Читать книгу Die Insel der vergessenen Hunde - Elise Lambert - Страница 6

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Kapitel 2

Endlich war die Maklerin gegangen und Claire war nun alleine. Sie verfrachtete ihre Koffer in eines der Schlafzimmer im ersten Stock, öffnete die Fenster weit und trat auf den kleinen angrenzenden Balkon. Von hier aus hatte sie einen gigantischen Blick in das nah gelegene Gebirge. In der Ferne konnte sie sogar eines der Wahrzeichen von Gran Canaria, den Roque Nueblo, ausmachen. Eine friedfertige Stille herrschte, abgesehen von dem Gezirpe unzähliger Zikaden und dem Gezwitscher mehrerer Vögel. Von Ferne hörte man auch noch ab und zu ein Schaf aus einer der umherziehenden Herden blöken.

Aber wenn man aus der Großstadt kommt, mit ihrem lärmenden und stinkenden Verkehr, dann empfand man diese Natur hier als Ort balsamspendender Ruhe. Danach hatte sich Claire gesehnt.

Sie ging zurück in das Zimmer und lies sich rückwärts auf das Bett fallen. Ihr Blick schweifte über das schmiedeeiserne Gestell zu dem bordeauxroten Organzahimmel, der in der Mitte über dem Bett von einem kunstvoll verzierten, schmiedeeisernen Kranz gehalten wurde. Jetzt waren die Vorhänge zurückgezogen und an den Bettpfosten festgebunden. Zum Schlafen konnte man sie aber komplett zuziehen und wurde so vor Insekten und Ungeziefer geschützt. Eine Kommode und ein schwerer Schrank aus dunklem Mahagoniholz, sowie ein wuchtiger Ohrensessel im gleichen Stil vervollständigte die Einrichtung dieses Raumes.

Claires Gedanken schweiften wieder zu dem traumhaften Swimmingpool im Garten. Entschlossen sprang sie hoch, entledigte sich ihrer Kleidung und fischte in dem kleinen Koffer nach ihrem Bikini, den sie sich blitzschnell überstreifte. Er schmiegte sich an ihren makellosen Körper wie eine zweite Haut und hob ihre Rundungen äußerst vorteilhaft hervor. Dann steckte sie sich noch die blonde Lockenpracht mit ein paar Spangen hoch, griff nach einem Handtuch und lief barfüßig in den Garten.

Mit der Zehenspitze prüfte sie kurz die Temperatur des Wassers, um dann mit einem beherzten Sprung in das einladende Becken zu springen. Bereits mit dem Eintauchen in das angenehm kühle Nass streifte Claire all ihren seelischen Ballast ab, wie eine künstliche Hülle, in der sie all die vergangenen Monate gelebt hatte.

Mit kräftigen Zügen tauchte sie bis zum anderen Ende des Pools, schoss übermütig in die Höhe, um Luft zu holen, um dann erneut in den Tiefen des Beckens zu entschwinden. So verbrachte sie eine ganze Weile, alberte herum wie ein kleines Kind, bis sie schließlich auf den Stufen des Pools ein kleines Päuschen einlegte und ihr Gesicht der strahlenden Nachmittagssonne entgegen reckte. Nur ihr Kopf ragte aus dem Wasser heraus und sie schloss für ein paar Minuten die Augen, um vor sich hin zu träumen.

Doch jäh wurde diese Idylle unterbrochen. Etwas Kaltes, Nasses wischte über Claires Gesicht, immer wieder, so schnell konnte sie sich gar nicht dagegen wehren.

Mit einem lauten Aufschrei und wild fuchtelnden Händen wehrte sie den Angriff ab und drehte sich blitzschnell um. Der Angreifer seinerseits entschloss sich zum Rückzug und ging erst einmal ein paar Meter entfernt von der kreischenden Frau in Deckung.

Mit pochendem Herzen lugte Claire über den Rand des Beckens und musste unwillkürlich laut auflachen. Verflogen war ihre Entrüstung, als sie vor sich, mit demütig wedelndem Schwanz, ein kleines Hundebaby auf dem Boden kauern sah, das gespannt abwartete, wie der Mensch da vor ihm sich verhielt. Sein schwarzweißes Fell glänzte in der Sonne und mit seinen Schlappohren und den treuherzigen Kulleraugen sah er nur zu allerliebst aus. Als es nun die freundliche Miene sah, stürzte es fröhlich darauf zu und begann erneut Claires Gesicht mit seiner nassen Zunge zu attackieren.

Einen kurzen Moment dachte Claire wieder an die Erzählung von den wilden Hunden, aber dieser kleine Zwerg da vor ihr sah nun beileibe nicht wild und gefährlich aus.

»Ja wer bist Du denn? Hast Du mich vielleicht erschreckt, Du Schlingel! – Hör´ auf mit dem Geschlecke, das mag ich überhaupt nicht!«

Vergebens versuchte Claire, den kleinen Treibauf abzuwehren. Er schien überall gleichzeitig zu sein, rannte am Beckenrand auf und ab, beugte sich mit seinem Vorderkörper hinab, um sie zum Spielen aufzufordern. Dabei gab er ein »Möchtegern-Knurr-Gebelle« zum Besten, das Claire abermals zum lauten Lachen reizte.

Immer eindringlicher wurden die Spielaufforderungen des Hundezwerges, so dass die Menschenfrau endlich aus dem Wasser stieg und nachgab. Sofort sprang der kleine Kerl an ihr hoch, schubste sie und flitzte dann blitzschnell in einem Bogen um sie herum.

»Na warte, dich krieg ich, komm nur her Du kleiner Teufel!«

In gespielt bösem Ton rannte Claire hinter ihm her. So jagten sie sich gegenseitig um die Büsche, bis plötzlich ein lauter Pfiff ertönte.

Der Hund hielt in seinem Spiel inne, spitzte die Ohren und rannte davon. Neugierig machte sich Claire auf, um zu erkunden, wem der kleine, lustige Kerl wohl gehörte. Schließlich war das Grundstück komplett eingezäunt, also dürfte sich hier doch eigentlich niemand aufhalten.

Die Lösung war schnell gefunden. Unweit erspähte Claire einen jungen Mann mit Schubkarre und Harke, der um ein paar Büschen herum das Unkraut entfernte. Das musste wohl der Gärtner José sein.

In diesem Moment drehte er sich zu ihr um und winkte ihr freundlich zu. Umständlich entledigte er sich seines Werkzeuges und stapfte dann zu ihr hinüber.

»Hola! Ich bin José ... sind sie die neue Señora?«

Breit grinsend hielt er ihr seine schmutzigen Hände zum Gruß hin. Nur zögernd erwiderte Claire diese Geste.

»Ja, hola, ich bin Claire Bennet und habe das Anwesen für ein Jahr gemietet!«

Freundlich lächelte sie dem jungen Mann zu. Dass er geistig nicht so ganz auf der Höhe zu sein schien, sah man ihm an. Unverhohlen neugierig starrte er die junge Frau an, sein Mund war leicht geöffnet und er kratzte sich mit seinen schmutzigen Händen mehrmals umständlich in seinen schwarzen strubbeligen Haaren. Dazu grinste er breit und nickte ständig leicht mit dem Kopf auf und ab.

Er mochte wohl 19 oder 20 Jahre alt sein, wirkte aber wie ein zu groß geratener Zehnjähriger.

»Das ist Filippo!« José deutete auf den wedelnden Hund zu seinen Füßen. »Mein Hund!«, fügte er stolz hinzu und klopfte sich mit der flachen Hand auf die Brust.

»Ich habe ihn auf der Straße gefunden. Er war fast verhungert und dann hätte ihn bald ein Auto totgefahren. Aber ich habe ihn gerettet! Ich habe ihm was zu essen gegeben und ihn gepflegt. Und jetzt ist er meiner. Und keiner darf ihn mir wegnehmen!«

Entschlossen schüttelte José den Kopf und nahm dabei den kleinen Welpen liebevoll auf den Arm, um ihn an sich zu drücken.

Beschwichtigend pflichtete Claire ihm bei. »Nein, wieso soll man Ihnen den süßen Kerl denn wieder wegnehmen wollen?«

»Du darfst José zu mir sagen, Du bist nett!« Kindlich verlegen scharrte er mit dem Schuh im Staub.

»Dann sag Du auch einfach Claire zu mir!« Sie wusste, dass es keinen Sinn haben würde, sich mit José über gesellschaftliche Floskeln zu unterhalten und außerdem legte sie sowieso keinen Wert darauf. Spontan hatte sie den beschränkten, jungen Mann in ihr Herz geschlossen.

»Mein Vater hat gesagt, ich darf keinen Hund haben. Hunde kosten Geld, machen Dreck und außerdem sind sie krank und böse. Aber Filippo ist nicht krank und auch nicht böse. Aber mein Vater ist böse. Er mag mich nicht! Er sagt, ich bin schuld an allem!«

Traurig zuckte er mit den Schultern. Aber im selben Moment erhellte sich seine Miene wieder. Er setzte Filippo auf den Boden und ging spontan einen Schritt auf Claire zu, drückte sie ungelenk für einen kurzen Moment an sich, so wie es auch kleine Kinder mit jemanden tun, den sie sehr mögen. Mit feuerrotem Kopf und gesenktem Blick wandte er sich dann zum Gehen. »Jetzt muss ich aber weitermachen, sonst werde ich nicht fertig. Und die Blumen wollen auch alle noch was zu trinken.« Er winkte Claire noch mal fröhlich zu und ging eilig weg.

Völlig überrumpelt blickte Claire ihm nach. Mitleidig überlegte sie, wie schwer er es wohl in seinem Leben mit seinem Handicap haben musste. Sicherlich würde hier ein Mensch mit einer geistigen Behinderung weniger offen in die Gesellschaft integriert werden als anderswo.

Sie rief José noch ein ebenso freundliches »Bis bald!« nach und ging zurück zum Pool.

Die Sonne stand schon tief am Himmel. Claire lag mit einer Tasse Cappuccino in einem Liegestuhl auf der Terrasse und genoss die Strahlen der schon tief stehenden Abendsonne. Wohlig räkelte sie sich und schlürfte ihr köstliches Getränks. Beim Durchstöbern der Küche hatte sie neben einem wohl gefüllten Kühlschrank auch einen Kaffeeautomaten gefunden, eines jener Hightech-Geräte, die einem auf Knopfdruck wahlweise Kaffee, Espresso, Cappuccino oder auch einen Latte Macchiato zubereiteten. Es waren die kleinen Dinge im Leben, die es so angenehm machten. Und Claire lernte gerade wieder, was sie die letzten zwei Jahre so vermisst hatte.

Sie blinzelte versonnen. Von ihrem Platz aus konnte sie weit über die Landschaft blicken. Gleich nach der Finca stieg das Gelände an. Die ersten Ausläufer des Roque Nueblo nahmen hier ihren Anfang. Es müsste herrlich sein, diese faszinierende Gegend aus kargem Felsgebilden und schon fast wüstenartiger Vegetation zu erkunden. Doch Claire hatte sicher nicht vor, einfach nur zu Fuß los zu wandern. Ihr stand der Sinn nach ganz anderer Fortbewegung. Gleich morgen würde sie sich um ein Pferd kümmern. Und dabei überschätzte sie sich sicher nicht. Claire war eine hervorragende Reiterin. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren ritt sie regelmäßig, hatte viele unterschiedliche Turniere in ihrer Jugend gewonnen bis sie schließlich entdeckte, was für sie den eigentlichen Reiz des Reitens ausmachte - nicht auf einem Reitplatz im Kreis herumzureiten! Claire sehnte sich danach, wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und als eine Einheit zusammen über die Erde zu fliegen, den Wind in den Haaren zu spüren, den Wind als Zeichen grenzenloser Freiheit.

Sie hatte ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit geliebt, bis die Krankheit ihres Vaters dazwischenkam. Nicht, dass sie darüber klagen wollte, sie hatte ihren Vater gerne gepflegt mit der ganzen Aufopferung einer liebenden Tochter - auch wenn es manchmal ziemlich an ihre Grenzen ging.

Aber nun war sie wieder an der Reihe! Jetzt wollte Claire wieder Claire sein dürfen und leben! Leben, wie sie es wollte. Das nicht gerade geringe Erbe ihres Vaters ermöglichte ihr nun vieles, das ihren Lebensstil durchaus noch angenehmer machte. Sicherlich, Claire war eine erfolgreiche Romanautorin, die schon lange nicht mehr auf Papas Geld angewiesen war, aber warum sollte man nicht etwas nutzen, wenn man es schon hatte.

Darum dieses Jahr Auszeit auf dieser herrlichen Finca mit allem Drum und Dran. Und Claire sog jeden Augenblick in sich auf, wie die Luft, die man zum Atmen brauchte.

Langsam aber unaufhaltsam kroch die Dunkelheit über den Horizont. Dem Cappuccino folgte ein leckeres Abendessen mit heimischem Ziegenkäse, knusprigem, frischen Brot, Oliven und ein paar Gläsern trockenen Rotweins. Claire saß bei Kerzenschein immer noch auf der gemütlichen Sandsteinterrasse. Gedankenversunken lauschte sie den Geräuschen der Nacht. Tausende Zikaden hatten zum Konzert angestimmt. Irgendwo in der Ferne hörte man ein Käuzchen und ein paar Hunde heulten schaurig schön, aber auch unheimlich in den strahlenden Mond. Ab und zu raschelte es im Gebüsch, sicher ein kleines Raubtier auf seinem nächtlichen Streifzug.

Claire war kein ängstlicher Mensch. Schon alleine die Tatsache, dass sie sich alleine auf einer einsamen Finca befand, zeugte von ihrem Mut. Doch ein seltsames Gefühl überkam die junge Frau plötzlich. Wieder kamen ihr die wilden Hunde in den Sinn und intuitiv lenkte sie ihren Blick auf eine Stelle im Garten, wo sie in der Schwärze der Nacht eine Gruppe Sträucher vermutete. Es schien, als würde sie beobachtet werden. Auch wenn sie nichts ausmachen konnte, so spürte sie doch ganz deutlich neugierige Blicke auf ihrem ganzen Körper.

»Hallo! Ist da jemand?« Claires Stimme verhallte in der Dunkelheit. Doch es folgte keine Antwort. Lauerte da jemand im Gebüsch. Marks Worte kamen ihr wieder in den Sinn. »Du wirst Freiwild für jedes männliche Wesen sein!«

»Alles Quatsch,« sagte Claire laut zu sich selbst, »das sind bestimmt nur irgendwelche Igel, die ihr Liebesleben in meinem Garten austoben.«

Aber im Hinterkopf grübelte sie insgeheim, ob es überhaupt Igel auf Gran Canaria gab. Letztendlich gab sie ihrem mulmigen Gefühl nach, und beschloss den Tag zu beenden und zu Bett zu gehen.

Sie räumte schnell noch das Geschirr in die Küche und verschloss sorgfältig alle Fenster und Türen, bevor sie sich zur Ruhe begab.

***

Die Insel der vergessenen Hunde

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