Читать книгу Radwanderung in Kanada - Elisabeth Naumann - Страница 7
19.6.
ОглавлениеBei bedecktem Himmel steuerten wir Hope an. Der Randstreifen der Nr. 7 war jetzt in einem besseren Zustand als am Vortag, was den Fahrspaß bedeutend erhöhte. Und auch optisch gesehen ging es aufwärts, die Berge in Fahrtrichtung wurden steiler und höher, während sich die dahinter liegenden noch in Wolken gehüllt hatten. Die kurzen Steigungen machten uns wenig aus, zumal wir von den erhöhten Standpunkten einen besseren Blick auf den Fraser River hatten, der sich in mehrere Arme teilte und wieder vereinte, sodass kleine Inseln entstanden waren.
Bereits vor 14 Uhr erreichten wir Hope und den Campingplatz, der direkt an der Strecke, oberhalb des Flusses lag. Ein begraster lichter Wald, ein hübscher Pavillon und direkt daneben unser Zelt, was wollten wir mehr. Nur das Wetter hätte besser sein können, es war stürmisch geworden und auch kälter.
Trotzdem sahen wir uns Hope an. Ein hübsches Städtchen mit vielen schönen und sehr alten Bäumen und vor allem mit großen Holzskulpturen, die sicher einst aus ebenso alten, dicken Stämmen geschnitzt wurden. Wir aber suchten und fanden die Touristinformation, um uns ein ganz bestimmtes Buch zu kaufen: „Cycling the Kettle Valley Railway“, ein Buch, das es leider nur in Englisch gab. Da wir es bereits mit Preis im Fenster gesehen hatten, reichte Martin das Geld passend über den Ladentisch. Doch die Dame schüttelte den Kopf, sie wollte mehr. Die Preisangaben waren hier ohne Mehrwertsteuer, diese wurde erst noch aufgeschlagen.
Aber egal, ob mit oder ohne Mehrwertsteuer, ob in Deutsch oder Englisch, das Buch musste sein! Es beschreibt nämlich eine Strecke, über die wir in einem Werbeblatt für geführte Radtouren gelesen und uns sofort dafür begeistert hatten. Und deshalb waren wir jetzt hier in Kanada, hier in Hope, wo diese Strecke ihren Anfang nimmt und später durch die abgeschiedene Wildnis von British Columbia führt.
„Kettle Valley Railway“, so nannte sich eine Bahnlinie, die einst von Hope nach Midway führte und damals die reichen Silbervorkommen transportierte. Diese Silbervorkommen waren um 1900 in einem völlig unzugänglichen Teil von British Columbia entdeckt worden und hatten einen gewaltigen Boom ausgelöst. Es muss ungeheuer schwierig gewesen sein, das silberhaltige Gestein umständlich und beschwerlich durch die Täler nach Süden in die USA zu transportieren. Deshalb wurde 1910 der Bau einer Bahnlinie beschlossen, die in West – Ostrichtung über die Cascade Mountains, das Thompson Plateau und das Okanagan Hochland führen sollte, um Hope mit Midway und dadurch auch Vancouver mit Nelson zu verbinden. Sechs Jahre dauerte dann der Bau, er beschäftigte in dieser Zeit 5.000 Arbeiter.
Der Chef-Ingenieur McGulloch musste als Leiter nicht nur einen Weg durch das hufeisenförmige Myra Canyon finden, der schwierigste Abschnitt war wohl die als unbezwingbar geltende Coquihalla Schlucht. In einem Korb, hoch über ihr an einem Seil hängend, vermaß McGulloch das Gelände und ließ dann fünf Tunnel in den Granitfelsen sprengen. Über das Myra Canyon mussten 18 Brücken gebaut werden, zunächst alles Holzbrücken, deren höchstgelegene in 1274 Metern errichtet wurde, mit einer Länge von 132 Metern. Als die Strecke fertiggestellt war und die Bahn tatsächlich fuhr, bezeichnete sie der Volksmund als „McGullochs Wunder“.
Aber nicht nur das silberhaltige Gestein wurde transportiert, sondern alle möglichen Güter und natürlich auch Passagiere. Doch ständige Geröll- und Lawinenabgänge, dazu eine Schneehöhe von 12 Metern in den Cascade Mountains, machten die Strecke unrentabel, zumal schließlich auch kaum noch Silber gefunden wurde. So musste 1959 der Zugverkehr wieder eingestellt werden. Die Trasse verfiel und wurde teilweise überbaut. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts aber erwachte sie aus ihrem Dornröschenschlaf. An den touristischen Highlights, sofern die Strecke nicht bereits Straßen oder anderen Baumaßnahmen zum Opfer gefallen war, wurden Gleise, Schwellen und Schotter entfernt und die Brücken erneuert. Und so erhielten Wanderer, Reiter und Radfahrer sowie Skilangläufer einen Wildnis-Trial geschenkt, der seinesgleichen in der Welt sucht.
Am nächsten Tag sollte es also zur Sache gehen, und so studierten wir am Abend noch das neuerstandene Buch. Eine mehr als schwierige Aufgabe. Mit unseren Englischkenntnissen kamen wir auf den bisherigen Touren eigentlich immer gut zurecht, zumal wir mit Gleichgesinnten sowie beim Einkauf nur mündlich verkehrten. Jetzt aber mussten wir lesen, und, was viel schlimmer war, von hinten nach vorn. Das Buch beschreibt die Strecke nämlich nicht von Hope nach Midway, wie wir fahren wollten, sondern in umgekehrter Richtung, und es beschreibt außerdem dazwischen noch etliche andere ehemalige Strecken. Na toll! Das bedeutete nichts anderes als den Versuch zu unternehmen, einen mit Fachbegriffen gespickten Text von hinten nach vorn zu lesen, dabei nicht in eine falsche Spur zu kommen und so viel wie möglich zu kapieren.