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Alle Jahre wieder

von Christel Brodbeck

Es war der erste Heilige Abend, den wir als kleine Familie miteinander erlebten. Der Baum war geschmückt und das Essen vorbereitet, die Geschenke verpackt. So machten wir uns auf den Weg zur Kirche. Vergnügt saß unser sechs Monate alter Sohn in seinem Babysitz, als wir am großen Einkaufszentrum vorbeifuhren. Es war vor Kurzem am Stadtrand eröffnet worden, natürlich noch rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft. Aber heute Abend waren die Parkplätze leer. Nein, nicht ganz leer. Eine gebückte, in schäbige Kleider gehüllte Gestalt schlurfte über den einsamen Parkplatz, schwer mit Plastiktüten bepackt. Es war offensichtlich, dass es sich nicht um einen verspäteten Kunden handelte, sondern einen Obdachlosen, der nach einem geschützten Plätzchen suchte, vielleicht in einem der Unterstände für die Einkaufswagen.

Mein Mann setzte gerade den Blinker, um auf die Hauptstraße abzubiegen, als ich rief: „Halt an!“

„Wegen diesem Menschen da auf dem Parkplatz?“, fragte er. Offensichtlich hatte er den Mann auch bemerkt.

„Wir können jetzt nicht einfach zur Kirche fahren, Weihnachten feiern und so tun, als hätten wir ihn nicht gesehen“, sagte ich.

„Ja, irgendwie hast du recht, das würde nicht zu Weihnachten passen“, stellte Ralf nachdenklich fest. „Du meinst also, wir sollen ihn mitnehmen ... Aber ob er mit uns geht? Ich habe gehört, dass sich Leute, die auf der Straße leben, eher zögerlich nach Hause einladen lassen.“

„Lass es uns wenigstens versuchen“, schlug ich vor.

Die Gestalt hatte sich, wie angenommen, unter dem Vordach für die Einkaufswagen in der hintersten Ecke ein Plätzchen gesucht.

„Hallo, wir sind Ralf und Silvi und wollten fragen, ob Sie Lust hätten, mit uns zur Kirche zu fahren und anschließend bei uns zu Hause Weihnachten zu feiern, so mit Essen und Tannenbaum?“, sagte ich.

Erstaunt schaute der Mann uns an – und traurig. Dann, nach einer kurzen Pause, stand er ruckartig auf. „Kann ich das hier mitnehmen?“, fragte er und deutete auf die vier prall gefüllten Plastiktüten.

„Natürlich, im Auto ist Platz genug“, antwortete mein Mann. Im Stillen war er überrascht über die positive Antwort des Mannes. Dann schauten wir uns unsicher an, als wir den etwas muffigen Geruch wahrnahmen, den unser ungewöhnlicher Gast verströmte.

„Ob das eine gute Idee war?“, flüsterte ich, als Ralf die Tüten im Kofferraum verstaute.

Durch diesen Zwischenfall kamen wir später als geplant an der Kirche an und waren ziemlich die Letzten, die den Raum betraten. Natürlich waren alle Plätze belegt, bis auf ein paar wenige in den beiden ersten Reihen. Immer das Gleiche, dachte ich, alle wollen sie zum Weihnachtsgottesdienst, aber lieber hinten stehen als ganz vorne sitzen. Wäre das hier ein Fußballspiel, würde das sicher ganz anders sein.

Wir schritten durch den Mittelgang zur ersten Reihe: Ralf mit Jonas auf dem Arm, ich und unser Gast. Ich glaube, die versammelte Gemeinde staunte an diesem Abend mehr über uns als über den prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum. Die Orgel setzte ein und wir sangen das erste Lied: „Ich steh an deiner Krippen hier.“ Ja, da waren wir also mit Manfred, so hieß unser Gast, zwischen all den gut gekleideten und gut situierten Menschen unserer Gemeinde.

Als wir später zu Hause waren, Manfred sich geduscht hatte und sich jetzt, bekleidet mit Ralfs Jogginganzug, das leckere Weihnachtsessen schmecken ließ, kamen wir ins Gespräch. Zaghaft zuerst, vielleicht weil er das Erzählen nicht mehr gewohnt war, berichtete Manfred aus seinem Leben, und wir hörten staunend zu.

Lehrer war er gewesen, als plötzlich seine Frau Ellen kurz nach der Hochzeit schwer erkrankte und verstarb. Manfred war danach nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen. Er ging nicht mehr zum Unterricht in die Schule, ging zu keinem Arzt mehr, um sich helfen zu lassen. Auch die Verwandtschaft ließ er nicht mehr an sich heran. Er wollte zu keiner Familienfeier mehr gehen – ohne Ellen. Konnte es nicht mehr aushalten in seiner Wohnung – ohne Ellen. Irgendwann packte er ein paar Sachen zusammen und ging. Seither war die Straße sein Zuhause. Schon dreißig Jahre lang.

Jonas war friedlich zwischen seinen neuen Spielsachen auf der Krabbeldecke am Boden eingeschlafen. Leise las Ralf die Weihnachtsgeschichte vor, um ihn nicht aufzuwecken. Dann tranken wir im Schein des Weihnachtsbaumes Rotwein und aßen selbst gebackene Plätzchen.

In die Stille hinein sagte Manfred plötzlich bewegt: „Ich möchte Ihnen von Herzen für diesen Abend danken. Ich habe mich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt. Es war fast so wie früher, als Ellen noch da war.“

„Sie können heute Nacht hier auf dem Sofa schlafen“, sagte ich und holte Kissen und eine warme Decke.

„Dürfen wir noch mit Ihnen beten, bevor wir zu Bett gehen?“, fragte Ralf.

Manfred nickte.

Im Licht der brennenden Kerzen begann er: „Danke, lieber Vater, dass du Jesus als Kind in diese Welt geschickt hast, weil du nicht willst, dass auch nur einer von uns verloren geht. So sehr liebst du uns, und das Kind in der Krippe ist der Beweis dafür. Wir danken dir für dieses Wunder. Amen.“

Tränen liefen über Manfreds Gesicht, und wir spürten etwas vom Wunder der Heiligen Nacht hier in unserem Wohnzimmer.

Am nächsten Morgen erwachten wir, weil Jonas in seinem Bettchen munter vor sich hin brabbelte. Schnell sprangen wir auf, als uns der Gast einfiel. Aber das Wohnzimmer war leer und auch in keinem anderen Raum der Wohnung war Manfred zu finden. Seine Kleider und Plastiktüten waren ebenfalls verschwunden. Er war weg. Warum war er so wortlos und heimlich gegangen? Da fiel mein Blick auf die einfache Weihnachtskrippe aus Holz. Sie war leer. Manfred hatte das Jesuskind mitgenommen. Wir schauten uns verwundert an.

„Vielleicht braucht er diese handfeste Erinnerung an Gottes Liebe“, meinte Ralf. Ich nickte.

Wir hofften und beteten in den folgenden Monaten, dass Manfred nicht nur die kleine Holzfigur, sondern den lebendigen Jesus bei sich tragen würde.

Es vergeht kein Weihnachten, ohne dass wir nicht von Manfred sprechen und sehr froh darüber sind, damals angehalten zu haben. Die fehlende Figur haben wir nie nachgekauft, denn die leere Krippe erinnert uns alle Jahre wieder an das, was damals geschah. Und dann singen wir das Lied, das wir auch mit Manfred im Gottesdienst gesungen haben:

Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen:

dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.

So lass mich doch dein Kripplein sein;

komm, komm und lege bei mir ein

dich und all deine Freuden.

Liebe verschenkt sich

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