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ОглавлениеMarthas Adventsweg
von Karin Baltensperger
Martha wälzte sich von einer Seite auf die andere. Trotz bleierner Müdigkeit fand sie keinen Schlaf. Mitternacht war längst vorbei und noch immer lag sie wach im Bett. In ihr schrie es: Warum? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt? Sie knipste das Licht an, schleppte sich in die Küche und machte sich eine Tasse Tee. Müde saß sie am Küchentisch.
Es war Mitte November. Die Adventszeit stand vor der Tür – für Martha die schönste Zeit im Jahr. Zugegeben, auch die anstrengendste. Doch sie liebte diese Betriebsamkeit mit Plätzchen backen, Feiern vorbereiten, Weihnachtsaufführungen üben, Geschenke basteln … Da blühte Martha auf, da wurde sie gebraucht.
Doch in diesem Jahr stimmte irgendetwas nicht mit ihr. Es ging ihr nicht gut, sie war sehr müde, hatte oft Kopfschmerzen und fühlte sich ausgelaugt. Deshalb war sie heute zu ihrer Ärztin gegangen. Vielleicht konnte die ihr etwas zur Stärkung verschreiben.
Die Ärztin hatte ihr aufmerksam zugehört, sie untersucht und ihr dann behutsam erklärt, dass Martha Symptome eines Burn-outs zeige. Sie hatte ihr dringend geraten, zur Erholung wegzufahren, am besten nicht nur eine Woche, sondern einen Monat. Einen Monat! Das wäre ja die ganze Adventszeit! Nein, das ging doch nicht! Wie betäubt war Martha nach Hause gegangen.
Nun saß sie da, in der Rechten ihre Teetasse, und blickte starr vor sich hin. Die ganze Adventszeit weg sein? In ihr sträubte sich alles.
Da hörte sie plötzlich in ihrem Innern eine liebevolle, feine Stimme: „Martha!“ Sie stutzte. Wer war das? Sie lebte allein, es war niemand sonst in der Wohnung. Wieder hörte sie die Stimme so real, als würde jemand neben ihr sitzen. „Ich kenne deine hektische Adventszeit, dicht bepackt mit vielen schönen und guten Dingen. In diesem Jahr möchte ich dir eine andere Art zeigen, Advent zu feiern: meinen Adventsweg. Lässt du dich darauf ein?“
Martha saß wie vom Blitz getroffen da. Das war keine Einbildung. Das war Jesus. Noch nie hatte sie ihn so klar reden hören. Aber was meinte er mit „meinen Adventsweg“? Was hatte das mit ihrer Situation zu tun?
Da hörte sie wieder die Stimme: „Du hast mir in all den Jahren im Advent viel geschenkt: deine Zeit, deinen Einsatz, deine Gaben. In diesem Jahr möchte ich dich beschenken. Nimmst du mein Geschenk an?“
Beschenken? Mit einem Burn-out? Ein feines Geschenk ist das!
Eine Woche später stand Martha mit ihrem Koffer vor dem Haus, in dem sie ihre Auszeit verbringen würde. Mit einem mulmigen Gefühl trat sie ein. Im Eingang sah sie eine Tafel. Darauf stand: „Herzlich willkommen! Advent heißt Ankunft. Schön, dass DU angekommen bist.“ Angekommen? Martha lachte bitter auf. Nein, sie war nicht angekommen. Ihr Körper war da, doch ihr Herz hing noch zu sehr an all dem, was sie so gerne getan hätte und zu Hause zurücklassen musste.
Am Abend ließ sie die Eindrücke des Tages nochmals an sich vorüberziehen: den Schmerz des Weggehens, den freundlichen Empfang, das Abendessen in Gemeinschaft, das schöne kleine Zimmer. Etwas widerwillig musste sie zugeben, dass sie sich hier wohlfühlte.
Vor dem Abendessen hatte der Leiter erklärt, dass sie im Raum der Stille für jede Adventswoche eine Station herrichten würden, die einlüde, sich von Gott ansprechen und beschenken zu lassen. Was das wohl bedeutete? Martha war gespannt.
Am ersten Advent ging sie erwartungsvoll in den Raum der Stille. Als sie eintrat, sah sie vor sich einen Vorhang. Vorsichtig zog sie ihn ein bisschen auf die Seite und stand vor einer Krippe. Martha war fast ein wenig enttäuscht. Die Krippe in der Adventszeit. Was sollte ihr das sagen? Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. Dann betrachtete sie die Krippe. Sie war leer, nur mit etwas Heu gefüllt, bereit für ihren weihnachtlichen Einsatz. Eigentlich sah sie hier fremd aus, sie gehörte eher in einen Stall, war doch nur ein Futtertrog für Tiere. Allerdings, im Stall war ein Baby fremd, das gehörte definitiv nicht dorthin. Und dann noch solch ein besonderes Baby wie Jesus! Was hatte sich Gott nur dabei gedacht, seinen Sohn in einen Futtertrog zu stecken?
„Für dich!“, flüsterte es in ihr.
Für mich?, dachte Martha irritiert. Was hat das denn mit meiner jetzigen Situation zu tun? Sie stellte sich diese Szene aus der Weihnachtsgeschichte vor: ein dunkler, stinkender Stall mit der Krippe in einer Ecke, und darin dieses besondere Baby, der Heiland der Welt. Er kam in unsere Dunkelheit und unseren Gestank.
Hm, auch in ihr war es im Moment dunkel und es „stank“ nach Auflehnung und Bitterkeit. Konnte es sein, dass Jesus da hineinkommen wollte? Dass er nicht nur bei ihr war, wenn es in ihr „geputzt“ und „aufgeräumt“ war, sondern auch in Zeiten wie jetzt, in denen es in ihrem Innern brodelte?
„Für dich!“, hörte sie wieder. Hatte Jesus den Himmel gerade für solche Zeiten verlassen? Wollte er ihr gerade jetzt nahe sein? Lange blieb Martha noch sitzen. Irgendwie tat es ihr gut, die Krippe anzuschauen. „Für dich!“ Diese zwei Worte wirkten wie Balsam in ihrer aufgewühlten Seele.
Am zweiten Advent versuchte Martha zu erraten, was wohl hinter dem Vorhang sein würde. Die Weisen? Nein, wahrscheinlich erst die Hirten. Oder Maria und Josef? Oder eine Herbergstür? Gespannt zog sie den Vorhang zur Seite – und erstarrte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie blickte auf ein Kreuz. Hatte sie sich in der Zeit geirrt? Das Kreuz gehörte doch zur Passion, nicht zum Advent. Irritiert stand sie da. Da hörte sie wieder in sich die Stimme: „Hast du letzte Woche nicht das Kreuz in der Krippe gesehen?“ Martha schaute sich um. Die Krippe stand im Hintergrund. Sie sah sie genau an. Tatsächlich, jeweils zwei Beine der Krippe bildeten ein Kreuz. Wies denn schon die Krippe auf das Kreuz hin – die Geburt auf den Tod?
Wieder hallten die zwei Worte in ihr nach: „Für dich!“ Das Leben von Jesus begann in einem Holztrog und in Dunkelheit – und es endete an einem Holzkreuz und in Dunkelheit. Konnte es sein, dass Jesus einem in der Dunkelheit am nächsten war? Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie seine Stimme zum ersten Mal gehört hatte. War es möglich, dass man diese Stimme am klarsten wahrnehmen konnte, wenn alle Aktivitäten ruhten, wenn es keine Worte mehr gab?
„Für dich!“ Jesus war für sie Mensch geworden und für sie gestorben. Dort am Kreuz hatte er Schmerz, Dunkelheit und Ohnmacht ausgehalten, für sie! Noch nie war ihr der Tod von Jesus so nahegekommen. Jesus kannte ihre Dunkelheit, ihre Ohnmacht, ihren Schmerz. Er hatte alles am Kreuz getragen. Martha musste sich setzen, sie war überwältigt davon, so tief verstanden zu sein.
Am dritten Advent versuchte Martha gar nicht erst zu erraten, was hinter dem Vorhang sein könnte. Sie war einfach nur gespannt. Lange stand sie da und genoss dieses Gefühl. Dann zog sie den Vorhang zur Seite. Eine Krone! Was hatte die nun wieder mit dem Adventsweg von Jesus zu tun? Wies sie auf den Besuch der Weisen hin? Nein, wohl eher auf Jesus selbst. Ein Weihnachtslied kam ihr in den Sinn: „Sieh, dein König kommt zu dir …“ Damit war das Baby in der Krippe gemeint. Oder wies die Krone auf die Wiederkunft von Jesus hin?
Ein Schatten trübte Marthas Freude. Wenn Jesus wiederkommt, würde er mit ihr zufrieden sein? Sie machte sich ja selbst oft nieder, wenn sie ihrer Meinung nach nicht gut genug gewesen war oder etwas nicht gut genug gemacht hatte. Und jetzt auch noch diese Auszeit, eine für sie verlorene Zeit, die sie irgendwie nachholen musste, um genügen zu können. Dachte Jesus wohl auch so?
Da hörte sie wieder die bekannte Stimme: „Für dich! Martha, ich bin für dich!“ Jesus kam nicht nur für sie – er war für sie! Hatte sie dann ein Recht, sich selbst zu verurteilen, wenn Jesus für sie war? Er war nicht nur das Kind in der Krippe, er ist der König aller Könige. Und dieser König ist für sie!
Martha setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Da war ihr, als würde eine Hand auf ihrer Schulter ruhen – die Hand ihres Königs. Sie drückte sie nicht nieder, war keine Last, im Gegenteil: Sie entlastete sie, weil mit einem Mal die Selbstanklagen und die Dunkelheit in ihr wichen und Friede sie erfüllte. Lange saß sie so da und ließ es einfach geschehen.
Der Morgen des vierten Advents war angebrochen. Marthas Auszeit näherte sich dem Ende. Was erwartete sie zu Hause? Sie fühlte sich besser, keine Frage, doch wie sollte es weitergehen? Mit diesen Fragen im Herzen betrat sie den Raum der Stille. Sie stand vor dem Vorhang und traute sich nicht, ihn zu öffnen. Sie hoffte so sehr, dort eine Antwort auf diese drängenden Fragen zu finden und hatte gleichzeitig Angst, enttäuscht zu werden.
Schließlich hielt sie die Spannung nicht mehr aus und öffnete den Vorhang. Dahinter stand ein bequemer Sessel, an dem ein Blatt mit vier Buchstaben hing: „Komm!“
Sollte das heißen, dass sie sich auf diesen Sessel setzen sollte? In Martha sträubte sich alles. Nein, auf solch einen Sessel gehörte doch Jesus, ihr König! Und sie würde alles daran setzen, ihn zu bedienen. Plötzlich spürte sie, wie der Leistungsdruck sie wieder einholen wollte.
Da hörte sie die Stimme in sich: „Martha, komm! Setz dich zu mir. Ich erwarte nichts von dir – ich erwarte dich!“ Setz dich zu mir! War das ihr Platz: bei Jesus sitzen, statt etwas für ihn zu leisten? Durfte sie das annehmen? Konnte sie das annehmen? In Martha kämpfte es. Sie ging einen Schritt auf den Sessel zu, dann wieder einen zurück. Sie starrte auf das Wort: „Komm!“ Ihr war, als würde Jesus ihr die Arme entgegenstrecken. In ihr sehnte sich alles danach, sich in diese offenen Arme fallen zu lassen – so wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war und in die Arme ihres Vaters rannte. Zögernd ging sie auf den Sessel zu und stand unschlüssig eine Weile davor. Dann setzte sie sich hinein – und weinte. Es tat so gut, weinen zu können. Die Anspannung in ihrem Innern ließ nach. Sie fühlte sich sicher und geborgen.
Wie sollte es weitergehen? Was erwartete sie zu Hause? Sie hatte keine Ahnung. Doch sie wusste auf einmal, wer sie erwartete: das Kind in der Krippe, der Heiland am Kreuz, der König aller Könige. Er erwartete nichts von ihr, er erwartete sie! Nun war sie angekommen.