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Johannas Engel

von Anneli Klipphahn

Rasch springt die siebenjährige Johanna aus dem Bett und zieht sich an. Dabei singt sie vergnügt vor sich hin. »Ab morgen ist Adve-hent. Heute wird geschmü-hückt.«

Da öffnet sich die Tür und Papa kommt herein. »Oh, du bist ja schon auf. Und so fröhlich am frühen Morgen?«

»Na klar.« Johanna klatscht in die Hände. »Heute ist doch unser Schmücke-Tag.«

Papa lacht. »Schmücke-Tag klingt gut.«

»Na ja, eigentlich müsste es Advents-schmücke-Tag heißen. Aber das ist ein zu langes Wort.« Nachdem Johanna ihre Hausschuhe angezogen hat, geht sie auf Papa zu und schaut ihn an wie eine strenge Lehrerin. »Hast du denn schon die Kisten mit dem Adventsschmuck vom Dachboden geholt? Das ist deine Aufgabe!«

»Nicht so hastig, junge Dame.« Papa zwinkert ihr zu. »Zuerst gibt es Frühstück.«

Johanna klatscht erneut in die Hände. »Und dann holst du die Kisten und ich helfe Mama beim Schmücken. So, wie jedes Jahr.«

»Ja, ihr beide macht das immer richtig gut. Und ich lasse mich dann überraschen, wenn alles fertig ist.«

Endlich ist es so weit. Voller Freude öffnet Johanna den Deckel eines kleinen Kartons. »Oh, da ist ja das Räucherhaus!«, jubelt sie. »Können wir gleich mal ein Räucherkerzchen anzünden? Ich liebe es, wenn der duftende Rauch aus dem Schornstein steigt.«

Mama schüttelt den Kopf. »Das machen wir morgen.«

»Schade«, seufzt Johanna und stellt das Häuschen auf den Tisch.

Währenddessen holt Mama die nächste Schachtel hervor. Sie ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton, sieht aber viel schöner aus, weil sie mit Goldpapier beklebt ist. Mama betrachtet sie von allen Seiten und murmelt: »Was mag nur hier drin sein? Hier steht ja gar nichts drauf.«

Neugierig springt Johanna an ihre Seite. »Warum muss auf jeder Schachtel etwas draufstehen? Ich finde es viel spannender, etwas auszupacken, was nicht beschriftet ist.«

»Du hast recht. Wenn nichts draufsteht, ist das Auspacken eine noch größere Überraschung.« Mama schaut auf. »Trotzdem beschrifte ich die Verpackungen immer. Dann weiß ich, welcher Gegenstand da genau hineingehört. Und wenn Weihnachten vorbei ist, kann ich dann alles wieder gut und schnell verstauen.« Mit gerunzelter Stirn deutet sie auf die kleine Kiste mit dem Goldpapier. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich das hier nicht getan habe.«

Johanna tritt von einem Bein auf das andere. »Nun mach sie doch einfach auf! Ich bin schon total gespannt, was da drin ist!«

Endlich öffnet die Mutter den Deckel.

»Oh! Das ist ja meine Holzfigur!«, ruft Johanna. »Der Engel, der wie ein großer, starker Mann aussieht. Den habe ich letztes Jahr von Frau Blume bekommen.«

Mama nickt. »Stimmt. Und ich habe vergessen, die Schachtel zu beschriften.«

Vorsichtig nimmt Johanna den geschnitzten Engel in die Hand. »Er ist so schön. Schade, dass Frau Blume nicht mehr hier im Haus wohnt.«

»Ja, das ist schade«, antwortet die Mutter. »Frau Blume ist schon alt und kommt deswegen leider nicht mehr gut allein zurecht. Aber …«, nachdenklich schaut sie zur Uhr, »… wir könnten sie am Nachmittag im Seniorenheim besuchen.«

»Oh ja, das machen wir!« Sachte streicht Johanna über ihren Engel. »Dann kann ich Frau Blume noch einmal sagen, wie sehr ich mich darüber freue!« Sie stellt den Engel ab und blickt Mama fragend an. »Am liebsten würde ich Frau Blume auch etwas schenken. Aber was?«

»Vielleicht magst du ihr ein Bild malen?«, schlägt Mama vor. »Darüber freut sie sich bestimmt.«

»Klar«, lacht Johanna. »Ich werde einen Engel malen.«

Während die Mutter nach dem Mittagessen die Küche aufräumt, fängt Johanna an zu malen. Später packt Mama noch einige Weihnachtsplätzchen ein und dann machen sie sich auf den Weg.

Als sie das Seniorenheim betreten, hat Johanna ein komisches Gefühl im Bauch. Der lange Gang mit den vielen Türen erinnert sie an ein Krankenhaus. Eine Frau im Rollstuhl wird über den Flur geschoben. Durch eine offene Zimmertür erhascht Johanna einen Blick auf einen alten Mann, der im Bett liegt.

Eine Pflegerin zeigt ihnen das Zimmer von Frau Blume. Mit klopfendem Herzen geht Johanna hinter Mama durch die Tür. Frau Blume sitzt in einem Sessel und lächelt. Sie freut sich über den Besuch und lobt Johannas Bild: »So ein schöner Engel! Das Bild werde ich mir an die Wand hängen.«

Während Mama sich mit Frau Blume unterhält, schaut Johanna sich im Zimmer um. Nach einer Weile fragt sie: »Sind Sie gar nicht traurig, dass Sie Ihre schöne Wohnung verlassen mussten?«

»Nun, es fiel mir nicht leicht, aus meinem Zuhause auszuziehen. Immerhin habe ich sehr lange dort gewohnt«, antwortet die alte Frau. »Aber es ging nicht anders.«

»Sehr viel passt aber nicht in dieses Zimmer! Ihre Wohnung war doch viel größer!«

Mama wirft Johanna einen mahnenden Blick zu.

»Lassen Sie nur.« Frau Blume lächelt. »Es ist gut, wenn Kinder Fragen stellen. Sie sprechen oft aus, was auch die Erwachsenen denken.« Dann wendet sie sich an Johanna. »Es ist wahr, meine Wohnung war viel größer. Ich hatte viele Möbel, und die Schränke waren vollgestopft mit allerlei Kram. Was sich eben so ansammelt über die Jahre. Ich habe mein Zuhause geliebt, hatte ich doch viele schöne Jahre mit meinem Mann dort verbracht. Nach dem Tod meines Mannes konnte ich mich nicht von dieser Wohnung trennen. Doch als mir klar wurde, dass ich mit der großen Wohnung bald nicht mehr allein zurechtkommen würde, habe ich mich für dieses Seniorenheim entschieden. Ich habe genau überlegt und mir dann eine Liste von den Dingen angelegt, die mir am wichtigsten sind, die ich unbedingt mitnehmen wollte. Vieles, was ich besaß, brauchte ich nicht mehr. Also habe ich angefangen, auszusortieren. Etliches musste ich wegwerfen, aber es gab auch viele Sachen, mit denen ich anderen Menschen eine Freude bereiten konnte.«

»Mir haben Sie auch etwas geschenkt.« Johanna strahlt die alte Frau an. »Den schönen Engel.«

Frau Blume nickt mehrmals. »Ja, den Engel hat mir mal ein guter Freund geschnitzt. Heutzutage stellen sich viele Leute so kleine, niedliche Engel hin. Aber dieser Engel ist nicht so ein liebliches Figürchen. Er ist etwas Besonderes.«

»Ja.« Johanna blickt sie mit großen Augen an. »Er sieht aus wie ein Mann. Und er hat kein aufgemaltes Gesicht.«

»Weil niemand weiß, wie die Engel wirklich aussehen«, erklärt Frau Blume. »Weißt du noch, was ich gesagt habe, als ich dir den Engel geschenkt habe?«

»Ja.« Johanna hebt den Finger, als wolle sie sich melden. »Engel sind Boten Gottes. Wenn sie erscheinen, dann erschrecken die Menschen. Manchmal schickt Gott die Engel aber auch, um uns zu beschützen.«

»Das hast du dir aber gut gemerkt«, lobt die alte Frau.

Johanna schaut sich wieder um. »Sie haben gesagt, Sie haben das Wichtigste mitgenommen. Ich wundere mich, dass Sie mir den Engel geschenkt haben. Der ist doch wichtig, oder? Einen anderen Engel haben Sie auch nicht hier stehen.«

Frau Blume deutet auf ihre Bibel. »Das ist das Wichtigste, was ich habe. Es ist Gottes Wort. Die Bibel hilft mir, Gott immer besser kennenzulernen und zu verstehen, was gut für mein Leben ist.«

»Ich habe auch eine Kinderbibel«, sagt Johanna. »Und abends erzählen Mama oder Papa mir immer eine Geschichte von Gott oder Jesus.«

»Das ist schön.« Die alte Dame streicht Johanna über den Kopf. »Dann weißt du sicher auch, dass Jesus immer bei dir ist. Mich hat er mein Leben lang begleitet, in guten und in schweren Tagen. Darüber bin ich sehr froh. Er wird immer an meiner Seite sein, egal, was passiert.«

»Ah, ich verstehe.« Nachdenklich fasst Johanna sich ans Kinn. »Jesus lebt, aber der geschnitzte Engel ist nur eine Figur.«

»Genau so ist es. Doch leider glauben viele Menschen, eine solche Figur könne sie vor irgendetwas beschützen. Dabei vergessen sie Gott, der die Engel ja geschaffen hat.« Lächelnd nimmt Frau Blume Johannas Zeichnung in die Hand. »Eine Engelsfigur kann uns an die echten Engel erinnern, die im Auftrag Gottes unterwegs sind. Aber sie besitzt keine magischen Kräfte.«

»Das werde ich mir merken.« Johanna tippt sich an die Stirn. »Trotzdem gefällt mir der geschnitzte Engel richtig, richtig gut!«

»Das freut mich. Bei mir hat er lange genug in der Stube gestanden, ich brauche ihn nicht mehr. Und außerdem …«, Frau Blume zwinkert Johanna zu, »… außerdem hast du mir ja nun einen Engel gemalt. Und eines Tages, wenn ich gestorben und bei Gott bin, werde ich wissen, wie die Engel wirklich aussehen. Darauf bin ich gespannt.«

»Ich habe eine Idee, Mama!«, ruft Johanna auf dem Heimweg. »Ich lasse meinen Engel das ganze Jahr über stehen. Dann kann er uns immer an Gott erinnern.«

»Oh ja, das machen wir!« Mama drückt Johannas Hand. »Engel sind Gottes Boten, sie sind immer da. Aber jetzt freuen wir uns erst einmal auf Weihnachten. In der Weihnachtsgeschichte kommen sehr viele Engel vor. Der Engel Gabriel hat Maria die Geburt von Gottes Sohn angekündigt. Auch Josef bekam Besuch von einem Engel.«

Johanna fährt fort: »Und dann haben die Engel die armen Hirten besucht. Sie haben ihnen gesagt, dass Jesus geboren ist. Und dann haben sie gesungen. Ganz viele Engel waren das! Das weiß ich, weil ich beim Krippenspiel im Engelchor mitsinge!«

»Darauf freue ich mich, mein kleiner Engel.« Mama lächelt. »Weißt du eigentlich, dass Menschen auch Engel für andere sein können?«

»Klar, weiß ich das!« Johanna kichert. »Auch, wenn sie runzelige Haut haben und nicht mehr gut laufen können. So einen Engel haben wir nämlich gerade besucht. Frau Blume ist ein Engel. Weil sie so schöne Sachen verschenkt.«

Mama ergänzt: »Und weil sie anderen von Jesus erzählt. Und von den Engeln.«

Gnade zieht ein

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