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Die Charta von Athen

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In den oben vorgestellten Konzeptionen und Realisierungen von „Neuen Städten“ ist eine grundsätzlich wichtige städtebauliche Idee implizit enthalten, nämlich die der säuberlichen räumlichen Trennung von städtischen Funktionen, insbesondere der Daseinsgrundfunktionen des Arbeitens und des Wohnens. Damit wurde einer der wichtigsten, im vollen Fluß begriffenen Prozesse der jüngeren Stadtentwicklung keineswegs nur im nachhinein sanktioniert, sondern, was noch viel wichtiger erscheint, vorweggenommen.

Zu diesen Feststellungen sind einige Bemerkungen angebracht. Die Separierung städtischer Funktionen vollzieht sich grundsätzlich auf zwei Ebenen, und zwar einerseits in Form der bereits angesprochenen Trennung der Daseinsgrundfunktionen Arbeiten und Wohnen und andererseits in Form einer Differenzierung der Arbeitsstättenstrukturen. Die Vorgänge auf beiden Ebenen verliefen und verlaufen nur teilweise synchron. Im Hinblick auf den räumlichen Niederschlag kommt der Stadtgröße eine entscheidende Bedeutung zu. Separierungsprozesse, welcher Art auch immer, setzten zuerst in den großen Städten ein. Dementsprechend ist die Trennung der Standorte von Wohnen und Arbeiten keineswegs erst ein Produkt des industriellen Zeitalters, sondern begann in den großen kontinentaleuropäischen Städten bereits im Mittelalter mit den Anfängen des Mietshauswesens und dem Entstehen von Verlaßgewölben (vermieteten Läden und Werkstätten) für Handels- und Gewerbetreibende. Beide Phänomene lassen sich in den großen europäischen Städten, wie Paris, Prag und Wien, bereits im 14. Jh. nachweisen. Mit der Etablierung der staatlichen Behörden im Zeitalter des Absolutismus setzte ferner auch die innerstädtische Pendelwanderung der Beamten ein, die in Wien bereits für das 16. Jh. dokumentiert werden konnte.


Abb. 1.34: Krupp-Gründung Berndorf, Niederösterreich

Ebenfalls ins Mittelalter zurück reichen kleinzügige Viertelsbildungen spezifischer Branchen des Einzelhandels und der gewerblichen Produktion. Erst mit dem Stadtwachstum im industriellen Zeitalter erwies es sich als notwendig, Ausgrenzungen und Restriktionen für industrielle Nutzungen vorzunehmen, wie sie übrigens für bestimmte Gewerbe schon die mittelalterliche Stadtgemeinde gekannt hatte.

In allen Großstädten des deutschen Sprachraums entstanden im späten 19. Jh. die Vorläufer dessen, was wir heute als Flächenwidmungspläne bezeichnen. Im folgenden sei auf den Bauzonenplan von Frankfurt am Main hingewiesen, der in vorbildlicher Weise bereits im Jahr 1891 zwei Leitprinzipien herausstellte:

▪ Es erfolgte eine Regulierung der Gebäudehöhe durch die Einführung von zentral-peripher abnehmenden Bauklassen und damit Geschoßzahlen sowie

▪ eine funktionelle Trennung zwischen Wohngebieten, Mischgebieten und Industriegebieten unter Berücksichtigung der Bahnlinien und – im speziellen Fall von Frankfurt – des Hafengeländes entlang des Mains.

Diese Separierung der städtischen Funktionen wurde 1927 von der Bewegung der Urbanisten, angeführt von Le Corbusier, in der sogenannten „Charta von Athen“ verankert, in der eine grundsätzliche Separierung der Daseinsgrundfunktionen der Bevölkerung, nämlich des Wohnens, des Arbeitens, der Verkehrsbedürfnisse, der Erholung, der Bildung usw., gefordert wurde. Es ist hier nicht der Platz, um auf die Bedeutung dieser Doktrin einzugehen. In weiterer Konsequenz führte sie dazu, daß von Architekten und Städtebauern nicht nur die oben genannten Funktionen räumlich getrennt wurden, sondern ebenso die einzelnen Wohnformen wie das Ein- und Mehrfamilienhaus, das Mietshaus und das Hochhaus. Wegen des steigenden Flächenbedarfs der einzelnen Funktionen mußte schließlich vor allem den ebenfalls nach Verkehrsarten getrennten Verkehrsbändern und -flächen zunehmend mehr Raum zugewiesen werden. Obwohl man heute in der theoretischen Diskussion schon wieder von dieser strikten Flächentrennung und dem Nachbarschaftskonzept abgerückt ist, gelang es bisher jedoch noch nicht, die inzwischen in eingespielten bürokratischen Prozeduren verankerten Prinzipien durch neue zu ersetzen.

Festzuhalten ist, daß in der „Neuen Stadt“ – und das beeinflußt die Stadtplanung der Gegenwart entscheidend – die Frage der räumlichen Segregation der Gesellschaft von vornherein aus den Entwürfen ausgeklammert wurde. Ihre Mitte ist als sozial neutral zu definieren. Das Konzept war vielmehr getragen von der Überzeugung der Notwendigkeit einer Verbesserung der Lebensbedingungen der gesamten städtischen Bevölkerung. Es ging um mehr als die planmäßige Zuordnung von Menschen zu Arbeitsstätten. Es ging um die Befriedigung der Daseinsgrundbedürfnisse der Bevölkerung, d.h., bezogen auf die Einwohnerzahl, um eine Ausweisung bestimmter Flächen für Wohnen, Arbeiten, Erholen, Verkehr, Geschäftswesen, Schulwesen u. dgl.

Das Konzept der „Neuen Stadt“ hat als gesellschaftspolitisches Leitbild weit über die städtische Sphäre hinausgegriffen und auch die Regionalpolitik und Regionalplanung des sozialen Wohlfahrtsstaates tiefgreifend beeinflußt. Brachte bereits der Liberalismus eine gewisse Aufweichung der dörflichen Strukturen im städtischen Umland, so vollzog sich im Zeichen des sozialen Wohlfahrtsstaates mit immer weiter ausgreifenden Arbeitsmarktregionen der großen Städte mittels der Pendelwanderung der Übergang zu dem „Stadt-Land-Kontinuum“. Die ursprünglich vielfach zwischen Stadt und Land gelegenen Industriesiedlungen sind inzwischen zu Städten avanciert. Zweitwohnungswesen und Fremdenverkehr tragen wesentlich zur immer stärkeren städtischen Durchdringung des ländlichen Raumes bei, bedingen andererseits jedoch eine wachsende Benachteiligung desselben überall dort, wo die ökonomische Marginalität nicht durch ökologische Attraktivität ausgeglichen werden kann. Mit diesen Aussagen sind wir bereits tief in das 20. Jh. vorgestoßen, dem im politischen Systemvergleich ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Die Stadt

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