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Primeln im Dezember

von Iris Voß

Der Tag fängt nicht gut an für Carla. Zuerst verschläft sie. Ihr Handy hat sie einfach nicht geweckt. Oder hat sie nach dem ersten Wecken, statt die Schlummerfunktion zu aktivieren, ihren Wecker komplett ausgeschaltet? Wie auch immer. Dann brennt beim Einschalten der kleinen Lampe neben ihrem Bett die Glühbirne durch und die Sicherung fliegt mit lautem Knall raus. Während sie nur mit dem Licht ihres Handy-Displays überstürzt das dunkle Schlafzimmer verlässt, stößt sie sich prompt noch den Zeh am Türrahmen. Schreiend und humpelnd tapst sie durch die Dunkelheit des Flurs zum Sicherungskasten und fegt dabei irgendwas von der Kommode, das mit einem Klirren auf dem Boden aufschlägt.

Ach, das war’s dann wohl mit dem schönen Keramikengel, der mir jedes Jahr in der Adventszeit wenigstens ein bisschen weihnachtliche Stimmung beschert, stellt sie frustriert fest, als das Licht endlich an ist. Als sie die Scherben aufhebt und sich dabei in den Finger schneidet, könnte sie schon wieder losschreien. Was läuft hier eigentlich heute verkehrt?

Immerhin gut, dass Carla im Homeoffice arbeitet und jetzt nicht noch eine nervige Autofahrt durch den Berufsverkehr zum Büro vor sich hat. Aber gleich beginnt eine wichtige Videobesprechung mit einigen Kollegen und ihrem Vorgesetzten, und dazu sollte sie unbedingt pünktlich vor dem Computer sitzen. Es geht um ein neues Werbekonzept für einen Kunden, das ihrer Firma angeblich viel Geld einbringen soll. Bleibt also gerade noch Zeit, sich einen Kaffee zu kochen, was zum Anziehen zu suchen und – um sich wenigstens ein bisschen den Anschein von Frische zu geben – mal eben schnell die Zähne zu putzen.

Während sie vor ihrem Kleiderschrank hockt, wühlt sie mit beiden Händen in einem großen Berg von Klamotten nach einem passenden Oberteil.

Sie findet ein schwarzes T-Shirt, das noch einigermaßen gut und nur ein bisschen zerknittert aussieht, und tauscht es gegen das Oberteil ihres Schlafanzuges aus. Das muss reichen. Ein Vorteil, wenn man seinen Arbeitsplatz zu Hause und zu den Kollegen nur noch über den Computer-Bildschirm Kontakt hat, ist ja, dass man nur vom Hals bis zum Bauchnabel korrekt gekleidet sein muss. Alles andere bleibt dem Gegenüber verborgen.

Nun putzt sie im Bad noch schnell die Zähne. Dabei fällt ihr Blick auf einen Kalender mit witzigen Sprüchen, den ihr eine Freundin mit den Worten geschenkt hat: »Das ist genau dein Kalender! Trifft immer die Ironie des Lebens.« Die Lebensweisheit für diese Woche lautet: Und während du beim Zähneputzen noch denkst: »Heute wird mein Tag«, hat dir der Zahnpastavogel schon aufs T-Shirt geschissen.

»Nee«, murmelt Carla mit der Zahnbürste im Mund vor sich hin, »ich denke heute ganz sicher nicht: ›Das wird mein Tag.‹ Der Zahnpastavogel kann sich also ruhig ver…«

Da ist es aber schon zu spät: Ein dicker weißer Fleck ziert ihr schwarzes T-Shirt. Notdürftig wischt sie ihn mit einem Handtuch weg, was die Sache nicht unbedingt besser macht, hetzt schimpfend in die Küche, zieht die volle Kaffeetasse mit Schwung aus der Maschine heraus und schwappt dabei die Hälfte des Inhalts auf den Fußboden. Die Krümel, die seit Tagen auf den Fliesen liegen, nehmen zumindest einen kleinen Teil des Kaffees dankbar auf, der Rest tritt sich sicherlich fest … Nein, heute ist wirklich nicht ihr Tag!

In letzter Minute sitzt Carla, mit den Nerven schon halbwegs am Ende, an ihrem Schreibtisch vor dem Laptop. Sie ist die Letzte, die sich zur Besprechung anmeldet. »Nette Frisur heute Morgen. Gibt es die auch in gekämmt?«, begrüßt sie direkt einer ihrer Kollegen am Bildschirm. Und ihre Kollegin fragt süffisant hinterher: »Was ist das für ein schickes Abzeichen auf deinem T-Shirt? Machst du Werbung für die Quark-Industrie?«

Sehr witzig!, denkt Carla. Heute allesamt mit Peter Lustig geduscht?

»Das trägt man jetzt so in Hollywood. Diese Kombi ist der neueste Schrei«, brummt sie. So was braucht sie jetzt wirklich nicht auch noch!

Die Besprechung ist mühsam und frustrierend. Carla macht mehrere Vorschläge, die aber allesamt ohne Diskussion abgeschmettert werden. Wenn sie versucht, ihre Argumente einzubringen, wird sie von irgendjemandem rücksichtslos unterbrochen, ohne dass ihr Chef das wahrnimmt oder anmahnt.

Als sie darauf besteht, bei der Erstellung des neuen Konzeptes ehrlich und transparent zu arbeiten und dem Kunden nicht ein Angebot vorzulegen, das ihn eigentlich über den Tisch zieht, lacht sie einer der Kollegen aus: »Mädel, auf was für einem Stern lebst du eigentlich? Wenn du hier was werden willst, musst du hart sein. Nur ›frech‹ kommt weiter! So ist das Leben nun mal.«

Drei Stunden, fünf Tassen Kaffee und zwei pappsüße Müsliriegel später klappt Carla ihren Laptop zu. Sie fühlt sich erschöpft. Frustriert und genervt schaut sie aus dem Fenster. Kein Schnee draußen. Es ist Mitte Dezember, aber seit fast zwei Wochen steigen die Temperaturen tagsüber auf 11 bis 12 Grad. So ein typisch mitteldeutsches Frühlingswetter im Winter, von dem die Meteorologen sagen, es sei »zu warm für die Jahreszeit«. Bald ist Weihnachten, aber nichts fühlt sich in ihr nach Advent und Weihnachtsfreude an.

Obwohl Carla heute noch viel zu tun hat, beschließt sie, erst mal eine Runde zu joggen. Sie braucht jetzt was, um ihren verstörten Kopf wieder einigermaßen freizubekommen, und Laufen hat ihr schon oft geholfen.

Das zahnpastabekleckerte T-Shirt pfeffert sie in Richtung Wäschekorb, ohne ihn auch nur annähernd zu treffen. Sie schlüpft in ihre Sportklamotten und die Laufschuhe und verlässt das Haus.

Draußen schlägt ihr milde Luft entgegen. Eigentlich ist das ein perfektes Joggingwetter. Sonst mag sie es, aber heute geht es Carla auf die Nerven. Es fühlt sich falsch an: Warum kann es nicht einfach mal im Winter kalt sein, so wie sich das gehört? Schnee und Frost würden ihrem erhitzten Gemüt jetzt eher entgegenkommen.

Und dann sieht sie die Primeln im Vorgarten vor ihrem Mietshaus. In Rot und Gelb und Blau stehen sie da und strahlen um die Wette, als hätten sie gerade das Ticket zur Bundesgartenschau gewonnen.

Willkommen im falschen Film!, geht es ihr durch den Kopf. Und jetzt packt Carla mit einem Mal eine unbändige Wut. Wut über ihr Handy, das sie nicht geweckt hat, Wut über die dummen Bemerkungen zu ihrer Frisur und dem T-Shirt, über die frustrierende Besprechung und – ja, Wut über diese blöden Primeln, die hier stehen und sie angrinsen, als sei das ganze Leben schön.

»Was macht ihr hier mitten im Dezember?«, blökt sie die Blumen an. »Ihr dürft überhaupt nicht hier sein! Nicht jetzt! Um diese Jahreszeit! Was ist das nur für eine verkehrte Welt? Alles hier ist gerade verkehrt!«

Zornig läuft Carla los. Wie von selbst finden ihre Füße den Weg in den Wald zu ihrer gewohnten Joggingrunde. Dabei wirbeln die Gedanken nur so durch ihren Kopf:

Warum landet weiße Zahnpasta immer auf schwarzen Oberteilen? Warum ist es immer gerade dann dunkel, wenn man Licht braucht? Warum setzen sich die rücksichtslosen, frechen Typen immer durch? Warum kriegt man eins auf den Deckel, wenn man ehrlich ist? Warum ist das Leben so ungerecht? Warum steht die Welt manchmal einfach nur kopf? Warum blühen Primeln schon im Dezember? Warum bist du so wütend, Carla? Was ist los mit dir? Was stimmt hier nicht?

Das Elend der ganzen Welt bricht über sie herein.

Plötzlich muss Carla an den Vorgarten ihrer Oma denken. Dort blühen im Frühling immer ganz viele Primeln. Ausgerechnet Primeln!, denkt sie. Dann kommt ihr auch ihre Oma selbst in den Sinn. Oma Resi hatte nie ein einfaches Leben, bis heute nicht. Sie musste viel Leid und Entbehrungen aushalten. Als Kind hat sie früh ihre Eltern verloren, dann hat sie ihr Leben lang immer zu wenig Geld gehabt, weil Opa alles versoffen und verspielt hat. Viele Jahre war sie den Schikanen ihres bösartigen Schwiegervaters ausgesetzt. Und ihre Witwenrente reicht gerade so zum Leben.

Doch trotz allem war sie immer – und ist es noch heute – eine fröhliche Frau, die Zuversicht, Hoffnung und inneren Frieden ausstrahlt. Sie hat oft von ihrem Glauben an Gott erzählt. Der habe sie immer getragen und gehalten, hat sie gesagt.

Während Carla vor sich hin läuft, erinnert sie sich plötzlich wieder an so viele Gespräche mit ihrer Oma. Als Carla noch ein Kind war, hat Oma Resi ihr einen Gott vor Augen gemalt, der die Menschen unendlich liebt. Der darunter leidet, dass sie sich von ihm abwenden. Der als größten Beweis seiner Liebe durch die Geburt von Jesus selbst auf die Erde gekommen ist, um den Menschen nah zu sein.

Sie erinnert sich an einen Gott, den Oma als liebenden Vater beschrieben hat, der sein Leben mit ihr teilen möchte. Carlas eigener Vater hatte nie Zeit für sie, war oft ungerecht und jähzornig und hat später sogar seine Familie im Stich gelassen. Damals fand Carla echten Trost in den Geschichten ihrer Kinderbibel, die sie mit ihrer Oma gelesen hat. Sie hatte wirklich das Gefühl, da war ein Gott, der sie versteht.

Aber später, als Carla in ihrer pubertären Rebellions- und Zweifelphase war und alles hinterfragt hat, hat sie ihrer Großmutter manchmal vorgeworfen, wie man bei all dem Leid in der Welt immer noch an Gott glauben kann und warum sie an einem Gott festhält, der ihr selbst so viel Schmerz und Not zumutet. Carla selbst war verletzt und enttäuscht von ihrem Vater, der einfach abgehauen war. Enttäuscht auch von manchen Lehrern, die Carla aufgegeben haben, nachdem sie nach der unschönen Trennung ihrer Eltern in der Schule den Anschluss verpasst hatte und aufmüpfig geworden war. Und sie war enttäuscht von Gott. Wo war denn dieser Gott, als ihre Welt auf den Kopf gestellt wurde?

Doch auch in dieser Zeit hat Oma Resi Carla ernst genommen, sie liebevoll angeschaut und gesagt: »Weißt du, mein Kind, Jesus kam in den Dreck dieser Welt, dahin, wo Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit waren. Ja, in unserer Welt ist vieles verkehrt. Da regiert die Ungerechtigkeit. Menschen machen einem das Leben schwer und tun uns weh. Und immer wieder gibt es Zeiten, in denen alles dunkel erscheint. Aber in genau diese Welt ist Jesus gekommen. Nicht, um alle Ungerechtigkeit mit einem Mal zu beseitigen. Aber um ein Licht hineinzubringen. Jesus hat von sich gesagt: ›Ich bin das Licht für die Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht mehr im Dunkeln tappen, sondern wird das Licht haben. Und damit auch das Leben.‹

Und nicht nur das. Als Jesus auf der Erde war, hat man auch ihm übel mitgespielt. Man hat ihn ungerecht behandelt, man hat ihn ausgelacht, geschlagen und sogar getötet. Aber Jesus ist auferstanden. Er lebt. Und das zeigt mir: Das Böse und das Ungerechte in dieser Welt haben nicht das letzte Wort. Am Ende wird Gottes Gerechtigkeit siegen. Und bis dahin steht mir Jesus auch in diesem Leben zur Seite. Er weiß, wie es sich anfühlt, im Dunkeln zu sein. Er kann mir Kraft geben und hat es auch immer wieder getan. Das nenne ich mal eine ›verkehrte Welt‹. Eine Welt, die Gott selbst umgedreht hat: Wo es Leben im Angesicht des Todes gibt. Licht in der Dunkelheit. Hoffnung auch in schwierigen Zeiten. Warum sollte ich mich diesem Gott, dem nichts Menschliches fremd ist und der mir in Jesus zur Seite steht, nicht anvertrauen können?«

All das geht Carla jetzt durch den Kopf. Überraschend klar erinnert sie sich an die Worte ihrer Oma, als würde sie direkt neben ihr herlaufen und jetzt mit ihr reden. Mit jedem neuen Kilometer, den Carla zurücklegt, spürt sie, wie die Wut und Verzweiflung in ihr nachlassen und sich Frieden in ihr Herz legt. Ja, wenn ihre eigene Oma ihr vorlebt, was es heißt, das Leben mit Jesus an der Seite zu meistern, dann besteht doch auch für Carla noch Hoffnung.

Außer Puste, aber auch befreit, kommt sie zurück zu ihrem Haus. Bei den Primeln bleibt sie stehen. Und da ist es ihr, als würde sie in den bunten Blüten ein Lächeln von Gott sehen. Ja, es gibt Hoffnung in dieser verkehrten Welt. Für diese verkehrte Welt. Weihnachten erinnert uns daran. Und Primeln im Dezember passen eigentlich ausgezeichnet dazu!

Gnade zieht ein

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