Читать книгу Die Insel der vergessenen Hunde - Elise Lambert - Страница 4
ОглавлениеProlog
Dicht gedrängt lagen sie in den hintersten Winkeln ihrer Käfige, die Köpfe fest auf den schmutzigen Boden gepresst. Nur nicht auffallen! Jeder konnte der Nächste sein. Der Nächste, der abgeholt werden und nie wieder zurückkommen würde. Die Todesangst roch man in jeder Ritze ihres Gefängnisses. Sie übertünchte sogar den beißenden Gestank von Urin und Kot. Dutzende von geschundenen, ausgemergelten Körpern, mit zum Teil stinkenden und eitrigen Wunden, halb verhungert und ohne Lebensmut, teilten sich einen Zwinger. Durch rostiges Gitter getrennt, säumten unzählige solcher Zwinger den grauen, kalten Betonflur.
Und jeden Tag kamen sie aufs Neue. Schwere Schritte hallten von den nackten Steinwänden wieder. Gnadenlos ratterte der Fangstab aus Eisen an den Türgittern entlang und kündigte die Peiniger lautstark an.
Mit jedem Schlag, bei dem die Eisenstange an das Gitter prallte, zuckten sie zusammen. Sie, die verstoßenen Hunde von Gran Canaria.
In den verwahrlosten Ställen der Perreira, der Tötungsstation, warteten sie auf ihr nahes, qualvolles Ende.
In der Box mit der Nummer 17 lag eine Galgohündin mit ihren beiden vier Wochen alten Welpen. Die beiden Zwerge versuchten verzweifelt aus der versiegenden Milchquelle ihrer abgemagerten Mutter noch ein paar Tröpfchen von dem lebensspendenden Quell zu ergattern.
Zu schwach, um sich gegen die aufdringlichen Hundekinder zu wehren, verharrte die einst so stolze Hündin in unbeweglicher Demut.
Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, als sie mit ihrem Herrn auf die Jagd ging. Ihr muskulöser Körper glänzte im Sonnenlicht und wenn sie mit weit ausgreifenden Sprüngen dem erlegten Wild nachstellte, bewunderten die Menschen ihre Grazie.
Doch mit einem Mal veränderte sich ihr Leben. Ein Bänderriss verurteilte sie zur Untätigkeit. Plötzlich war sie für ihre Herren zu nichts mehr nütze. Vorbei die Zeiten der Jagd und des genüsslichen Lebens. Schläge und Tritte bestimmten nun ihren Tag und irgendwann war man ihrer ganz leid. Sie wurde auf der Ladefläche eines Wagens verstaut. Der Motor heulte auf und es ging ab in Richtung Berge. Irgendwo im öden Nichts des Gebirges hielt der Wagen an. Das breite Lederhalsband mit den hübschen Gravuren wurde ihr abgenommen und mit einem bösen Tritt und üblen Beschimpfungen wurde sie davongejagt.
Dann fuhr der Mensch, ohne sich noch einmal umzudrehen, schnell davon, eine massige Staubwolke hinter sich herziehend.
Verwirrt blickte ihm die Galgohündin nach. Was hatte sie ihnen getan? Sie war sich keiner Schuld bewusst, die das menschliche Handeln rechtfertigte. Sie war den Menschen immer treu ergeben, las ihnen doch jeden Wunsch von den Augen ab.
Den immer kleiner werdenden Punkt am Horizont vor Augen, setzten sich ihre Beine in Bewegung. Zuerst langsam, dann immer schneller und schneller. Doch mit ihrem lahmen Bein konnte sie ihre einstige Kondition nicht mehr erreichen. Bald ermüdeten ihre Glieder und sie begann zu humpeln. Ihr Bein schmerzte, sie verspürte Durst und Hunger, Niedergeschlagenheit breitete sich aus.
Bei Anbruch der Dunkelheit erreichte sie eine Stadt. Sie traf auf ein paar verwahrloste Straßenhunde, die sie grantig anknurrten. Aber sie war zu müde um zu streiten.
In geduckter Haltung schlich sie an den Streithähnen vorbei und suchte Schutz im Schatten von engen Gassen. Sie fand ein paar faulige Abfälle in einer Straßenrinne, doch sie mussten genügen um das Loch in ihrem Magen zu füllen. Aus einer dreckigen Pfütze stillte sie ihren ärgsten Durst, bevor sie sich in einen abgestellten, leeren Pappkarton müde zusammenrollte und einschlief.
So verbrachte sie etliche Wochen auf den Straßen der Stadt. Sie lernte, sich gegen die anderen Hunde durchzusetzen und wurde schließlich eine von ihnen. Von den Menschen hielt sie sich weitestgehend fern, denn selten hatte einer ein gutes Wort für sie.
Dann kam jener verhängnisvolle Morgen. Sie stromerte gerade wieder mit ein paar Genossen durch die Straßen und suchte nach Nahrung, als ein großes Auto hielt. Zwei Männer stiegen aus, in ihren Händen hielten sie eine lange Stange mit einem Seil daran und ein großes Netz.
Zuerst redeten sie freundlich auf die Hunde ein. Die Galgohündin spitzte die Ohren und lief dann freundlich wedelnd auf die Menschen zu.
Bevor sie die drohende Gefahr erkannte, war es auch schon zu spät. Die Schlinge des Fangstabes stülpte sich über ihren Kopf und zog sich blitzschnell zu. Der andere Mensch warf das Netz über sie und ehe sich die Hündin versah, wurde sie in einen Käfig zu vielen anderen Hunden gestopft. Die Tür fiel ins Schloss und nur kurze Zeit später setzte sich der Wagen in Bewegung.
Seitdem lag sie nun in diesem Loch und wartete, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Nur wenige Tage nach ihrer Gefangennahme brachte sie ihre Welpen zur Welt. Da war nichts, um ein kuscheliges Nest für sie vorzubereiten. Auf den nackten Steinboden musste sie ihre kleinen Babys legen. Vier waren es gewesen, doch die beiden Kleinsten haben nicht überlebt. Und die zwei übrig gebliebenen würden wohl auch keine Chance haben, ein glückliches Leben genießen zu dürfen.
Zärtlich leckte die Galgohündin über die nun schlafenden Welpen, die sich ganz eng an ihren Körper gepresst hielten, um wenigsten ein bisschen Wärme zu erhalten. Schützend legte sie ihren schmalen Kopf auf sie und schloss die Augen. Wie viel Zeit würde noch vergehen, bis man sie holen würde?
Mitten in der Nacht wurden die Hunde durch Geräusche geweckt. Menschen betraten den Gang. Aber es waren nicht die bösen Männer mit den Fangstäben. Von diesen Menschen ging eine andere Ausstrahlung aus, die Tiere konnten eine friedvolle Atmosphäre wittern. Der schwache Lichtstrahl von Taschenlampen blendete die Hunde. Neugierig streckten manche die Nasen hervor, doch die meisten Blicke blieben eher misstrauisch.
Ein Gemurmel war unter den Menschen zu hören.
»Wir müssen schnell machen! Sonst erwischen sie uns und alles war vergebens!«
Mit einer großen Zange brachen die Menschen die Schlösser der Zwinger auf und öffneten die Türen. Mit Wurststücken in den Händen und liebevollen Worten versuchten sie, die Hunde in ihre mitgebrachten Transportboxen zu locken.
Die Galgohündin hob ihren Kopf. Sie verständigte sich mit ihren Genossen.
Passt auf, das ist eine Falle! Hörte sie einen älteren Hirtenhund sagen.
Nein, das sind gute Menschen, sie werden uns helfen! Ertönte es aus einer anderen Ecke.
In der allgemeinen Unruhe stapften die beiden Welpen fröhlich auf die junge Frau zu, die ihnen mit freundlicher Stimme ein Stück Fleisch anbot. Gierig schnappten die Zwerge nach den ungewohnten Leckerbissen und verlangten sogleich nach mehr.
Ihre Mutter schleppte sich schweren Schrittes zu ihnen und wollte sie vor diesen Menschen beschützen. Doch auch sie konnte die Wärme in den Menschenherzen spüren. Vorsichtig streckte sie ihren Kopf zu der dargebotenen Hand und nahm auch von dem Futter. Ganz sacht strich die Hand nun über den Kopf der Hündin.
»Hallo Du! Du musst keine Angst mehr haben! Wir sind gekommen, um Euch zu befreien!«
Die junge Frau flüsterte fast und die Hündin trat noch einen Schritt näher.
»Komm mit! Wir gehen jetzt in die Freiheit«, hörte sie die Menschenfrau sagen und mühsam setzte sich die Galgomutter in Bewegung, ihre Kinder immer im Schlepptau. Ohne sich noch einmal umzusehen, folgte sie den Menschen, ungeachtet der Schmerzen in ihren Gliedern nahm sie ihre ganze Kraft noch einmal zusammen.
Immer mehr Hunde folgten ihrem Beispiel, ließen sich Halsbänder und Leinen umlegen und trotteten bereitwillig ins Freie.
Die Kleinen und Schwachen unter ihnen wurden in die Transportboxen gesetzt und getragen. Die ganze Karawane aus den helfenden Menschen und ihren vierbeinigen Gefolgen war schon im Hof der Perreira angekommen, als es plötzlich laut wurde.
Die Befreiungsaktion war nicht unentdeckt geblieben. Die Wächter der Tötungsstation waren von dem Bellen der Hunde geweckt worden und stürzten nun, mit Gewehren bewaffnet, auf den Hof. Sie schossen warnend in die Luft und befahlen den Tierschützern sofort stehen zu bleiben. Es entstand ein heilloser Tumult, denn die Hunde gerieten durch die Schüsse so in Panik, dass sie sich von ihren Rettern losrissen und instinktiv zum Ausgang rannten.
Nun schossen die Wächter auch auf die Hunde, was ein noch größeres Durcheinander bewirkte.
Die Retter bemühten sich, die Wächter am Schießen zu hindern und die flüchtenden Hunde versuchten zu entkommen.
Ein großer kräftiger Mischlingsrüde setzte sich an die Spitze und rannte in gestrecktem Galopp eine Straße entlang.
Wer nicht vom Kugelhagel getroffen wurde und tot oder schwer verletzt zu Boden sank, tat es ihm gleich.
Die Galgohündin versuchte, mit ihren Welpen den ausgewachsenen Hunden zu folgen. Ein Schuss ertönte und die Kugel traf sie ins hintere Bein und nahm ihr jegliches Gefühl darin. Doch sie durfte nicht stehen bleiben. Laut aufjaulend nahm sie all ihren Lebensmut zusammen und rannte auf drei Beinen der flüchtenden Meute hinterher.
Sie liefen und liefen, bis sie das Stadtende erreichten. Keiner sah noch einmal zurück. Und die schwer verletzte Galgohündin versuchte, tapfer mitzuhalten. Doch zum einen waren ihre beiden Söhne viel zu klein für dieses Tempo, und zum anderen verlor sie selbst so viel Blut, dass sie spürte wie ihre Kräfte schwanden.
Nachdem sie mühevoll die letzten Häuser hinter sich gelassen und die Landstraße erreicht hatte, brach sie im Straßengraben zusammen. Ängstlich und müde drückten sich die Welpen an ihre sterbende Mutter. Die letzten Gedanken der Hündin galten ihren kleinen Söhnen.
Wie sollten sie ohne sie überleben? Was würde aus ihnen werden?
Sie spürte ihr Ende nahen. Noch einmal leckte sie den Kleinen über die schwarzen Knopfnasen, bevor sie ihren Kopf in den Staub legte und ihre Sinne schwanden.
***