Читать книгу Tod einer Minnedame - Elisa Scheer - Страница 2
I 14.09.2008
Оглавление„Hast nichts verpasst“, sagte Eichinger und reichte Felix eine eher dünne Akte. „Society-Mord wie im Fernsehen. War sozusagen in einer Dreiviertelstunde gelöst.“
„Ach ja?“, machte Felix, der Eichingers Ermittlungsstil kannte, und wog den Pappschnellhefter prüfend in der Hand.
„Ach, alles total klar. Reiche Adelsfrau ermordet. Hatte es noch mit einem, der jünger und knackiger war als ihr Alter, und dessen Freundin war´s. Eifersucht. Kein Wunder, farbloses Geschöpf, und die Tote war schon recht attraktiv.“
„Geständnis?“
„Noch nicht. Kommt aber garantiert noch. Kann sich nur noch um Stunden handeln.“
„Hausdurchsuchung?“
„Klar, aber das Opfer ist mit einem Stein erschlagen worden. Was soll man da in der Wohnung finden? Trübselige Hucke, übrigens. Auch ein Motiv. Wenn der Lover mit der Meesen durchgegangen wäre, wäre sie da doch nie rausgekommen.“
„Ach, sie hat von ihrem Freund gelebt?“
„Garantiert. Der Job war ja wohl eher ein Witz. Außerdem – kennst du eine Frau, die nicht von ihrem Macker lebt? Die verbessern sich doch alle, und der Halbritter verdient so schlecht nicht.“
„Das ist der mit den zwei Frauen? Was sagt der denn?“
„Der sagt, ganz klar, seine Emma hatte Schiss, dass er sie verlässt, und deshalb hat sie seine geliebte Margie brutal erschlagen.“
„Aha“, machte Felix. Eichinger glaubte allen alles – nur dem einen nicht, den er zum Täter erkoren hatte. Dem half dann gar nichts mehr. Manchmal klappte das, Eichinger hatte schließlich genug Erfahrung, öfter lag er aber auch voll daneben. Mal sehen, ob es dieses Mal Topp oder Flop sein würde… Wahrscheinlich Flop. Eichinger war ein Trottel.
„Fingerabdrücke?“ Das sollte Eichingers letzte Chance sein, zu zeigen, dass er doch etwas Ahnung von seinem Metier hatte.
„Ach, wahrscheinlich abgewischt“, murmelte der. Felix sagte wieder „Aha“, in seinem speziellen Tonfall, und nahm die Akte an sich. Eichinger sah ihn misstrauisch an. „Was soll das heißen, aha? Glaubst du mir etwa nicht?“
„Ach, Kurt“, seufzte Felix. „Du weißt doch, wie es meistens geht. Kannst du nicht einmal ordentlich ermitteln?“
„Werd nicht unverschämt“, maulte Eichinger, der sich doch eigentlich denken konnte, warum alle um ihn herum befördert wurden, nur er nicht. „Ich sag dir, die Schlampe war´s. Das Motiv hat sie, an einen Stein kommt jede ran, und ein Alibi hat sie auch nicht.“
Das klang nicht wirklich gut, aber Felix war nicht überzeugt. Und wieso eigentlich Schlampe?
„Wieso Schlampe?“, fragte er also. Eichinger zuckte die Achseln. „So halt. Wie würdest du eine Mörderin denn nennen?“
„Das ist doch noch gar nicht erwiesen“, wandte Felix sanft ein. Eichinger war wirklich ein Idiot. Und wie es hier schon wieder aussah!
Er verließ mit der Akte Eichingers Büro und zog sich gegenüber in sein eigenes, makellos aufgeräumtes zurück. Naja, makellos – den Poststapel musste man natürlich ignorieren.
Kaum aus dem Urlaub zurück und schon war die ganze Erholung futsch. Er hatte noch nicht einmal ausgepackt! Diese blöden Fluglotsenstreiks, die Maschine war glücklich um halb sechs Uhr morgens gestartet und er war sofort nach der Landung hierher gefahren, weil der Urlaub vorbei war. Jetzt fühlte er sich schmuddelig, weil er seit sechsunddreißig Stunden auf dem Flughafen Neapel herumgelungert war. Immerzu hatte es geheißen, gleich, gleich geht´s weiter. Die Maschine ist schon startklar. Haha, doch nicht…
Nächstes Mal würde er mit der Bahn – nein, das war womöglich noch schlimmer.
Mit dem Auto.
Unökologisch.
Mit dem Fahrrad!
Äh. Am besten blieb man einfach zu Hause und strich die Wohnung. Und gönnte sich 1 Eis und 1 Freibadbesuch pro Woche. Das war ökologisch. Und dann hieß es wieder Willst du nicht mal so richtig abschalten? Du musst doch auch mal raus!
Scheiß-Urlaub. Stress pur.
Er setzte sich, schlug die Akte auf und begann zu lesen, wobei er geistesabwesend an dem Sonnenbrand auf seiner Nase herumzupfte. Ab und an riss er sich zusammen und schüttelte die Hautfetzchen aus der Akte in den Papierkorb.
Und draußen schüttete es… typisch Oberbayern im September.
Also: Am Montag, den 8. September war Margarethe von Meesen, 33, verheiratet, zwei Töchter, wohnhaft in Leiching, Puellstraße 26, in einem Fußweg nahe ihrem Haus erschlagen aufgefunden worden. Gefunden von einer Nachbarin, die ihre beiden Pudel Gassi führte und die natürlich psychologische Betreuung gebraucht hatte, sobald ihr klar geworden war, was die beiden Köter da so begeistert beschnüffelten.
Felix zog den Bericht der Gerichtsmedizinerin aus der Akte. Äh… üble Fotos, wenigstens die rechte Gesichtshälfte, alles nur noch Blut und zertrümmerte Knochen. Linke Hälfte – gutes Gesicht. Tolle Frau hätte er jetzt nicht gesagt, der doofe Kurt war da wohl leichter zu beeindrucken. Er selbst hätte gesagt Gut erhalten und gut geschminkt. Ebenmäßige Gesichtszüge, komplett faltenfrei - Botox oder Camouflage-Make-up? Das nächste Bild zeigte das gereinigte Gesicht. Trümmerbruch an der rechten Schläfe, der Stein musste recht spitz gewesen sein. Links immer noch faltenfreie Züge. Also Botox. Mit dreiunddreißig hätte die Frau ja wenigstens ein, zwei Stirnlinien und ein paar Lachfältchen haben müssen! Botox oder schon ein Lifting?
Der Bericht bestätigte als Todesursache Schädelhirntrauma, das Übliche. Sonst keinerlei Verletzungen, die Tote war korrekt gekleidet – dunkelgrünes Kostüm im Trachtenstil, hauchdünne Strumpfhosen, dunkelgrüne Pumps einer sehr teuren Marke (Dr. Kolleter hatte mit ihrer Sauklaue etwas an den Rand gekritzelt, was Felix schließlich als „Neid!“ entzifferte.) Er grinste kurz. Keinerlei Unordnung an der Kleidung, auch bei der Untersuchung fand sich kein Hinweis auf einen sexuellen Übergriff. Dann fiel dieses Motiv schon einmal weg. Und die Tageszeit… vermutliche Tatzeit etwa 18 Uhr, aufgefunden gegen halb acht… da war es noch hell, eine mehr als gutbürgerliche Wohngegend, wo die Leute ihre Hunde ausführten, wo die Kinder mit ihren Rädern oder Inline-Skatern herumsausten, wo immer einer seine Hecke schnitt – da würde ja wohl auch keiner bei Tageslicht eine Vergewaltigung planen, oder?
Das war also wohl nicht das Motiv. Es gab da einen Ehemann, Lothar von Meesen, 44 Jahre alt. Zu alt für die Gute, dachte Felix sofort. Aber hatte Kurt nicht sowieso gesagt, dass sie fremdgegangen war? Später. Ehemann völlig von den Socken (von Anne Malzahn interviewt).
Wieso das denn! Felix legte die Akte aufgeschlagen mit dem Gesicht nach unten auf den Schreibtisch. Welcher Trampel schickte Anne, einen trauernden Witwer zu befragen? Anne, die sowieso alle Kerle für Verbrecher hielt und beim besten Willen nicht mitfühlend auftreten konnte?
Welcher Trampel? Kurt natürlich. Felix schüttelte den Kopf und nahm die Akte wieder auf.
Weiter im Text!
Er gähnte.
Zwischendurch sollte er wohl doch mal schnell nach Hause fahren und unter die Dusche springen… Erstmal einen Kaffee, sonst schlief er über dieser vermaledeiten Akte noch ein!
Verdammter Fluglotsenstreik. Und er fand sich selbst reichlich ungewaschen.
Er fütterte die Kaffeemaschine mit den letzten Kaffeebröseln und hoffte das Beste, aber mehr als eine dürftige Plörre brachte er damit nicht mehr zusammen.
Angewidert trank er einen Schluck und schüttete den Rest dann in den Ausguss. Lieber zurück zu dieser Akte!
Kein Verdacht auf ein Sexualverbrechen also. Wenigstens keine Hinweise darauf. Wer erschlägt eine brave – okay, eine nicht ganz so brave – Ehefrau am helllichten Nachmittag in dieser Reiche-Leute-Idylle?
Der Ehemann war in einer Sitzung. Medienkaufmann. Es sei um Filmverwertungsrechte gegangen, hatte er gesagt, und das Alibi hatte Kurt ja hoffentlich gegengecheckt… Hatte er? Felix notierte sich das. Die Töchter waren ja wohl zu jung, um es gewesen zu sein…elf und - neunzehn? Dann war die gute Margarethe aber verdammt früh unterwegs gewesen. Mit vierzehn schon Mutter? Eher war anzunehmen, dass die Ältere aus einer früheren Ehe des Vaters stammte.
Aha, Stiefmutter! In Felix´ Hinterkopf klingelte ein Glöckchen, das an allerlei Märchen gemahnte. Die mutmaßliche Täterin als Reinkarnation von Aschenputtel? Jetzt wurde er albern.
Er knallte die Akte auf den Tisch, schloss sein Büro ab und guckte bei Eichinger durch die Tür: „Kurt? Ich muss mal kurz weg. In einer Stunde bin ich zurück. Hast du das Alibi vom Ehemann überprüft?“
Eichinger blubberte entrüstet und Felix machte, dass er wegkam. So würde Kurt wenigstens nicht überlegen, wo er mitten am Vormittag hinwollte. Er fuhr zügig nach Hause, warf seine Reisetasche aufs Bett, riss sich die zerdrückten Klamotten vom Leib und stieg unter die Dusche.
Zehn Minuten später war er ein neuer Mensch. Noch etwas feucht und mit nassen Haaren, aber spürbar wacher. Und aufnahmefähiger! Er rubbelte sich die Haare trocken und schlüpfte in frische Klamotten, die aber so ähnlich aussahen wie die von vorhin – er musste Kurt ja nicht unnötig verwirren.
Noch ein Paket Kaffee aus dem Schrank geholt und das Küchenfenster gekippt, damit der Zweiwochenmief abziehen konnte – und schon war er wieder weg.
Unterwegs kam er am Kinopalast vorbei und musste wieder an Meesen und seine Filmrechte denken – ob das stimmte? Ein betrogener Ehemann hatte ja durchaus ein Motiv…
Also: Ehemann, Stieftochter. Was war denn mit dem Lover? Vielleicht hatte sie mit dem ja Schluss gemacht? Vielleicht war es ja so was wie Verhängnisvolle Affäre – aber ohne Aktenstudium sollte er sich nicht in irgendwelche Kinophantasien hineinsteigern. Das war ohnehin nur Blödsinn.
Andererseits kannte er eben Kurt, und so musste er davon ausgehen, dass er ganz von vorne anfangen musste. Mit kalten oder kontaminierten Spuren. Klasse. Glücklicherweise aber arbeiteten die KTU und die Spurensicherung auch bei Kurt ordentlich. Davon musste man doch ausgehen können? Das wollte er doch wenigstens schwer hoffen.
Er parkte hastig hinter dem hässlichen Neurenaissancebau, in dem die Leisenberger Polizei untergebracht war, und eilte in sein Büro zurück. Siebenunddreißig Minuten, nicht übel.
Als Kurt hereinkam, lümmelte Felix schon wieder in seinem Stuhl, las in der Akte, ärgerte sich insgeheim über seinen knurrenden Magen und machte sich Notizen zu den Punkten, die Kurt garantiert übersehen hatte.
„Ach, schon wieder da? Also, der Meesen war wirklich auf dieser Sitzung. Ich hab seine Kollegen befragen lassen. Die Sitzung hat von drei bis kurz vor acht gedauert, und dann waren sie noch gemeinsam essen.“
„Während seine Frau gerade abtransportiert wurde“, murmelte Felix.
„Na, das konnte er ja nun nicht wissen, oder?“
Felix brummte unzufrieden. „Wieso hältst du diese Frau für die Täterin?“
„Hast du die Akte immer noch nicht durch? Weil sie ein Motiv hat und kein Alibi. Hat der Haftrichter mir sofort abgekauft, und du weißt, wie pingelig der ist!“
Felix ließ die Akte sinken. „Soll das heißen, die sitzt seit…?“
„Seit dem zehnten. Ich sag doch, das war schnell gelöst.“
„Sie sitzt seit fünf Tagen? Was sagt ihr Anwalt dazu?“
„Hat sie nicht. Recht hat sie, wozu noch Geld ausgeben, wenn sie sowieso dran ist.“
„Kurt?“ flötete Felix und lächelte süß.
„Ja?“ Eichinger schaute misstrauisch.
„Du bist ein Idiot.“
„Ach, und du bist Mr. Oberschlau?“
„Logisch. Und jetzt beweise ich es dir, dass diese Wiesner es nicht war.“
„Gefällt die dir etwa?“
Felix maß seinen Kollegen mit verächtlichem Blick. „Ich kenne die Frau doch gar nicht. Aber dir mal wieder zu beweisen, dass du meilenweit danebenliegst
– das macht schließlich jedes Mal von neuem Spaß. Und ich bin sicher, dass Thomas und Martin mir jederzeit dabei helfen. Von Anne und Joe ganz zu schweigen.“
Kurt knurrte. „Viel Vergnügen. Du kannst den Fall haben, samt Malzahn. Die Frau ist unerträglich. Und den dämlichen Schönberger schenke ich dir auch. Ich leihe mir für den Sporer-Fall ein paar Leute von Sundermann, der ist wenigstens vernünftig.“
„Mach das“, empfahl Felix herzlich. Sundermann war genauso knurrig wie Kurt, aber weniger beschränkt. Und Felix selbst kam mit Anne und Joe glänzend aus. Außerdem war Joe Schönberger überhaupt nicht dämlich. Er war extrem lernfähig, hatte allerdings auf arg bescheidenem Niveau begonnen und sich mittlerweile auf recht ordentlichen Durchschnitt heraufgearbeitet.
„Wo sind die beiden denn?“
„Na, drüben“, war die lapidare Antwort. Felix sah Kurt resigniert an, seufzte theatralisch und erhob sich ächzend, um selbst den Gang zu überqueren und seinen Stab zusammenzurufen.
Eichinger trollte sich unbeeindruckt.
Gegenüber, in dem großen Büro, in dem Martin Spengler normalerweise residierte, hatten Anne Malzahn und Joe Schönberger ihre SoKo-Tafel aufgestellt. Das klang gut, fanden sie, obwohl die Kriminalfälle im provinziellen Leisenberg doch immer von den gleichen paar Teams gelöst wurden und von SoKos nicht die Rede sein konnte.
Also stand auf dem großen magnetischen Whiteboard „SoKo Meesen“. Besser als „Tote Tussi“, dachte sich Felix und schaute zu, wie die beiden einige miserable Fotos mit Magneten befestigten und die Namen darunter kritzelten. Ein Foto allerdings hatte Studioqualität, und er trat näher, nicht ohne anerkennend durch die Zähne zu pfeifen.
„Typisch“, kommentierte Anne Malzahn, „kaum sieht eine Frau gut aus, wird der Fall interessant. Bei den Hässlichen wäre es wohl egal, ob der Fall gelöst wird?“
„Leicht übertrieben“, fand Felix. „Aber die war wirklich nicht hässlich. Die könnte schon heftige Gefühle ausgelöst haben. Meinetwegen primitive Gefühle… Nein!“ Er hob warnend die Hand. „Wir ersparen uns im Interesse des Falls alle gender-Debatten. Wenn der Drang übermächtig wird, können Sie meinetwegen den lieben Joe ein bisschen schikanieren.“
„Na danke“, murrte der mit übertriebener Leidensmiene, „ich werde ihr also zum Fraß vorgeworfen?“
„Schnapp“, murmelte Anne und grinste. „Okay. Die Gute sah echt nicht übel aus, kann ich nicht bestreiten. Haben Sie den Bericht schon durch?“
„Nein, noch nicht ganz. Aber die Folgerungen des Kollegen Eichinger -“
„- können Sie nicht ganz nachvollziehen, hoffe ich?“, ergänzte Anne.
„Lassen wir das“, wehrte Felix mit einem letzten Rest von kollegialer Solidarität ab, „aber auf jeden Fall gehen wir alles noch einmal gründlich durch.“
„Wollen Sie mit der Verdächtigen sprechen?“
„Nicht sofort. Erst lese ich die Akte fertig. Haben Sie schon irgendwas Sinnvolles zu tun?“
„Ich wollte mir mal die Stieftochter anschauen“, sagte Anne Malzahn, und Joe erinnerte sich, dass er das Gespräch mit diesem Halbritter noch einmal durchfieseln wollte.
Felix ließ sich – immer noch mit knurrendem Magen – am Schreibtisch nieder und las die Akte fertig; viel hatte ja nicht mehr gefehlt. Dann trat er an die von seinen Leuten bestückte SoKo-Tafel und studierte, was dort hing, in der Hoffnung, dass die Fotos den noch etwas blassen Beteiligten ein Gesicht verleihen konnten.
Konnten sie. Das Opfer – eine Wucht, ehrlich schade drum, fand er und tadelte sich sofort selbst. Als ob es um eine weniger schöne Frau nicht genauso schade gewesen wäre! Der Ehemann wirkte recht trocken und ein bisschen vergrämt. Kein Wunder, wenn die Ehefrau (und Mutter von zwei Töchtern) deutlich jünger war und sich anderweitig amüsierte. Andererseits sah der auch nicht aus, als habe er der Konkurrenz etwas entgegenzusetzen, fand Felix. Wie einer, der Viagra brauchte und zu feige war, es sich verschreiben zu lassen. Andererseits machte Viagra alleine das Kraut ja auch nicht fett… vielleicht war er einfach ein Tölpel?
So sah er wieder auch nicht aus. Eher durchgeistigt… Was machte der beruflich gleich wieder? Ach ja, Filmrechte. Sesselfurzer. Er tat den Ehemann ab und wandte sich den Töchtern zu. Die Kleine hatte ein harmloses rundes Gesicht, mit elf Jahren vielleicht auch kein Wunder, die ältere – Céline – sah trotzig in die Kamera. Sehr hübsch. Die erste Frau von Meesen musste auch ausgezeichnet ausgesehen haben. Sehr dunkel, sehr schwarzäugig, sehr zartgliedrig. Bei Meesen selbst fand sich jedenfalls nichts davon, der war mehr der blasse, blonde, norddeutsche Typus. Und die schöne Margarethe von Meesen hatte eher zu kräftigen Farben tendiert, rotgoldene Locken, blaugrüne Augen. Der Kontrast zwischen den beiden Fotos – zu Lebzeiten und in der Auffindesituation – war brutal.
Auf der anderen Seite der beiden Fotos schaute ein braunhaariger, empfindsam wirkender junger Mann den Betrachter an, sozusagen mit zitternder Unterlippe.
„Nu heul nicht gleich“, murmelte Felix und musterte Jörg Halbritter kritisch. Softie? Der sensible Dichter? Was hatte die Meesen mit diesem Hemd gewollt? So sehr war ihr Angetrauter ja nun auch nicht der große Kraftprotz und Supermacho gewesen!
Neben diesem Weichei schaute eine weitere Frau ernst von der Tafel. Knapp dreißig, schätzte er, schmales Gesicht, graue Augen, blasse Haut, kaum geschminkt, dunkle, glatt abgeschnittene Haare. Komisch, dass sie keine Brille trug, sie sah nach Brille aus, fand er. War bestimmt Buchhalterin. Pingelig und langweilig, garantiert. Das sollte die Superverdächtige sein, die seit Mittwoch in U-Haft saß? Kaum vorstellbar. Andererseits sahen ja viele Mörder völlig harmlos aus.
Mit der sollte er mal reden. Die Meesen hatte ihr den Freund ausgespannt, und sie hatte kein Alibi. Sie hatte angeblich ganz alleine gearbeitet. Ein Softwareproblem… Niemand hatte sie in der Firma gesehen – wieso eigentlich nicht? Montags um 18 Uhr, das war doch gar nicht so spät?
Felix blätterte in der Akte. Keinerlei Aussagen dazu. Nur diese Wiesner selbst hatte gesagt, sie sei alleine gewesen, als sie an diesem Problem herumgebastelt habe, einer der Rechner sei immer wieder abgestürzt, und im Firmennetz sei die Ursache lange nicht zu finden gewesen. Mensch, Kurt, was war denn das für eine Art zu ermitteln?
Felix warf die Akte auf den Tisch und stürzte über den Gang. „Kurt?“
Kurt war nicht da. Wieso wunderte ihn das nicht?
Na gut, dann holte er erst einmal seine Kiste aus seinem eigenen Büro. Und noch einen Kaffee. Die nächste Zeit würde er ja doch im großen Büro wohnen müssen, und da wollte er wenigstens seine eigenen Kulis haben.
Sobald er sich eingerichtet, das Magenknurren mit einem weiteren schwarzen Kaffee unterdrückt und den Rechner hochgefahren hatte, begann er zu notieren:
Alibi Wiesner richtig überprüfen
Mit Wiesner reden
Hatte es Drohungen von Wiesner gegen Meesen gegeben?
Verhältnis Stiefmutter & Stieftochter?
Finanzen? Wer erbt? Gibt´s was zu erben?
Wo ist Frau von Meesen I?
Was denkt Halbritter?
Den hatte zwar der gute Joe schon einmal befragt, aber eher kurz und oberflächlich. Halbritter war verstört gewesen, konnte sich nicht vorstellen, wer das getan haben konnte, alle hatten die entzückende „Margie“ doch geliebt… blablabla. Und natürlich war diese Margie seine ganz große Liebe gewesen, auf den ersten Blick sei er verloren gewesen – mehr war nicht gegangen, Halbritter war in Tränen ausgebrochen und musste mühsam getröstet werden.
Aha, die Wiesner hatte sich Kurt selbst vorgeknöpft, wahrscheinlich mit seinem üblichen gebremsten Charme. Felix las sich das Verhör noch einmal gründlich durch, in der Hoffnung, etwas zu finden, was entweder einen neuen Ansatz lieferte oder zeigte, dass Kurt doch nicht so ein völliger Idiot war.
Die Wiesner hatte ausgesagt, dass sie kein Alibi habe, dass sie aber Margarethe von Meesen nicht getötet habe, weil ihr an der Beziehung mit dem rettungslos anderweitig verliebten Halbritter ohnehin nicht mehr viel gelegen sei. Nein, beweisen könne sie das nicht, wie denn? Ja, ihr sei auch klar, dass jeder Verdächtige so argumentiere, aber es sei nun mal die Wahrheit. Als man ihr eröffnete, dass sie als tatverdächtig gelte und vorläufig festgenommen sei, habe sie die Achseln gezuckt und darum gebeten, bei ihrer Firma anrufen zu dürfen, weil sie ja bis auf weiteres ihre Aufträge nicht wahrnehmen könne.
Himmel, was machte diese Frau denn beruflich?
Einen Anwalt hatte sie nicht eingeschaltet. Komisch.
Und einem Bericht der Beamtin aus dem Untersuchungsgefängnis zufolge habe die Wiesner zuerst geglaubt, sie dürfe sich tagsüber in ihrer Zelle nicht setzen, esse von allen Mahlzeiten nur das Gemüse und das Brot, wasche sich tatsächlich mit der grauenvollen Anstaltsseife, sogar die Haare, habe sofort um irgendeine Arbeit gebeten, um sich Zahnpasta kaufen zu können, und wirke generell resigniert, aber unverdrossen.
Merkwürdig. Wenn sie unschuldig war, warum tobte sie dann nicht? Wenn sie schuldig war, warum gestand sie nicht?
Und was arbeitete sie bitte im Gefängnis? Software zu reparieren oder was auch immer gab´s da ja wohl nicht. Er blätterte um. Sie sortierte Schräubchen? Für zwanzig Cent die Stunde? Sie hatte bis jetzt vier Tage lang acht Stunden gearbeitet und 6,40 € verdient, ohne den heutigen Tag. Davon hatte sie sich Zahnpasta und eine Zahnbürste gekauft, außerdem einen Kamm (lila, vermerkte die Akte akribisch). Ihre Bitte um Gefängniskleidung war abschlägig beschieden worden, also wusch sie ihre Klamotten täglich und trocknete sie dann auf der Heizung. Felix verkniff es sich, darüber länger nachzudenken, er fragte sich nur, warum sie nicht wie alle anderen Leute eine Reisetasche gepackt hatte, als sie festgenommen worden war. Kurt fragen! Oder sollte er sich die Frau herbestellen und sie einmal gründlich verhören? Später, er wollte dabei nicht mit ihr alleine sein – und Anne Malzahn war ja noch mit der Stieftochter beschäftigt.
Ob alle Beteiligten so verdreht waren wie diese Wiesner?
Fürs erste reichte es ihm; er legte die Akte in die Schublade und verzog sich in die Kantine, wo immerhin noch ein nicht allzu ältliches Käsesandwich zu haben war. Unwesentlich gesättigt kehrte er zurück und machte sich erneut auf die Suche nach Kurt. Dieses Mal wurde er fündig.
„Sag mal, wieso will diese Wiesner denn ihre Sachen nicht in der Zelle haben?“
Eichinger sah seinen Kollegen konsterniert an. „Was? Welche Sachen?“
„Na, Kulturbeutel, Ersatzwäsche, all so was? Und wieso hat sie keinen Anwalt?“
„Mein Gott, bist du jetzt ihr Anwalt oder was? Merkwürdig, die schaut doch nach gar nichts aus. Ich habe sie hier nach einem sehr unbefriedigenden Verhör festgenommen, da hatte sie eben nichts dabei. Und wenn sie lieber ihren Chef anrufen will statt ihren Anwalt, ist das ja wohl nicht unser Problem, oder?“
„Und warum hat sie niemanden geschickt, ihre Sachen zu holen?“
„Frag sie doch selbst. Wahrscheinlich kennt sie niemanden, und du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich eine Beamtin losschicke, um einer Mörderin ein frisches Nachthemd zu holen?“
„Einer mutmaßlichen Mörderin“, korrigierte Felix mit leiser, böser Stimme. „Bis jetzt hast du überhaupt noch nichts bewiesen und dich hochgradig unkorrekt verhalten. Die ganze Ermittlung ist ein Scheiß. Manchmal frage ich mich, warum sie dich nicht zum Verkehrregeln schicken.“
„Werd nicht unverschämt, ja? Du bist nicht mein Vorgesetzter.“
„Nein, aber Kriminalrat Zeitz. Und ich glaube, allmählich muss den mal jemand informieren. Wir decken dich jetzt schon ewig, und was ist das Ergebnis? Wahrscheinlich sitzen lauter Unschuldige im Knast, weil du zu faul bist, dir richtig Mühe zu geben.“
„Blas dich bloß nicht so auf. Sind doch sowieso alles Kriminelle da draußen.“
„Was für ein Blödsinn! Hörst du dir nicht manchmal selbst zu? Das grenzt ja an Paranoia!“
Er verließ Eichingers Büro, nicht ohne die Tür sehr befriedigend ins Schloss zu schmettern.
Mittlerweile war Anne Malzahn zurück; er bat sie, zu bleiben, und rief im Untersuchungsgefängnis an und bestellte Emma Wiesner zu sich.
„So, und was ist bei Ihnen rausgekommen?“
„Nichts Gescheites“, murrte Anne. „Diese Céline ist ein Früchtchen. Aber ganz intelligent. Sie sagt aus, ihre Stiefmutter sei dämlich gewesen, aber harmlos. Komplett auf ihr Äußeres fixiert. Wenn aber der Vater irgendwelche strengen Regelungen durchsetzen wollte, habe sich die schöne Margie stets für die Mädels eingesetzt, wohl, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Das sagt diese Céline jedenfalls mit einem wissenden Blick. Zu ihrer eigenen Tochter sei sie genauso freundlich gewesen wie zu Céline, und die sagt, sie habe gerade Abitur gemacht und sich letzte Woche in Leipzig immatrikuliert, um Journalismus und Geschichte zu studieren, und deshalb könne ihr die schöne Margie ja wirklich im Mondschein begegnen.“
„Hat was für sich“, stimmte Felix zu. „Also die war´s dann auch nicht… oder?“
„Glaub ich auch nicht. Und ihrer Aussage nach wusste der Vater schon länger, dass die liebe Margie einen neuen Stecher hatte. Sie sagt, das sei schon ein, zweimal vorgekommen, und so ernst sei das nie gewesen. Ihr Vater habe das ausgesessen. Céline meint, er habe ein schlechtes Gewissen, weil er nie da sei, zu viel Arbeit. Deshalb sage er nichts, wenn seine Angetraute sich kurzfristig anderweitig schadlos hält.“
„Verdammt“, murmelte Felix.
Anne sah ihn neugierig an. „Sie glauben nicht, dass die Wiesner es war?“
Felix zuckte die Achseln. „Weiß man´s? Beweise sehe ich jedenfalls keine.“