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Fräulein Minka und das Fahrrad im Flur

von Hannelore Schnapp – nach einer wahren Begebenheit

Der schwere Kohlenzug rattert über die Schienen, erschüttert die nahe gelegenen Häuser mit dem gewohnten halbstündlichen Beben. Versteckt hinter dem blühenden Sommerflieder stehen die beiden Mädchen in alten Spielkleidern und schmutzigen Schürzen. Die Freundinnen halten einander an den Händen. Helga, die Jüngere, wirkt klein und zart, fast zerbrechlich. Ihr weißblondes, dünnes Haar weht im Fahrtwind der vorbeijagenden Waggons. Irmgard hingegen ist robust und unverwüstlich, stark wie eine Löwin unter ihrem krausen Pagenschnitt.

„Helga, schnell, ins Gleisbett, bevor der Gegenzug kommt.“

In der flirrenden Hitze des Sommertages verschwimmen die Bahnschienen zu einem nicht enden wollenden Fluss, der sich von den umliegenden Zechen hin zu den Stahlwerken des Ruhrgebiets ergießt.

„Kohlen sammeln im Sommer macht keinen Spaß!“, stellt Helga mürrisch fest. „Wie gerne wäre ich jetzt im Schwimmbad!“

„Ich auch, aber wir wollen ja auch was essen, und dazu brauchen unsere Mütter die Kohlen! Mein Vater ist jetzt schon seit drei Jahren arbeitslos. Von dem bisschen Geld, das er nebenher verdient, und den Lebensmitteln, die mein Onkel meiner Mutter zusteckt, wenn sie seine schmutzige Metzgerwäsche gewaschen und gebügelt hat, können wir kaum leben. Wir sind froh, dass wir die Zechenhauswohnung behalten dürfen, obwohl Vater nicht mehr in der Bergwerksverwaltung arbeitet“, meint Irmgard niedergeschlagen und wischt sich mit ihren schwarzen Händen durchs Gesicht.

„Mein Papa ist Tagelöhner. Jeden Tag bringt er etwas Geld und Mama schimpft immer, dass wir davon nicht leben und nicht sterben können. Was immer sie auch damit meint. Manchmal habe ich Angst, dass sie mein Akkordeon verkauft und ich nicht mehr spielen kann.“

„Weißt du was, Helga? Warum ziehen wir nicht durch unsere Siedlung! Du machst Musik und ich singe. Vielleicht verdienen wir etwas Geld oder etwas zu essen.“ Irmgard ist ganz begeistert von ihrer Idee.

„Die Leute sind doch alle so arm wie wir. Aber was ist mit der Steigersiedlung? Papa sagt immer, da wohne das Geld. Und vielleicht gibt es dort auch Bonbons oder Schokolade“, träumt Helga laut.

„Wollen wir das nicht mal probieren? Nur unseren Eltern, den sollten wird davon besser nichts erzählen. Ich höre schon meine Mutter sagen: ‚Es wird nicht gebettelt, Irmchen!‘“

„Außerdem müssen wir uns für unseren Auftritt erst mal waschen und schick machen. Du siehst aus wie die Tochter von Josephine Baker“, lacht Helga und streicht mit ihrem Finger über Irmgards Gesicht. „Schwarz wie ein Mohrenkind!“

„Wir treffen uns gleich in der Waschküche!“, schlägt Irmgard vor, als sie auf dem Flur des Mietshauses stehen, in dem sie wohnen. Sie geben ihre Körbe voller Kohlen bei ihren Müttern ab und bekommen wie immer ein Schmalzbrot auf die Hand. Dann holen sie heimlich ihre guten Sonntagskleider und Schuhe aus den Schränken. Helga schnappt sich noch ihr Akkordeon und Irmgard ihre Strickmütze, um darin die Gage für ihren ersten großen Auftritt an diesem Ferientag zu sammeln. In der Waschküche im Keller schrubben die beiden mit Kernseife den Ruß von der Haut, ziehen sich um und kämmen einander. Wie immer jammert Irmgard, als der Kamm in ihrem krausen Haar hängen bleibt. Und Helga beschwert sich, weil sie so dünnes Fuddelhaar hat, in dem noch nicht mal eine Schleife halten will.

Einige Straßen weiter liegt die Steigersiedlung mit den edlen Häusern und Villen der Steiger und Bergbauingenieure, der Assessoren und Werksdirektoren, die ein großer Park mit einem Casino, mit Biergarten und Springbrunnen umgibt.

„So muss es im Paradies aussehen!“, seufzt Helga.

„Jetzt fehlen nur noch die Paradiesvögel, die Musik machen und Lieder singen. Pack dein Akkordeon aus, und dann geht’s los ... Wie wär es mit ‚Lustig ist das Zigeunerleben‘ und ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‘ anzufangen“, schlägt Irmgard vor.

Von einem Wahlplakat schaut sie ein Mann mit dunklem, streng gekämmten Haar und einem markanten Oberlippenbart böse an, als wolle er sagen: „Wenn ich an der Macht bin, werde ich euch das Singen dieser Lieder schon austreiben.“

Während sie ein Lied nach dem anderen anstimmen, schauen nach und nach immer mehr Frauen und Kinder aus den Fenstern oder kommen aus dem Park, um zu sehen, wer da Musik macht. Einige Mädchen tanzen sogar dazu, ältere Frauen singen mit. Nach dem letzten Lied geht Irmgard zaghaft mit der Wintermütze herum. Und siehe da, es kommen einige kleine Münzen, Bonbons, ein paar Murmeln und eine tote Maus zusammen.

Als die beiden noch dabei sind, ihre Schätze zu sortieren, spricht eine Frau in einem wehenden weißen Sommerkleid sie an. „Ihr habt so schön gesungen. Drüben im Haus liegt meine kranke Tochter Else. Würdet ihr mitkommen und für sie singen? Sie würde sich sehr darüber freuen.“

Die Freundinnen nicken und folgen der eleganten Dame ins Haus. „Schau mal, wie das hier aussieht. Ist das ein Schloss?“, fragt Helga leise Irmgard.

„Ich weiß nicht. Solche Möbel und Bilder und Blumen habe ich noch nie gesehen“, antwortet diese flüsternd, als sie die große Treppe nach oben steigen. Vor einer Tür, an eine Wand im Flur gelehnt, steht das schönste Fahrrad, das Irmgard je gesehen hat. Sie sieht sich schon damit den langen Flur entlangsausen und die Siedlung erobern. Aus der Ferne holt die Stimme der Frau sie wieder in die Realität zurück.

„Hier wohnt meine kleine Else. Sie ist sehr krank und kann nicht laufen. Wie heißt ihr eigentlich?“, fragt Elses Mutter.

„Helga und Irmgard“, stellen sie sich vor und machen gehorsam einen Knicks.

„Ich bin Frau Direktor Hussmann. Mein Mann leitet die Zeche hier vor Ort. Aber nun kommt!“

Ein solches Kinderzimmer haben Helga und Irmgard noch nie gesehen. Es gibt Spielzeug aller Art. Auf dem Sessel sitzt die schönste Puppe der Welt, denkt Helga wehmütig. Im weißen großen Bett liegt ein blasses Mädchen und schaut sie mit großen Augen an.

„Else, ich habe dir Besuch mitgebracht. Das sind Helga und Irmgard, die draußen so schön Musik gemacht haben.“

„Spielt und singt ihr noch mal für mich?“, bittet das Mädchen mit zarter, kaum hörbarer Stimme. Helga und Irmgard legen los und singen und spielen, was sie nur können. Hinterher gibt es Limonade und Plätzchen.

„Darf ich deine Puppe mal anfassen?“, fragt Helga zögernd.

„Das ist Fräulein Minka. Schau mal, da drüben im Puppenschrank sind ihre ganzen Kleider.“ Else lacht.

„Und darf ich mal auf deinem Fahrrad fahren?“

„Nur zu, Irmgard. Wollt ihr nicht morgen wieder kommen und mir was vorspielen? Vielleicht können wir zusammen spielen und Freundinnen werden.“

Helga und Irmgard nicken begeistert. Und so wird jeder Tag der Ferien nach dem Kohlesammeln, dem Schmalzbrot, dem Waschen und Umziehen zu einem „Else-Tag“. Lieder und Geschichten erfüllen das Kinderzimmer und Elses Leben. Manchmal sitzt sie in einem Rollstuhl. Dann spielen sie mit Fräulein Minka, die von Helga, dem bösen Räuber, geraubt und von Irmgard, dem tapferen Ritter, auf seinem Fahrrad gerettet und zu Prinzessin Else zurückgebracht wird. In den Pausen gibt es „Sonntagskuchen“, wie Irmgard ihn nennt, und „Sprudel, der nach Sommer schmeckt“.

Als die Schule wieder beginnt, kommen Helga und Irmgard erst am Spätnachmittag zu Else.

„Fräulein Minka hat schon auf euch gewartet!“, stellt Else glücklich fest, als die beiden endlich da sind.

„Wir müssen doch immer erst zu Hause helfen und Hausaufgaben machen“, erklärt Irmgard. „Und Kohlen sammeln, damit unsere Mütter etwas kochen können.“

„Ich möchte auch Kohlen sammeln“, meint Else und schaut traurig aus dem Fenster.

„Sei froh, dass du das nicht musst. Es macht keinen Spaß, hinter den vollen Zügen herzulaufen. Man muss immer aufpassen, dass nicht schon der nächste anrollt.“

„Warum kauft ihr denn keine Kohlen?“, will Else wissen.

„Mein Vater hat seine Stelle als Buchhalter auf der Zeche verloren und ist schon drei Jahre arbeitslos. Wir haben kein Geld. Wir können uns nur wenig zu essen kaufen und Kohlen schon gar nicht bezahlen. Der nächste Winter wird bestimmt wieder kalt“, meint Irmgard besorgt.

„Auch mein Papa verdient gaaanz wenig“, erklärt Helga traurig. „Und was ist mit Weihnachten?“, fragt Else.

„Weihnachten gibt es nur eine Kleinigkeit. Ein gestricktes Puppenkleid oder etwas Repariertes“, klagt Helga, die so gerne eine Puppe wie Fräulein Minka hätte.

„Unsere Brüder bekommen meistens neue Schuhe, weil ihre Füße so schnell wachsen“, fügt Irmgard hinzu.

„Ich habe so viel Spielzeug und kann nicht damit spielen. Ich habe Tuberkulose in meinen Knochen und werde bald sterben“, sagt Else leise.

„Nein!“, entscheidet Helga trotzig. „Sterben, das tun nur alte Menschen!“

An einem stürmischen Regentag im November dürfen Irmgard und Helga nicht zu Else. „Der Arzt ist bei ihr. Sie ist sehr krank“, erklärt ihre Mutter. Die beiden Mädchen sehen, dass sie geweint hat.

„Dürfen wir morgen kommen?“, fragt Helga.

„Kommt am Wochenende, dann schauen wir mal, wie es Else geht“, antwortet die Mutter und zieht leise die Tür ins Schloss.

„Wir malen Else Bilder und schreiben ihr einen Brief und wünschen ihr gute Besserung“, schlägt Helga vor.

„Und ich stricke ihr einen dicken Schal und backe ein paar Plätzchen für sie. Wir machen ein Päckchen fertig, klingeln und stellen es ihr vor die Tür“, meint Irmgard.

Am Samstagmorgen sind die Freundinnen damit beschäftigt, das Päckchen, einen alten Schuhkarton, zu packen. Zum Schluss legen sie noch einen Tannenzweig hinein. Dann machen sie sich auf den Weg in die Steigersiedlung.

Als die Freundinnen um die Ecke biegen, sehen sie vor dem großen Haus den schwarzen Wagen, der immer kommt, wenn jemand gestorben ist. Helga lässt vor Schreck das Paket in eine Pfütze fallen. „Else!“, schreit sie in das Regengrau des Tages. „Else!“ Dann bricht sie in Tränen aus und umklammert Irmgard ganz fest.

Ein großer, stattlicher Mann kommt auf die beiden Mädchen zu. „Ihr müsst Helga und Irmgard sein. Meine kleine Else hat mir oft von euch erzählt. Ihr habt viel Freude in ihr kurzes Leben gebracht. Gerne hätte sie sich noch von euch verabschiedet, aber es ging alles so schnell.“ Er kämpft mit den Tränen.

Schweigend überreicht Irmgard ihm das durchnässte Päckchen, dann nimmt sie Helga an die Hand und geht weinend mit ihr nach Hause.

Es sind lange, tränenreiche Gespräche mit den Eltern, deren Intensität auch durch das halbstündliche Donnern der Kohlenzüge nicht gemindert wird.

Das Leben geht weiter, leise und ohne Else.

„Kohlen sammeln am Heiligen Abend macht keinen Spaß!“, stellt Helga fest, als sie mit eiskalten Fingern hastig die Kohlen aus dem Gleisbett sammelt.

Als die Körbe endlich voll sind, machen sie sich eilig auf den Nachhauseweg.

„Bis später, in der Kirche!“, verabschieden sich die Freundinnen an den Wohnungstüren.

An diesem Abend gibt es eine unerwartete Bescherung. Unter dem Tannenbaum von Helgas Familie sitzt Fräulein Minka, daneben steht ein Puppenschrank voller Kleider. Für ihren großen Bruder Hugo gibt es eine noch im Originalkarton verpackte neue Dampfmaschine.

Auch Irmgard staunt nicht schlecht, als sie unterm Weihnachtsbaum Elses Fahrrad entdeckt. Für ihren kleinen Bruder Helmut steht ein Regiment von Zinnsoldaten dabei.

„Direktor Hussmann war heute hier und hat die Sachen für euch abgegeben. Er hat Vater eine Arbeit angeboten. Und für Helga und dich noch einen Brief dagelassen.“ Irmgards Mutter reicht ihrer Tochter lächelnd den rosafarbenen Briefumschlag, der ganz zart nach Else duftet.

„Darf ich eben rüber und ihn mit Helga lesen?“, bittet Irmgard aufgeregt. Und ohne eine Antwort abzuwarten, läuft sie los.

Im Flur öffnet sie den Brief und liest ihn Helga vor, die Fräulein Minka im schönsten Spitzenkleid im Arm trägt:

„Liebe Helga, liebe Irmgard, danke für die schöne Zeit mit euch. Leider können wir jetzt nicht mehr zusammen spielen, aber ich werde den Engeln im Himmel von euch erzählen. Passt gut auf Fräulein Minka auf. Sie macht sich gerne schick. Und zeigt bitte meinem Fahrrad alle Straßen der Siedlung, die es noch nicht kennt. Lebt wohl! Eure Freundin Else.“

Liebe verschenkt sich

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