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Die „Neue Stadt” Das Konzept
ОглавлениеGroßbritannien hat die Weichen für die Industrialisierung und die Verstädterung gestellt; in Großbritannien waren die negativen Auswirkungen beider Prozesse am stärksten; in Großbritannien wurde daher auch zuerst nach einer Abhilfe gesucht und diese schließlich im Konzept der „Neuen Stadt“ von Ebenezer Howard (1902) gefunden. In Vorwegnahme von Ideen des sozialen Wohlfahrtsstaats gelang es, einen neuen Stadttyp zu schaffen, der sich in nahezu allen wichtigen Merkmalen von den älteren Stadttypen abhebt (Abb. 1.33).
Im folgenden seien die Grundzüge vorgestellt. Grundsätzlich ging es um die Neuorganisation der „formlosen“ und „inhumanen“ grauen Masse der industriellen Großstadt und um ein Zurückführen der Stadtgröße auf einen „menschlichen Maßstab”, d.h., man wollte die verlorengegangene Überschaubarkeit der Städte zurückgewinnen. Dabei ging es Howard keineswegs – wie dies in der späteren Literatur vielfach irrtümlich gesehen wurde – nur um die Schaffung von Gartenstädten, sondern um ein städtisches Siedlungsgebilde für 250.000 Menschen, in dem rund 58.000 Menschen in der Zentralstadt und die übrigen in sechs ringsum gelegenen Gartenstädten mit jeweils rund 32.000 Bewohnern untergebracht werden sollten.
Der ideengeschichtlich interessierte Leser wird die Zuordnung von sechs Städten zu einer Zentralstadt mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen und sich daran erinnern, daß eine Generation später W. Christaller im Rahmen der zentralörtlichen Theorie als optimales Anordnungsprinzip für administrative Funktionen die Zuordnung von sechs Gemeinden zu einem Zentralen Ort angegeben hat. E. Howard hat überdies eine Gliederung der Gartenstädte in Teile mit unterschiedlichen Funktionen vorgesehen, ohne dabei explizit die erst später entstandene Nachbarschaftsidee anzusprechen.
Gerade in einem Land, in dem die soziale Segregation durch genormte Bautypen ein derartiges Ausmaß erreicht hatte wie in Großbritannien im 19. Jh., ist besonders bemerkenswert, daß Howard von einer sozialen Differenzierung sowohl der Kernstadt als auch der Gartenstädte ganz und gar Abstand nahm.
Recht interessant erscheint es jedoch, darauf hinzuweisen, daß er wenig attraktive Einrichtungen, darunter psychiatrische Kliniken, in den interurbanen Raum verbannte. Mit diesem Vorschlag beschritt er übrigens einen Weg, den auch die Kommunalbehörden in der Gegenwart gehen. Sie sind bestrebt, Einrichtungen der sozialen und technischen Infrastruktur mit geringer Attraktivität und hohen Störeffekten in das Umland der Städte abzuschieben.
Der große Erfolg, den die Idee der „Neuen Stadt“ langfristig hatte, liegt zweifellos in dem neuen Konzept der Stadtmitte begründet. Gestaltung und Funktion der Stadtmitte aller Stadttypen wurzeln in den politischen Leitideen ihrer Zeit. Im Absolutismus bildete der Palast des Herrscherhauses den Mittelpunkt der Stadt, in der arbeitsteiligen industriellen Gesellschaft ist die Wirtschaftscity das Zentrum der Großstädte. Im Zentrum der „Neuen Städte“ wurden nun – in Vorwegnahme der Ideologie einer Konsumgesellschaft – die für die menschlichen Bedürfnisse zentralen Einrichtungen der Versorgung mit Gütern und Diensten angesiedelt.
Ausgeklammert aus den Überlegungen blieb die dynamische Komponente der Entwicklung von Bevölkerung und Arbeitsstätten. Eine Erweiterung einer einmal gegründeten Stadt war nicht vorgesehen, sondern nur die Neugründung weiterer Städte an anderen Lokalitäten.
Ebenso einem Gleichgewichtsdenken verhaftet war auch die Vorstellung, daß derartige „Neue Städte“ auf dem Sektor der Arbeitsplätze autark sein und die Zahl der Arbeitsplätze und die der Arbeitsbevölkerung im Einklang stehen sollten. Nur am Rande sei eingefügt, daß gerade diese Vorstellung der Realisierung dieses Konzepts die größten Schwierigkeiten bereitet hat und daß es außerhalb von Großbritannien den meisten der in der Nachkriegszeit geschaffenen „Neuen Städte“ nicht gelungen ist, genügend Betriebe an sich zu ziehen, so daß sie zu häufig zu „Schlafstädten“ am Rand von Agglomerationen geworden sind.
Abb. 1.33: Die Gartenstadt von Howard, 1902
Von den Zeitgenossen zweifellos als revolutionär empfunden wurde die Forderung von E. Howard, daß sich Grund und Boden im Eigentum der Stadt befinden müßte, um Spekulationen zu verhindern und die Entwicklung der Stadt steuern zu können. Im übrigen verblieb auch die Idee der „Neuen Stadt“ in der ersten Hälfte des 20. Jh.s mehr oder minder im Experimentierstadium, wobei sich folgende Haupttypen herausgebildet haben:
1) Der Prototyp der „Neuen Stadt“ konnte selbst in Großbritannien nur in einer einzigen städtischen Siedlung, nämlich in Letchworth, den Prinzipien von E. Howard folgend, ohne direkten Eingriff des Staates verwirklicht werden. 59 km nördlich von London gelegen, besitzt diese 1903 gegründete Gartenstadt alle wesentlichen Flächennutzungselemente, wie einen zentralen Geschäftsbereich, einen Industriestreifen im Anschluß an die Bahn, Wohnquartiere, die nahezu ausschließlich aus Einfamilienreihenhäusern bestehen, und einen Grüngürtel. Auch das Ziel eines ausreichenden Arbeitsplatzangebotes wurde erreicht. 1965 besaß Letchworth etwa 200 kleine Gewerbe- und Industriebetriebe bei einer Einwohnerzahl von rund 25.000 Menschen.
1934 wurde die Idee der Neugründung von Städten dann von der britischen Raumordnungspolitik aufgegriffen und als Strategie zur Dezentralisierung des Wachstums der Region von London verwendet. Der eigentliche Boom der Neugründung von Städten setzte jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein.
2) Die Konzeption der „Neuen Stadt“ als Zentraler Ort wurde ferner überall dort verwendet, wo – wie in Italien und den Niederlanden – in einem letzten Auslaufen physiokratischer Bestrebungen des aufgeklärten Absolutismus Agrarkolonisationen erfolgten. In Italien stellen die trockengelegten Pontinischen Sümpfe, in der Campagna von Rom gelegen, ein Kernstück der Bonifikationen der dreißiger Jahre dar. Als zentrale Stadt wurde Latina, das bis 1947 Littoria hieß, gegründet. Aus der Zeit von Mussolini ist heute nur noch die zentrale Platzanlage mit anschließenden Wohnblöcken erhalten. In der Nachkriegszeit erfolgte ein starker Ausbau durch Industrieanlagen und Mietshäuser, nicht zuletzt aufgrund der Zuwanderung von Kolonisten, so daß zahlreiche Einzelhöfe nach der erst vor zwei Generationen durchgeführten Melioration wieder verfallen sind.
3) Große Bedeutung erhielt das Konzept der „Neuen Stadt“ im Zusammenhang mit der Errichtung von industriellen Großbetrieben. Als Vorläufer dieser neuen Industriestädte können in Deutschland die Werksiedlungen angesehen werden, für die vor allem die Familie Krupp im Ruhrgebiet beispielgebend war. Auf diese Industriellenfamilie geht auch die Kruppsiedlung in Berndorf in Niederösterreich zurück, deren Kirche 1917 eingeweiht wurde (Abb. 1.34). Im Hinblick auf die Wohnbauformen haben diese Werksiedlungen durch die bevorzugte Verwendung des Einfamilienhauses mit Garten bereits das Gartenstadtkonzept vorweggenommen.
Das beste Beispiel für eine neuangelegte Industriestadt im Westen des Eisernen Vorhangs bildet Wolfsburg, 1938 als „Stadt des KdF-Wagens“ gegründet. Durch das NS-Regime wurden großzügige Sonderverhältnisse geschaffen, welche der Trägergesellschaft einen raschen Erwerb von Grund und Boden gestatteten. Die ursprüngliche Planung sah auf der Höhe des Rückens im Süden des Werksgeländes – und damit gleichsam in Akropolislage – die Parteibauten vor, darunter ein Forum mit dem Rathaus. Diese Anlage wurde nach dem Zweiten Weltkrieg umgeplant, als die Gemeinde auch den Namen der alten Gutssiedlung annahm. 1947 wurde ein Plan für 35.000 Einw. erstellt, an die Stelle der Parteibauten trat ein Krankenhaus, die Bahnhofsstraße wurde zur zentralen Geschäftsstraße. Über diese ursprüngliche Planung ist Wolfsburg inzwischen längst hinausgewachsen; es zählte 1981 bereits 131.000 Einw.
In Westeuropa ist die Zahl von neuen Industriestädten auch nach dem Zweiten Weltkrieg bescheiden geblieben, während im Osten Europas in den ehemaligen Comecon-Staaten in Rußland und in Sibirien zahlreiche neue Industriestädte gegründet wurden.