einverstanden. Sie wollte die Wohnung sehen, von der sie, da Tante Martha sie bis zum Gehtnichtmehr vollgestopft hatte, nur den Eindruck drangvoller Enge hatte, obwohl sie doch oft genug dort gewesen war. Dunkel, voll und kühl. Und komische Türen, ein Gitterwerk aus dunklem Holz mit mattiertem Glas als Füllung.
Ein bisschen wie die Wohnung von Hercule Poirot in diesen göttlichen Verfilmungen. Ach – jetzt war sie ja eigentlich ziemlich reich, jetzt konnte sie sich die anderen Staffeln auch bestellen! Gutes Gefühl.
Ihr Vater schmollte immer noch, der Rest strahlte. Liebe, gute Tante Martha, sie hatte alle glücklich gemacht.
Hilde blinzelte, als sie auf die Straße trat. Eine eigene Wohnung! Drei Zimmer! Nie mehr Winzkabuff! Nie mehr mit einem einzigen Regal zurechtkommen! Gute Geschäfte in der Nachbarschaft, ein romantischer Park vor der Haustür… Konnte man es besser haben?
Martin und Sabine grinsten ebenfalls von einem Ohr zum anderen, die grämliche Miene ihres Vaters war eigentlich nur zum Lachen.
„Jetzt hör endlich auf mit dieser Lätsch´n“, schimpfte Mama halblaut. „Wir haben rund eine dreiviertel Million bekommen, auch netto nicht schlecht. Ich gebe dir die Hälfte, dann kannst du sie für dein Alter narrensicher anlegen.“
„Die Hälfte? Wieso nur die Hälfte? Ich muss doch alles anlegen, du verschleuderst es doch nur!“
Mama trat einen Schritt zurück. „Herbert, bist du jetzt völlig durchgedreht? Ich habe noch nie etwas verschleudert, aber du hast schon ganz schön fehlinvestiert. Ich habe geerbt, und da werde ich ja wohl die Hälfte selbst anlegen dürfen!“
„Au ja“, mischte Hilde sich ein, „und nach einem Jahr vergleichen wir, wem es besser ergangen ist. Mama, ich kann nur sagen: Hut ab!“
„Sei du bloß still“, zischte ihr Vater. „Du und deine Geschwister, ihr schämt euch nicht, auf Kosten eurer Eltern zu leben. Wenn ihr auch nur einen Funken Anstand hättest, würdet ihr auf die Anteile verzichten, die ihr auf Gott weiß was für krumme Methoden ergaunert habt!“
Martin und Sabine traten näher, und die ersten Passanten blieben neugierig stehen.
„Aber sonst fehlt dir nichts, ja?“, erboste Hilde sich. „Wir haben alle unsere Ausbildungen selbst finanziert, obwohl das eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre, du alter Geizkragen, und Tante Martha hat uns ganz legal etwas hinterlassen, weil sie uns mochte. Du hast sie doch immer ignoriert oder schwach angeredet, warum hätte sie dir was hinterlassen sollen? Sie konnte dich ja verdientermaßen nicht leiden. Und verzichten? Du würdest die Immobilien doch bloß zu einem Spottpreis verkaufen, obwohl die Preise gerade im Keller sind, weil dir Immobilien zu schwierig sind, und alles in Sparbriefen anlegen. Kein Wunder, dass deine Bank dich liebt – so einen naiven Kunden möchte ich auch mal haben.“
„Genau!“, rief Tobias. „Wer verdient denn an Sparbriefen? Doch bloß die Bank! Was kriegst du da Zinsen?“
„Vier Prozent“, verkündete der Vater durch die zusammen gebissenen Zähne.
„Inflationsbereinigt sind das keine drei. Und dann noch Kapitalertragssteuer – ihr liegt ja wohl saftig über dem Freistellungsbetrag. Tolle Anlage!“
„Zertifikate“, riet Martin.
„Quatsch“, sagte Hilde. „Mit fester Laufzeit? Und wenn sie in einer Krise fällig werden, dann schaust du blöd. Fonds! Sicher und ertragreich. Das merkst du schon daran, dass die Banken die gar nicht so gerne verkaufen, da verdienen sie nämlich fast nix dran. Und eine selbst genutzte Immobilie ist auch gut. Eigentlich sind wir jetzt schön abgesichert. Papa, jetzt zieh kein Gesicht, du musst garantiert keinen von uns unterstützen, und wenn du mit neunzig am Hungertuch nagst, kommt das Sozialamt doch sowieso auf uns zu.“
„Dann könnt ihr mir das Geld doch auch gleich geben!“
„Dann hast du es doch längst verloren, wenn du neunzig bist. Jetzt ist aber Schluss damit!“ Hildes Mutter schaute richtig böse. „Die Leute gucken schon. Los jetzt, Herbert, wir gehen heim.“
„Nicht ein bisschen feiern?“, fragte Tobias.
„Ich hab einen Termin“, verkündete Martin.
„Ich muss zu den Kindern“, sagte Sabine und schaute pflichtbewusst.
Take the money and run“, zitierte Hilde versonnen. „Na gut, gehe ich eben auch heim. Arbeit gibt´s immer.“
„Haha“, machte Martin. „Bei Lehrern? Du hast doch jetzt frei!“
„Schon recht, du Doofi. Weil du früher nach eins keinen Lehrer mehr gesehen hast, existieren sie dann auch nicht mehr? Naja, interessiert eh keinen, was du so denkst… also, ciao, alle miteinander.“
Hilde wandte sich um, halb wütend, halb glücklich. Martin, der Blödmann. Seit über dreißig Jahren ein Blödmann!
Aber die Wohnung…!
Irre.
Ein irrer Verhau, wenn sie an ihren letzten Besuch zurückdachte.
Wenn schon.
Sie hatte doch alle Zeit der Welt, die Wohnung so umzugestalten, wie sie sie haben wollte. Jetzt würde es ja ohnehin erst einmal ein paar Wochen dauern, bis das Juristische geregelt war. Und dann könnte sie langsam überlegen, was sie aus dem lila Scheusal mitnehmen wollte.
Vielleicht hätte sie ja bis dahin schon ein paar Kilos verloren und könnte einen Schwung überflüssiger Klamotten aussortieren. Jedes Gramm, das nicht mitmusste, ersparte ihr Arbeit in der neuen Wohnung.
Sie begann zu Hause, sich tatendurstig umzusehen, aber dann fiel ihr ein, dass sie morgen sieben Stunden hatte (alleine vier Stunden die 6 b, die armen Kleinen – der Suttner-Overkill!) Da sollte sie sich noch etwas Nettes einfallen lassen. Und für die Intensivierung vielleicht eine kleine Bruchrechenolympiade…
Also ab an den Schreibtisch!
Als sie ein doppelseitiges Blatt mit abwechslungsreichen Aufgaben hatte (mit eingebauten Rechenwitzen und dem Lösungswort „Champion“, zog es sie wieder an den Kleiderschrank. Nein, der war perfekt ausgemistet, da konnte nichts mehr weg, es sei denn, etwas wurde ihr zu weit.
Sie holte sich Zettel und Stift und notierte – eine Kiste für die Klamotten, fünf für das Regal, Ordner, Bücher und Kram. Zwei für den Küchenkram. Im Schrank war kaum noch etwas Essbares, gerade noch eine Packung Expressreis. Im Gefrierfach fand sie noch einen Rest Pfannengemüse und kippte ihn mit dem Reis in eine Pfanne.
Besser als nichts, fettarm, gesund – und weg musste es auch. Sie wischte eher flüchtig durch die Fächer, rührte die Pfanne um und überlegte, dass sie eigentlich nur noch den Keller ausmisten musste – und darauf hatte sie jetzt gar keine Lust.
Nach dem Essen (berauschend schmeckte es nicht, aber das Gefühl, gesund gespeist zu haben, gab eben doch einen gewissen Kick) fuhr sie in den Keller hinunter, einige Mülltüten unter dem Arm.
Hm. Wahrscheinlich konnte das alles weg, dachte sie, als sie sich den Verhau betrachtete.
Nun gut, Tüte eins!
Was war denn in der Schachtel, die da so gefährlich auf einem absolut schauerlichen Lampenschirm thronte?
Sie angelte sich die Schachtel, die sich als eine recht brauchbare schwarze IKEA-Box entpuppte, und nahm den Deckel ab.
Aha: Ein ziemlich hässlicher Kaffeebecher mit einem Firmenlogo, das ihr gar nichts sagte. War sie hier denn im falschen Keller?
Nein, das Zeug in der anderen Ecke kam ihr verdammt bekannt vor. Der Kaffeebecher gehörte also auch ihr – aber ein geflügeltes Haus in lila auf einem rosa Becher?
Oh ja, das war der schreckliche Fitnessclub gewesen. Zweimal hatte sie sich aufgerafft, dann war sie wieder zu faul geworden. Weg damit. Weg auch mit der verstaubten Stoffmaus, der Dose, in der sich nur übrig gebliebene Passfotos befanden (schwarzweiß und mit breitem Grinsen, also völlig unbrauchbar), einer Häkelnadel samt pistazienfarbenem Chenille (hundert Gramm, offenbar im Wahnsinn erworben), einem pseudosilbernem Fotorahmen, mittlerweile blind und verfleckt, immer noch mit der mitgelieferten Achtziger-Jahre-Schönheit darin und einem Päckchen Spielkarten, verdächtig dünn. Hilde blätterte es rasch durch – tatsächlich, keine Asse, keine Damen. Was sollte das wohl?
Egal, ab in den Müll.
Der Lampenschirm konnte auf den Wertstoffhof. Nachher gleich in den Kofferraum! Darunter kam eine Reisetasche zum Vorschein. Pseudolackleder aus Plastik, knallblau mit pink eingefassten Kanten und irgendwie wurstartig. Allein das qualifizierte das Ding schon für den Müll. Hilde zog nicht ohne Misstrauen den Reißverschluss auf.
Interessant! Ein brauner Tweedblazer mit Lederknöpfen. Gar nicht hässlich. Passte er?
Nein. Er kniff grausam. Aber eines Tages? Wenn man ihn reinigte, so dass er nicht mehr so nach Keller müffelte… Vielleicht konnte man ihn sogar selbst waschen… Nein, lieber Reinigung. Aber aufheben!
Braune Cordjeans. Größe 32/34 sagte das Schild im Inneren. Naja. Aufheben.
Ein unglaublicher Pullover, in den offenbar die Motten gekommen waren. Weg. Halt, war der Blazer mottenfrei? Offenbar ja, das Etikett wies ihn als Mischgewebe aus Wolle, Baumwolle und ein bisschen Kunstfaser aus – das mochten Motten nicht. Gut, langfristig konnte er ihre Garderobe vielleicht bereichern.
Ein Kopfkissenbezug, rostrot mit gelben Zacken. Wann hatte sie denn das gekauft – und vor allem, warum? Und warum hatte sie zwar den Deckenbezug – zu Recht - entsorgt, den Kissenbezug aber nicht? Litt sie an Amnesie?
Auf jeden Fall: Müll.
Mehrere einzelne Socken, an den Fersen verdächtig dünn.
Müll.
Ein Sweatshirt. Sauber, anständig, hässlich. Fliederfarben! „Lila, der letzte Versuch“, murmelte Hilde vor sich hin und verstaute das unansehnliche Ding in der Tüte für den Altkleidercontainer.
Ein Seidentuch, mit den üblichen affigen Poppermotiven bedruckt: Sättel, Zaumzeug, Pferdeköpfe, Hufeisen. Schwarz, weiß und gold. Gar nicht hässlich. Muffig, ja, aber ohne Löcher oder Flecken und für manche Gelegenheiten vielleicht ganz nett. Sie legte es auf den Blazer und schüttelte die Reisetasche aus: Leer. Und scheußlich! Sie stopfte alle Müllopfer hinein und zog den Reißverschluss zu.
So, jetzt noch eine Tüte voller Papierkrempel, das musste für heute reichen.
Mühsam arbeitete sie sich nach hinten durch, wo ein wackliges Regal stand, und nahm sich das oberste Fach vor. Naja, lauter Mist, aber zu schade zum Wegwerfen. Bücherbörse im Wertstoffhof, beschloss sie, für die Lesefabrik waren sie zu schmuddelig und abgestoßen. Rund dreißig mindere Bände passten in die Tüte, aber sie packte gleich noch eine zweite Tüte. Damit war das Regal fast schon zur Hälfte leer.
Wenn sie in den nächsten Tagen fleißig weiter Tüten entsorgte, war der Keller bestimmt leer, wenn es ans Umziehen ging!
Sie schleifte die Tüten nach draußen und packte sie mitsamt dem Lampenschirm in den Kofferraum, dann landete die blaue Plastikwurst in der Mülltonne. Zufrieden klopfte sie sich den Staub von den Händen und fuhr wieder nach oben.
Wetten, die anderen hatten nicht so eine Übersichtlichkeit in ihren Behausungen? Von Jenny wusste sie ja (und auch aus Kindheitserinnerungen), wie schlampig Martin war – und Sabine machte zwar viel Wind, aber nicht gerade viel Ordnung. Große Klappe („Ich bin schließlich Mutter“ – wenn sonst schon nichts) und nichts dahinter.
Aber sie selbst – ein Muster an Effizienz.
Naja, wenn sie das wäre, wöge sie nur die vorgeschriebenen 62 Kilo und nicht dreißig Kilo mehr. Und wahrscheinlich hätte sie sich dann bereits eine anständige Wohnung erspekuliert und wäre nicht auf Tante Marthas Erbe angewiesen.
Ach, egal. Der Umzug würde sie bestimmt ein paar Pfund kosten, und wenn sie weiterhin viel Wasser trank und genügend schlief, dann schaffte sie bis zum Umzug vielleicht auch noch zwei, drei Kilo – je nachdem, wie viel Zeit sie noch hatte. Und dann könnte der Blazer vielleicht ja doch schon passen – zur Not.
Oben packte sie den Blazer in eine Tüte für die Reinigung, warf die Cordjeans in den Wäschekorb und weichte das Seidentuch im Waschbecken ein.
Sollte sie sich noch einmal wiegen? Am Freitag waren es 93,5 gewesen – heute war Montag. Und so viel hatte sie auch noch nicht geschuftet. Morgen früh, beschloss sie. Ohne Kleider und ohne unnütze Körperflüssigkeiten.
Sie packte ihre Tasche für morgen und verzog sich ins Bett, sehr zufrieden mit diesem Tag.