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Das Vogelhäuschen

von Ursula Schröder

Von allen Geschenken, die Walter mir im Laufe unserer Ehe machte, habe ich mich über das Vogelhäuschen wohl am meisten gefreut. Dabei war es bestimmt nicht das kostspieligste, denn er hatte es auf dem Weihnachtsmarkt unserer Gemeinde gekauft. Aber er hatte offensichtlich gemerkt, dass es mir besonders gut gefallen hatte, und es deshalb zurücklegen lassen, ohne dass ich es mitkriegte. Umso mehr freute ich mich, als ich es Weihnachten unter dem Christbaum fand.

Jedes Jahr im Herbst hatte ich es seitdem auf der Terrasse aufgestellt und mich daran gefreut, wenn die Vögel sich dort regelmäßig ihre Körner abholten. »Ja, das passt zu dir«, sagte Walter dann lächelnd. »Du hältst hier tapfer die Stellung, während ich so ein Zugvogel bin.«

Ich hatte diesen Vergleich darauf bezogen, dass er Pilot war. Aber als nach seinem tödlichen Autounfall im Frühjahr die Wahrheit ans Licht kam, erfuhr ich, dass es viel schlimmer war. Jahrzehntelang hatte er ein Doppelleben geführt. Es gab in Hamburg eine andere Frau. Und eine mittlerweile erwachsene Tochter namens Viola, die mich gern kennenlernen möchte.

Seitdem liege ich mit Gott im Clinch. Ich will sie nicht treffen, schreie ich lautlos. Ich will gar nicht, dass es sie gibt! Ich will mein altes Leben zurück, mein ruhiges, unwissendes Leben mit dem Mann, dem ich vertraut habe! Ich will die Tochter nicht sehen, die er mit mir hätte haben sollen! Das kannst du mir doch nicht zumuten!

Aber Gott macht da nicht mit. Er nimmt mir diese Last nicht ab. In Form eines Gesprächs mit unserem Pastor redet er mir sogar zu: »Lass sie herkommen. Es ist besser, sie kennenzulernen. Du kannst doch nicht ignorieren, dass es sie gibt.« Und so stimme ich zu, weil mir die Argumente ausgehen.

Deshalb steht Viola eines tristen Novembertages im Hausflur. Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt, größer vielleicht, mit Walters blonden Haaren, aber sie scheint eher nach ihrer Mutter zu kommen, die ich nicht kenne.

»Danke, dass ich Sie besuchen darf«, sagt sie, und ich merke, dass sie genauso nervös ist wie ich.

Ich biete freundlich Tee und Kuchen an und versuche, das Gespräch auf einer Ebene zu führen, die ich aushalten kann. Wir reden über Hamburg und Violas Job als Grafikerin für eine Firma, die Geschenkartikel herstellt. Über die Fortbildung, für die sie gerade in der Gegend ist. Ich weiß nicht genau, mit welchen Erwartungen sie gekommen ist – vielleicht will sie einfach nur wissen, wer ich bin, vielleicht sagt sie aber später noch, ob sie ein spezielles Anliegen hat.

Irgendwann schweift ihr Blick nach draußen auf die Terrasse. »Ein Vogelhäuschen!«, ruft sie überrascht. »Wie schön! Ist das ein Rotkehlchen?«

»Das ist ein Dompfaff-Männchen«, erkläre ich ihr. »Nur er hat diese leuchtend rote Brust, das Weibchen ist viel dezenter.«

»Wie unfair!«, sagt sie lachend. »Und diese Gelben, die sogar kopfüber hängen können?«

»Das sind Kohlmeisen.«

»Wow«, murmelt sie. »Ich glaube, ich könnte hier stundenlang sitzen und einfach nur zusehen.«

Ich fühle, wie ich ein wenig entspannter werde. »Ich weiß, das hat so was Friedliches«, sage ich. »Aber eigentlich müsste ich das Häuschen mal generalüberholen, bevor es auseinanderfällt.«

»Ja, ich sehe es auch«, stimmt sie mir zu. »Vor allem am Dach müsste man etwas tun, und diese Sitzstange … Ich würde vor allem auch …« Sie bricht ab. »Entschuldigung, ich wollte mich nicht in irgendwas einmischen.«

»Das tun Sie nicht«, erwidere ich. »Ich überlege ja selbst, was ich damit machen soll.«

Sie zögert, bevor sie ihren Vorschlag macht. »Mein Kurs hört immer um halb fünf auf. Wenn Sie mögen, komme ich morgen wieder und helfe Ihnen.«

»Das wäre schön«, sage ich zu meiner eigenen Überraschung.

Viola scheint eine praktisch begabte junge Frau zu sein. Bevor sie geht, inspiziert sie Walters Werkstatt im Keller, und als sie am nächsten Tag wiederkommt, hat sie im Baumarkt all das besorgt, was ich nicht vorrätig habe. Ich bin etwas überrascht, als ich die unterschiedlichen Farbtöpfe sehe.

»Ich weiß, das war nicht abgesprochen«, entschuldigt sie sich. »Aber ich fände es so schade, das Ding einfach nur braun zu streichen. Viel zu langweilig.«

Zunächst reparieren wir aber mal die Schadstellen. Oder besser gesagt, sie repariert und ich leiste Handlangerdienste. Sie ist wirklich geschickt, wir haben das Vogelhäuschen rasch wieder wetterfest gemacht. Jetzt geht es ums Streichen.

Viola zieht einen Zettel aus der Tasche. »Ich hab mal ein paar Skizzen gemacht«, sagt sie verlegen und reicht ihn mir.

Ich reiße überrascht die Augen auf. Hier ist das Ende von langweilig. Da gibt es ein grünes Haus mit weißen Sprechblasen, in denen bunte Vögel Musiknoten trällern. Ein rosa Haus ist dekoriert mit Federn und dem Schild »Piep-Show«. Dunkles Grau bildet den Hintergrund für viele Spiegeleier in Gelb und Weiß …

»Ich glaube, das ist mein Favorit«, sage ich und zeige auf das weiße Häuschen mit dem blauen Dach und den vielen bunten Pünktchen.

»Dann legen wir mal los«, lacht sie und stellt sich die passenden Farben zurecht.

Während Viola die Grundierung aufträgt, gehe ich in die Küche und bereite unser Abendessen vor. Kochen ist mir in letzter Zeit schwergefallen; ich mag es lieber, wenn noch jemand mitisst. Und essen kann das Mädchen! Zum Schluss sind alle Schüsseln leer.

Jetzt dreht sie etwas nachdenklich an ihrem Glas. »Ich wollte Sie eigentlich was fragen.«

»Ich glaube, wenn man schon zusammen gearbeitet und gegessen hat, ist es Zeit, sich zu duzen«, sage ich. »Ich bin Sabine, wenn es dir recht ist.«

»Das ist mir sehr recht«, antwortet sie. »Weißt du, als ich gestern herfuhr, hatte ich richtig Angst, wie das werden würde. Ob du nicht total wütend bist auf mich.« Immer noch konzentriert sich ihr Blick auf ihr Glas.

»Ich hatte auch Angst«, gestehe ich. »Aber ich kann doch nicht wütend auf dich sein. Du kannst ja gar nichts für das, was passiert ist. War das deine Frage?«

»Gewissermaßen, ja«, murmelt sie. »Ich versuche mir vorzustellen, wie ich an deiner Stelle reagiert hätte. Ich glaube, ich würde alles kaputt schlagen wollen.«

»Ja, das Gefühl kenne ich«, gebe ich zu. »Und mein Pastor kennt es auch von mir. Er musste sich schon viel anhören in dieser Hinsicht.«

»Dein Pastor?«, wiederholt sie. »Du gehst also zur Kirche? Glaubst du an Gott?«

Ich nicke. »Ja, das tue ich. Auch wenn wir es in letzter Zeit nicht immer leicht miteinander hatten, Gott und ich.«

Sie runzelt verständnislos die Stirn. »Gott und du? Das klingt ja fast wie eine menschliche Beziehung.«

»Es ist eine persönliche Beziehung, ja.« Ich setze innerlich ein Stoßgebet ab, das lautet: Hilf mir, das verständlich rüberzubringen. »Ich bin überzeugt davon, dass Gott mich hört und auf meine Gebete reagiert.«

»Das glaubst du? Obwohl dir dein Gott so übel mitgespielt hat? Erst verunglückt dein Mann, und dann erfährst du, dass er dich jahrelang betrogen hat? Dass es mich gibt, während du mit ihm keine Kinder hattest?«

»Das hat ja nicht Gott getan«, entgegne ich.

»Aber er hat es auch nicht verhindert!«, ruft sie aus. »Was ist das für ein Gott? Wie kannst du an den glauben? Ich finde das immer so verlogen, gerade jetzt, wo es bald wieder Weihnachten wird. Dafür zeichne ich süße Karten mit Engeln und Sternen und Babys in Krippen. Und dann denke ich an meine Weihnachtstage. Mein Papa war nie da. Angeblich musste er immer gerade nach Kanada oder Australien fliegen. Aber in Wahrheit war er bei dir, oder?«

»Meistens, ja.« Ich erinnere mich an viele Jahre gemeinsam verbrachter Festtage. Natürlich hatten wir einen Weihnachtsbaum und reichlich adventliche Dekoration. Was fehlte, war das Kinderlachen, die bunten Packungen mit Lego oder einem Puppenhaus, die mit schiefer Stimme gesungenen Weihnachtslieder. Aber das will sie jetzt bestimmt nicht von mir hören.

»Und ich war so neidisch auf dieses Jesuskind«, fährt sie fort. »Das hatte gleich zwei Väter, einen im Himmel und einen vor Ort. Und dazu noch eine Riesenparty mit Engeln und Hirten und Königen, die Geschenke bringen. Dieses emotionale Superfest einschließlich Weihnachtsplätzchen und Weihnachtsschmuck und Weihnachtsliedern. Irgendwann fand ich das alles nur noch unglaubwürdig, und jetzt verdiene ich mein Geld damit, obwohl es mir nichts mehr bedeutet.« Sie hält inne und sieht mich bestürzt an. »Tut mir leid, Sabine, ich wollte dich damit nicht … ich meine, du siehst das alles bestimmt anders.«

»Schon gut«, sage ich beruhigend. »Das ist auch für mich nicht das, worum es an Weihnachten geht. Aber schau, wenn man dieses ganze Beiwerk abzieht, dann bleibt immer noch dieses Kind, Gottes Sohn, der als Mensch zur Welt kommt. Dem nichts Menschliches fremd ist, keine Enttäuschung, kein Betrug, kein Schmerz – und der trotzdem auch Gott ist, der Wunder tut, dem nichts unmöglich ist. Dem kann ich mich anvertrauen, gerade wenn es mir schlecht geht.«

Violas Augen sind groß und dunkel. »Na, das ist doch mal eine andere Aussage als auf unseren Postkarten. Auch wenn ich dazu ja noch einige Fragen hätte.«

»Ich weiß nicht, ob ich die alle beantworten kann, aber du kannst sie mir gern stellen.«

Mit dem Vogelhäuschen kommen wir heute nicht mehr weiter. Ich koche noch eine Kanne Tee und öffne eine Packung Kekse, die wir nach und nach essen, während wir am Küchentisch sitzen und bis nach Mitternacht reden. Dann leihe ich ihr ein Nachthemd und lasse sie in meinem Gästezimmer übernachten, damit sie nicht so spät noch in ihr Hotel fahren muss.

Viola scheint früh aufgewacht zu sein, denn als ich am nächsten Morgen etwas verschlafen in die Küche schlurfe, hat sie sich bereits einen Kaffee gemacht. Sie muss pünktlich los, um zu ihrem Kurs nicht zu spät zu kommen, aber vorher nimmt sie mich noch mit in den Keller.

Jetzt stelle ich fest, dass sie noch früher aufgestanden sein muss, als ich dachte. Denn das Vogelhäuschen ist fertig. Mit viel Liebe zum Detail hat sie kleine Fenster mit blauen Rahmen auf die Seitenwände gemalt und ein Tulpenbeet an die Unterkante. Das Dach hat viele einzelne blaue Schindeln, und statt der pastellfarbenen Tupfen von ihrer Vorlage hat sie winzig kleine Herzen auf die Flächen gesetzt.

»Lass es noch einen Tag trocknen, bevor du es nach draußen stellst«, rät sie mir.

Ich könnte heulen, so schön ist es geworden. »Eigentlich ist es viel zu schade für den täglichen Einsatz«, sage ich. »Die Vögel wissen das bestimmt nicht zu schätzen.«

»Hauptsache, dir gefällt es«, erwidert sie.

»Es wird mich immer an unser Gespräch erinnern. Es war schön, dass du da warst.«

»Fand ich auch.« Viola scharrt ein wenig verlegen mit dem Fuß. »Danke für alles, was du mir gesagt hast. Und … vielleicht redest du auch mal mit Gott über mich?«

»Ganz bestimmt tue ich das«, verspreche ich, und dann fallen wir uns spontan um den Hals. Ich wünschte, sie könnte noch bleiben. Aber das kann man ja auch anders lösen. »Sag mal … hast du Weihnachten schon was vor?«

»Nicht so wirklich«, sagt sie. »Meine Mutter ist ja inzwischen Buddhistin, die feiert das nicht.«

»Hättest du Lust, wieder herzukommen und mit mir zu feiern?«

Jetzt geht ein Strahlen über ihr Gesicht. »Das würde ich gern tun, Sabine.«

»Dann haben wir eine Verabredung!« Ich begleite sie bis zur Tür und winke ihr nach.

Den ganzen Tag fühle ich eine solche Leichtigkeit wie schon lange nicht mehr. Auch am nächsten Tag hält sie an, vor allem, als ich das Vogelhäuschen wieder auf die Terrasse bringe. Die Vögel brauchen eine Weile, um es anzunehmen – vielleicht riecht es noch zu sehr nach Farbe. Aber das ist egal. Ich sitze trotzdem in meinem Sessel und schaue es mit Dankbarkeit an.

Jetzt freue ich mich auf Weihnachten. Auch wenn Gott mir mein Geschenk schon vorher gemacht hat. Oder vielleicht gerade deshalb.

Gnade zieht ein

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