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Das Loch in der Jackentasche

von Stephanie Platte

Immer alles griffbereit haben, nur nichts verpassen, auch nicht das kleinste interessante Motiv außer Acht lassen – das hat er sich fest vorgenommen. Er tastet nach seiner Kamera und seinem Stativ auf dem Beifahrersitz. Heute, in dieser stillen, sternenklaren und kalten Dezembernacht, erscheint alles so überaus friedlich. Kein weiteres Auto weit und breit. Tiefer Friede liegt über dem Städtchen. Der Neuschnee liegt fein wie ein zarter Hauch auf den kahlen Zweigen der Bäume. Wie liebt er doch seinen Beruf. Oft sieht er Dinge, die anderen verborgen bleiben. Dafür steht er gern einmal früh auf. So wie heute. Was werden das für wunderschöne weihnachtliche Nachtaufnahmen werden! Man kann sie gut als Postkartenmotive verkaufen. Die meisten Kunden mögen so etwas.

Langsam rollt sein Auto über die verschneite Straße. Er überlegt. Dieser alte Schuppen auf der gegenüberliegenden Straßenseite eignet sich hervorragend, um den Stall von Betlehem abzugeben. Maria und Josef sollen doch auch in so etwas untergekommen sein. Dass damals in Israel sicherlich kein Schnee lag, spielt keine große Rolle. Fehlt nur noch der Stern, aber den kann er problemlos mit dem genialen Bildbearbeitungsprogramm einfügen. Hauptsache, es sieht romantisch aus. Er stoppt seinen Wagen an der Bushaltestelle und stellt den Motor ab.

Hoffentlich schlafen die Leute in dem anliegenden Wohnhaus tief und fest. Sie müssen nicht sehen, wie sich ein Fremder in ihrem Garten mit seiner Fotoausrüstung zu schaffen macht; man könnte ihn für einen Einbrecher halten. Wer sonst sollte sich weit nach Mitternacht in der Gegend herumtreiben? Aber – was tut man nicht alles für seinen geliebten Job. Und wenn heute Nacht noch etwas mehr Neuschnee fällt, sind seine Spuren am Morgen nicht mehr zu sehen.

Er greift nach seiner Fotoausrüstung, steigt aus dem Auto und überquert die Fahrbahn. Jetzt kommt es darauf an, alles sorgfältig aufzubauen, die Kamera gewissenhaft einzustellen und den Auslöser zu aktivieren. Drei oder vier Aufnahmen müssten reichen. Es stört ihn ja niemand.

Alles klappt wie am Schnürchen. Der Mond beleuchtet das Schuppendach von der rechten Seite und der Schnee glitzert wie eine dünne Schicht aus Edelsteinen. Ein bisschen Glück braucht man als Fotograf eben auch.

Nachdem er die Bilder im Kasten hat – es sind jetzt doch sieben geworden –, nimmt er sich noch etwas Zeit, um den Schuppen genauer zu betrachten. Wozu er wohl dient? Und was er wohl früher einmal beherbergt hat? Vielleicht Kühe oder Schweine. Aber nachdem der dazugehörige Bauernhof nebenan zu einem Restaurant umgebaut worden ist, lagern hier wahrscheinlich nur noch irgendwelche alten Geräte. Oder er dient als Garage für einen Wohnwagen.

Neugierig geworden schleicht er sich zu der grob ausgebesserten Holztür. Vorsichtig drückt er die angerostete Klinke herunter. Die Tür lässt sich öffnen. Also eher kein Wohnwagen. Wahrscheinlich auch kein Oldtimer.

Im Innern ist es stockdunkel. Er nimmt die unentbehrliche Taschenlampe aus der Jackentasche. Seine Finger sind inzwischen ziemlich kalt geworden, und er hat Mühe, das Licht anzuknipsen. Nach ein paar Sekunden durchbricht ein heller Strahl die Dunkelheit. Schnell zieht er die Schuppentür hinter sich wieder zu, sonst hat er womöglich gleich die Polizei am Hals.

Erstaunt sieht er sich um. Hier also lagert das Restaurant seine Möbel für die Sommersaison ein. Mindestens dreißig Stühle aus blauem Kunststoff stehen ordentlich aufgestapelt nebeneinander, dazu die Tische. Hinten, in der Ecke, entdeckt er zwei große Grills sowie eine Tiefkühltruhe, die allerdings ausrangiert zu sein scheint. Alles ist penibel mit Plastikfolie abgedeckt. Vorne stapeln sich die Sitzkissen für die Stühle, damit man es sich auch draußen gemütlich machen kann. Sogar ein paar Decken gibt es für empfindlichere Gäste. Komisch nur, dass die so unordentlich in einer Ecke liegen. Das passt gar nicht zu dem ansonsten Ordnung ausstrahlenden Gesamteindruck. Er richtet den Strahl noch einmal auf die zerwühlten Decken. Irgendetwas stimmt da nicht. Irgendetwas an diesem Anblick stört ihn. Aber was?

Auf Zehenspitzen schleicht er näher, die Neugier hat ihn gepackt. Vielleicht kommt gleich etwas unter den Decken herausgeschossen, wer weiß? Da, etwas bewegt sich. Vor Schreck macht er eine unbedachte Bewegung – und bleibt mit seiner Jackentasche an einem rostigen Nagel hängen. Ratsch! So etwas Blödes! Seine Frau wird ihn fragen, wie er denn das geschafft habe, und was soll er schon darauf antworten? Ich bin mitten in der Nacht in einem fremden Schuppen herumgeschlichen und habe einen geheimnisvollen Berg mit zusammengeknüllten Decken erforscht. Er stößt einen leisen Seufzer aus. Das Gelächter kann er jetzt schon hören. Aber nun gibt es kein Zurück mehr. Jetzt muss er wissen, was unter den Decken steckt.

Es raschelt leise. Plötzlich erscheint – er glaubt es kaum – ein kleines Katzenköpfchen. Und dann noch eins und noch eins. Und dann noch vier. Schließlich taucht ein großer Katzenkopf auf, ganz silbergrau mit schwarzen Streifen. Schnell tritt er einen Schritt zurück.

Für einen Augenblick schauen sich die Katzenmutter und der nächtliche Besucher in die Augen, bevor sich alle Samtpfoten wieder in ihrem kuscheligen Heim verkriechen. Das Licht ist ihnen offenbar zu grell, obwohl er die Taschenlampe mit einer Hand abschirmt. Die Kätzchen mögen ungefähr zwei Wochen alt sein, schätzt er, und niemand hat sie bisher entdeckt. Zumindest sieht es ganz danach aus, sonst hätte man ihnen vielleicht ein paar saubere alte Handtücher gebracht und etwas Wasser. In aller Stille hat die Katzenmutter ihre Jungen zur Welt gebracht, und keiner hat etwas bemerkt.

Leise zieht er sich in Richtung Tür zurück, schaltet die Lampe aus und tritt in die kalte, klare Nachtluft. Dort atmet er erst einmal tief durch. Im Schuppen war es doch ein wenig muffig. Er greift zu seinem Stativ und seiner Kamera, die er vor der Tür hat stehen lassen, und schlendert zu seinem Auto zurück. Die Katzenbabys bringen ihn zum Nachdenken. Er muss an die Weihnachtsgeschichte denken. Komisch! Bisher hat er nämlich die Sache mit Maria und Josef für eine alte, nicht wirklich ernst zu nehmende Story gehalten, die ein paar besonders fromme Leute wirklich glauben, mit der er aber selbst nichts zu tun hat – außer er fotografiert weihnachtliche Motive, um damit Geld zu verdienen. So wie in dieser Nacht. Doch in dem alten Schuppen hatte eine Katzenmutter ihre Jungen zur Welt gebracht, vielleicht sogar eines Nachts, und niemand hat es anscheinend mitbekommen. Die Leute haben es einfach verschlafen!

Wenn er sich richtig an die Kinderstunden früher in der Kirche erinnert, war es mit dieser Jesus-Geschichte so ähnlich gewesen. In einer stillen Nacht kam ein Kind zur Welt, und außer den Hirten, die dies von den Engeln gehört hatten, hatte es das ganze Städtchen verschlafen.

Und er? Was wäre, wenn er selbst bisher dieses Ereignis „verschlafen“ hätte? Wenn das mit Jesus wirklich wahr sein sollte – wäre es jetzt nicht höchste Zeit für ihn aufzuwachen? So wie er diese Katzenkinder beobachtet hatte, so deutlich hatten auch die Hirten Jesus in der Krippe liegen sehen.

Grübelnd öffnet er die Autotür. In dieser Nacht wird ihm vieles klar. Er kommt sich vor wie einer der Hirten, der aus dem Stall von Betlehem heraustrat, nachdem er den Gottessohn besucht hatte.

Bis der neue Tag erwacht, sind es noch ein paar Stunden. In Gedanken versunken macht er sich auf den Rückweg. Zu Hause angelangt, setzt er sich einerseits todmüde, andererseits zu aufgewühlt, um schlafen zu können, an seinen PC und öffnet die Bilder, nachdem er sie abgespeichert hat. Die Aufnahmen des Schuppens sind perfekt. Das Mondlicht wirft einen sanften Schein auf die feine Schneedecke. Nein, er wird jetzt keinen kitschigen Stern über den Stall einfügen. Stattdessen nimmt er die alte, eingestaubte Bibel aus dem Regal und sucht die Weihnachtsgeschichte. Nach einiger Zeit findet er den Satz, den er für die Karte braucht: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Diesen Vers setzt er mit weißen Buchstaben in den mit unzähligen Sternen übersäten Himmel, direkt über das schneebedeckte Schuppendach. Vielleicht wird ihm niemand dieses Bild abkaufen; aber er weiß, dass er in dieser Nacht mehr verstanden hat als in allen Nächten seines Lebens zuvor, die er einfach verschlafen hatte. Das Loch in seiner Jackentasche wird ihn daran erinnern.

Er blickt aus dem Fenster. Bis zur Morgendämmerung dauert es nicht mehr lange. Dann wird er seine Frau wecken. Sie muss als Erste erfahren, was er in dieser Nacht erlebt hat. Die Bibel lässt er geöffnet auf dem Schreibtisch liegen.

Liebe verschenkt sich

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