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ОглавлениеKapitel 3
M
cGinnis hatte dem Dienstwagen reichlich die Sporen in die Flanke gedrückt und das Gaspedal des weißen Range Rovers kräftig durchgetreten. Keine dreißig Minuten waren seit dem Verlassen des Yards und ihrem Eintreffen am Tatort vergangen. Dort waren bereits die Kollegen der ›Fatal Accident Inquiry‹ mit der Spurensicherung beschäftigt, aber auch die stets unvermeidliche Meute an Pressefotografen und Journalisten der Regenbogenpresse hatte sich eingefunden. Wie immer war sie dabei, an möglichst viel Bildmaterial und Fakten zu gelangen, jederzeit bereit, auch aus Halbwissen oder reiner Vermutung, eine, die Auflage steigernde, Schlagzeile zu fertigen. Mit ordentlichem Journalismus, wie ihn sich Blake gewünscht hätte, hatte das zumeist nicht mehr viel zu tun. Eine saubere Recherche, die ihre Zeit brauchte, und damit dem Geschehen hinterherhinkte, war zu einem Anachronismus geworden, wie eine Schreibmaschine unter lauter Computern. Sie schien obsolet – schlicht überholt zu sein.
Als die beiden aus ihrem Dienstfahrzeug kletterten, stürmten die ersten Presseleute bereits auf sie zu, um Informationen für ihre, noch zu schreibenden Artikel zu erhalten. Fragen prasselten auf sie ein, und einige drückten ihnen dabei fast schon ihre Mikrophone ins Gesicht. Aber Blake und McGinnis wussten zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig wie die Zeitungsleute.
Während Blake noch damit beschäftigt war, sich aus der Umzingelung der Lohnschreiber zu befreien, hatte es McGinnis bereits geschafft, sich von der Meute zu lösen und bis zum leitenden Pathologen der Gerichtsmedizin durchgeschlagen, um sich von diesem den Toten zeigen zu lassen und erste Informationen zu bekommen. Doktor Gordon Lestrade und McGinnis kannten sich seit etlichen Jahren und hatten schon zuvor an zahlreichen ähnlichen Schauplätzen zusammengearbeitet. Gerade erst hatten sie einen gemeinsamen Fall abgeschlossen, bei dem zwei weibliche Leichen direkt aus den Kühlfächern der Pathologie verschwunden waren, nur um später auf sehr mysteriöse Weise an anderer Stelle wieder aufzutauchen[1].
»Hallo, Gordon!«, begrüßte er mit seiner klangvollen tiefen Stimme, die so manchem Tenor zur Ehre gereicht hätte, den Mediziner, der neben der, zum Teil abgedeckten Leiche kniete.
Seine Worte gingen im Lärm eines tieffliegenden Hubschraubers unter.
»Verfluchte Reporter!« McGinnis starrte zum Helikopter empor, der jetzt recht niedrig über ihre Köpfe hinwegflog. Es war ein rotweißer, dessen Kennung er nicht auf Anhieb erkannt hatte. Soweit er sehen konnte, waren aber keine Kameras installiert. Er trat einen Schritt zurück und zeigte verärgert auf jeden einzelnen der Medienvertreter im Umkreis von hundert Yards.
»Der Van dort«, klärte er den Pathologen und einen danebenstehenden Sergeant auf, den er noch nie zuvor gesehen hatte. »Rundfunk! Irgend so ein hinterwäldlerischer Lokalsender mit so einer Prominudel namens Kate, die in schöner Regelmäßigkeit ergreifende Geschichten über das Leben, ihres missratenden Sohnes und dessen dreibeinigen Hund namens Jerk erzählt. Ein anderer Sender steht da drüben, und der Ford Escort auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehört zu einem echten Käseblatt. Dürfte die Klatschpostille namens ›Evening Standard‹ sein. Dahinter steht ›The London Paper‹.« Er wies auf einen Vauxhall. »Auf die Lady muss man aufpassen, die Blondine mit den irre langen Beinen, das ist Layla Morrison! Kaum vorstellbar, dass die bei dieser Wetterlage im dünnen kurzen Kleid und High Heels rumläuft! Vermutlich ist sie der Auffassung, dass die Jungs dann eher mit ihr reden.«
»Reg‘ dich nicht auf, Cyril. Du bist lange genug bei der Truppe und weißt genau wie das abläuft! Du wirst die morbide Neugier der Leute nicht abstellen können«, unterbrach ihn Lestrade, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Er hatte sich an McGinnis‘ Tiraden gegen die Einseitigkeit und Verlogenheit der Medien gewöhnt und hörte ihm zumeist kaum noch richtig zu.
Der Chef-Pathologe des Yard erhob sich. Freundschaftlich klopfte er McGinnis auf die Schulter.
»Du brennst sicher darauf zu erfahren, ob es ähnliche Anzeichen wie bei den letzten Opfern gibt, nehme ich an«, lächelte der Mittfünfziger. Mit dem abgestumpften, gleichgültigen Blick eines Menschen, der ständig Umgang mit dem Tod hatte, betrachtete er die Leiche zu seinen Füßen.
»Du vermutest richtig«, brummte McGinnis und nickte. »Kannst du mir denn schon was sagen?« Er deutete auf den Toten. »Sieht doch auf den ersten Blick verdammt ähnlich aus«, meinte er, während er sich mit einer Hand durch die wenigen Haare fuhr und sich nachdenklich am Kopf kratzte.
»Stimmt, so sieht es aus«, erwiderte Lestrade gedehnt, der sich nur ungern direkt festnageln ließ, »zumindest tut es das, auf den ersten Blick, wie du selbst gesagt hast.«
»Dann dürften wir hier das dritte Mordopfer haben«, meinte McGinnis dumpf. »Also ein Serienkiller!«
»Netter Versuch, Cyril, aber ich werde mich diesbezüglich noch nicht festlegen. Ich sagte: Stimmt, so sieht es aus, zumindest tut es das, auf den ersten Blick«, schmunzelte der Mediziner, gespielt vorwurfsvoll, und sich selbst zitierend. »Wie immer bedarf es noch einer eingehenden Untersuchung, um sicher zu sein, dass der Mann auch tatsächlich auf die gleiche Art und Weise ums Leben gekommen ist, wie Eltringham und Asbury.«
McGinnis zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Manteltasche und quälte sich in die, für ihn immer noch zu kleine XXL-Version hinein. Lestrade betrachtete sein Tun mit einem spöttischen Lächeln, und McGinnis honorierte es mit einem strafenden Blick.
»Kein Wort!« fügte er drohend, aber nicht ernst gemeint hinzu. Dabei verzog er genervt das Gesicht. »Ich will nix hören!«
Kaum hatte es geschafft, seine mächtigen Pranken in die zu engen Gummihandschuhe zu bekommen, ging er neben dem Toten auch schon in die Hocke und deutete auf dessen Augen.
»Petechiale Einblutungen, wie ich sehe«, kommentierte er fachmännisch. Er sah zu Lestrade auf. »Hast Du mal einen Holzspatel für mich?«
»Sicher«, griente der Arzt und reichte ihm einen aus seinem Koffer.
McGinnis öffnete den Mund des Toten und besah sich gründlich dessen Zunge.
»Wie ich es mir dachte. Hier sind auch Einblutungen zu finden«, murmelte er zufrieden vor sich hin. »Dann finden sich auch welche in den Ohren«, dozierte er halblaut weiter, betrachtete einen Augenblick eingehend das Gesicht des Toten und drehte anschließend dessen Kopf leicht zu beiden Seiten. »Dazu die Zyanose der Gesichtshaut, Stauung und Dunsung der Gesichtsweichteile, eine Speichelabrinnspur, und hier ...«, er deutete auf den Hals des Mannes, »deutlich sichtbare Strangulationsmarken.«
»Das ist alles richtig, Cyril! Ausgezeichnet!«, lobte der Pathologe lächelnd. »An dir ist ein Mediziner verloren gegangen. Wenn du mal keine Lust mehr hast, bösen Jungs … oder auch Geistern hinterher zu jagen … in meinen Katakomben bist du herzlich willkommen.« Dann wurde er wieder ernst. »Hast du dir, abgesehen von den eindeutigen Symptomen, auch mal sein Gesicht genauer angesehen?« Seine Stimme klang jetzt leicht distanziert. »Der Mann hat einen völlig verzerrten Gesichtsausdruck, … fast schon, wie bei einem Geisteskranken.«
»Ist mir auch schon aufgefallen, Gordon. Erinnert stark an Eltringham und Asbury«, erwiderte McGinnis zustimmend, während er die Leiche wieder sorgsam abdeckte. Er stand auf, mehr gab es momentan nicht zu begutachten.
»Aber, wie ich schon sagte, Genaues gibt es erst nach der Obduktion.« Lestrade zog sich die Latexhandschuhe von den Händen und steckte sie in einen kleinen Plastikbeutel. »Sobald ich fertig bin, lasse euch meinen Autopsiebericht zukommen. Allerdings kann ich nicht versprechen, ob ich es heute noch schaffe. Auf mich warten zuvor noch zwei andere Kunden. Ich würde sagen, … spätestens Morgen.«
»Was ist mit Hancock?«, erkundigte sich McGinnis, der nur ungern bis zum nächsten Tag warten wollte. »Kann er dir nicht zur Hand gehen?«
Lestrade schüttelte bedauernd den Kopf.
»Nee, der ist gar nicht da. Curt wurde vom Personalbüro genötigt, endlich seinen noch offenen Resturlaub vom letzten Jahr anzutreten.« Der Pathologe packte seine Tasche zusammen. »Du weißt es doch selbst, wir sind chronisch unterbesetzt, laufend wird gespart, vor allem am Personal, Überstunden und Urlaub sammeln sich an. Ich tue mein Möglichstes, Cyril, versprochen! Wenn Du möchtest, darfst du mir aber gerne dabei behilflich sein!«
»Danke, ich kann mich beherrschen!«, bemerkte McGinnis trocken und zog beim Gedanken an die Gerüche, die an Lestrades Arbeitsplatz vorherrschten, angewidert die Nase kraus. »Aber zumindest nervt dich deine Klientel nicht. Bei uns sieht das ja anders aus.«
»Na, was glaubst du, warum ich Pathologe geworden bin«, erwiderte Lestrade mit einem breiten Grinsen. »Ist doch ein tolles Fach. Stimmt, ich habe keine nörgelnden Patienten, keine jammernden Angehörigen und in der Regel auch keine nächtlichen Notfälle. Außerdem ist der permanente Geruch im Sektionsbereich auch nicht wirklich übel - zieht sogar in die Klamotten ein. Hätte ich eine Freundin, müsste ich Kliniker werden.« Ein warmes Lachen folgte. »Und mal so nebenbei, Cyril: Der Internist weiß alles, kann aber nichts. Der Chirurg kann alles, weiß aber nichts. Aber der Pathologe kann alles und weiß auch alles ... auch wenn es zu spät kommt.«
»Mit anderen Worten: Dir macht es richtiggehend Spaß, postmortal Klugscheißern zu dürfen!«, konstatierte Blake, dem es endlich gelungen war, die zahlreichen Journalisten hinter sich zu lassen und zu den beiden herüber zu kommen. Die letzten Worte Lestrades waren ihm nicht entgangen. Er schüttelte ihm zur Begrüßung die Hand.
»Hallo, Gordon! Sieht aus, als wärst du schon wieder auf dem Rückzug.« Kameradschaftlich stieß er dem Arzt gegen den Oberarm. »Das war ja eine kurze Vorstellung.«
»Na, was soll ich dir sagen … er läuft mir nicht mehr weg und die Lieferung erfolgt später frei Haus«, scherzte Lestrade auf den Toten deutend, fügte dann aber ernst hinzu: »Hier gibt es für mich nichts weiter zu tun, Isaac, und ehrlich gesagt, ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir. Der Bursche hält mich ganz schön auf Trab!« Damit spielte der brillante Pathologe auf den Mörder an, der, wenn er so weitermachte, einen neuen traurigen Rekord in der Kriminalstatistik des New Scotland Yard ausmachen würde. »Wir sehen uns später im Yard!« Er hob die Hand, winkte kurz und eilte mit seinem Arztkoffer davon.
Blake wandte sich an seinen Partner und Kollegen. »Und?« Fragend hob er dabei eine Augenbraue, fischte gleichzeitig eine Zigarette aus dem Päckchen in seiner Hemdtasche und schob sie sich zwischen die Lippen. »Wie sieht es aus?«, fragte er, während er sein Feuerzeug hervorholte und sich seinen Glimmstängel ansteckte.
»Gordon meint, dass wir den ausführlichen Befund spätestens Morgen auf dem Tisch haben. Vorab fand er nur den seltsamen Gesichtsausdruck der Leiche ungewöhnlich … Ich muss ihm recht geben. Kannst ja mal selbst einen Blick auf den Mann werfen.«
»Tote schauen drein, wie Tote nun einmal dreinschauen«, bemerkte Blake lakonisch, beugte sich dann aber doch leicht zur Leiche hinunter und hob das Tuch ein wenig an. »Stimmt, eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden«, bestätigte er, legte das Tuch wieder ab und trat einen Schritt zurück. »Ich glaube, da kommt was Größeres auf uns zu«, sinnierte er laut, und McGinnis wusste, dass er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Irgendwie werde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass wir ungewöhnliche Fälle anziehen, wie das Aas die Schmeißfliegen«, knurrte er missmutig.
Weder er noch McGinnis ahnten, wie nah er damit der Wahrheit kommen sollte. Ein weiterer außergewöhnlicher Fall hatte begonnen, einer, bei dem nicht auszuschließen war, dass sie vielleicht wieder einmal ihr Leben aufs Spiel setzen mussten …