Читать книгу Das Haus des Schreckens - Elise Lambert - Страница 9
ОглавлениеKapitel 6
A
rchibald Gabhams Hals war wie ausgetrocknet. Er schrie so laut er konnte, und doch schien es ihm, als käme nicht ein einziges Wort über seine spröden Lippen. Er hatte das Gefühl, das die eisige Hand des Todes nach ihm gegriffen habe. Er war in Panik.
»Was um alles in der Welt hast du vor, Cedric?«, kreischte Gabham. »Um Gottes Willen, Cedric, nein tue es nicht! Ich bitte dich! Was habe ich dir denn nur getan? Warum willst du mich umbringen?«
Angsterfüllt wollte er aus- und zurückweichen, aber er schaffte es nicht. Seine Beine bewegten sich nicht um einen Inch. Wie festzementiert blieben sie stehen, so als hätten sie tiefe Wurzeln in den Boden geschlagen. Ungläubig starrte er auf die, zum tödlichen Streich erhobene Kettensäge in den Händen seines Gegenübers, wissend, dass er ihr nicht entgehen würde.
Noch einmal versuchte er den Angreifer von seinem mörderischen Vorhaben abzubringen.
»Bitte! Cedric!«, schrie Archibald Gabham voller Verzweiflung. »Was immer du von mir willst, du kannst es haben!«
Aber Cedric ging auf sein Flehen nicht ein. Gnadenlos, und durch nichts in der Welt aufzuhalten, senkte sich das Schwert der laut tösenden Kettensäge auf Gabham herab. Instinktiv versuchte er seinen Kopf mit den Armen zu schützen, gerade so, als könne er dadurch das, sich abzeichnende Unheil noch abwehren.
Es war ein vergeblicher Versuch!
»O Gott, nein«, röchelte er, »ich will nicht sterben.«
Er schrie auf, als ihn das verchromte Sägeblatt samt Kette traf, die Haut aufriss und ihm die, über dem Kopf überkreuzten Hände abtrennte. Brüllend vor Schmerz, sah er seine Hände auf den Boden fallen und das, aus den Stümpfen hervorspritzende Blut.
Dann war es vorbei!
Die Kettensäge hatte seinen Schädel bis hinunter zum Hals gespalten!
Gabham spürte nicht mehr, wie sein Kopf nach rechts und links aufklappte, und wie er leblos zu Boden in die Lache seines eigenen Blutes sackte, bis auch die letzte Kraft aus seinem Körper entwichen war.
Schweißgebadet erwachte Archibald Gabham aus seinem Albtraum. Mühsam richtete er sich im Bett auf. Er fühlte, wie sich sein eben noch rasender Herzschlag verlangsamte und sich sein Blutdruck wieder normalisierte. Er fing an, sich zu entspannen. Seine Atmung ging allmählich wieder gleichmäßiger und auch seine weit aufgerissenen Pupillen verengten sich. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, die nach und nach den Hals hinuntertropften. Er zog sich seinen triefend nassen Pyjama aus und wischte sich durch das Gesicht.
»Dieser verfluchte Traum!«, knurrte er kopfschüttelnd. »Warum nur! Immer und immer wieder dieser verdammte Traum!«
Dieser furchtbare Albtraum quälte ihn schon seit einigen Wochen und wollte ihn nicht mehr loslassen. Es war immer exakt der gleiche Traum, bis ins kleinste Detail absolut identisch. Er unterschied sich nur in einem Punkt von denen davor: von Mal zu Mal wurde er realistischer! Inzwischen kam es Gabham so vor, als hätte er das alles gar nicht mehr geträumt, sondern tatsächlich erlebt.
Es wurmte ihn gewaltig. Er, der glaubte, ein mit allen Wassern gewaschener, cleverer Geschäftsmann zu sein, war mit den Nerven runter und zwar richtig – einfach fix und fertig! Und dass er sich die Zusammenhänge dieses Traumes nicht erklären konnte, tat ein Übriges dazu. So sehr er auch darüber grübelte, er fand dafür keine plausible Erklärung. Ganz besonders bedrückte ihn die unheimliche Regelmäßigkeit, mit der sich dieser Albtraum wiederholte. Es war ihm schier unbegreiflich, warum ihn Cedric umbringen wollte.
»Ich verstehe es nicht, Cedric«, murmelte er vor sich hin. »Es gab doch nie auch nur irgendein böses Wort zwischen uns.« Grübelnd fuhr er sich mit den Händen durch seine, mittlerweile schütter gewordenen, leicht ergrauten Haare. »Und Cedric, was noch schlimmer ist: Du bist seit über einem Jahr tot!«
Er versuchte sich zusammenreißen und nicht weiter darüber nachzudenken, denn je mehr er es tat, desto mehr fing er an, an seinem Verstand zu zweifeln.
Archibald Gabham war ein gefragter Jurist. Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums der Rechtswissenschaften an der renommierten Fakultät der ›University of Leicester‹, war er in die Kanzlei seines Vaters eingetreten. Mit dem Abschluss hätte sich jede Tür für ihn geöffnet, aber er hatte sich bewusst für die väterliche Kanzlei entschieden. ›Gabham & Gabham‹ war eine der ältesten und angesehensten Anwaltskanzleien von London, die sogar zum sogenannten ›Magic Circle‹ gehörte, wie man im allgemeinen Sprachgebrauch die fünf Kanzleien Londons mit den größten Umsätzen auch bezeichnete. Die großzügigen Büros befanden sich in bester Lage, nämlich in dem 2012 fertig gestellten ›Shard of Glas‹-Tower, im Stadtteil Southwark, in der zwölften Etage. Er selbst bewohnte in dem pyramidenförmigen, eintausendundsiebzehn Fuß hohen Wolkenkratzer, der zum Londoner Portfolio der, in Katar herrschenden Familie Al Thani gehörte, eine Luxussuite im vierundsechzigsten Stockwerk. Nach dem Tod seines Vaters war die Kanzlei hierher umgezogen und er selbst hatte die Leitung als einziger Chef übernommen.
Gabham konnte sich noch ausgezeichnet daran erinnern, wie alles angefangen hatte. Es war nun fast fünf Jahre her. Cedric Slaughter war ein junger Jurist, der gerade seinen Abschluss mit Auszeichnung gemacht und sich bei ihm um eine offene Stelle beworben hatte. Der junge, dynamische Mann war ihm auf Anhieb sehr sympathisch gewesen. Wie so oft hatte Gabham auf sein Bauchgefühl bei der Mitarbeiterauswahl gehört und Slaughter hatte ihn nicht enttäuscht. Schon bald nach dessen Antritt in der Kanzlei entwickelte sich zwischen dem jungen Mann und ihm ein freundschaftliches Verhältnis. In vielen Dingen hatten sie die gleiche Auffassung und auch in ihren Interessen waren sie sich sehr ähnlich. Fast täglich hatten sie sich noch nach der Arbeit getroffen und waren in eines der zahlreichen Nobelrestaurants des ›Shard‹ gegangen. Mal war es das ›Hutong‹, um dort ein exzellentes nord-chinesisches Dinner zu genießen, mal das ausgezeichnete ›Oblix‹ im zweiunddreißigsten Stockwerk oder das ›Aqua Shard‹ mit seiner berauschenden Aussicht über London.
Am liebsten jedoch hatten sie ihre gemeinsamen Abende im, in der Archer Street gelegenen, ›Boca Di Lupo‹, einem hervorragenden italienischen Restaurant, verbracht, wo sie sich mit der Zeit auch mit dem Inhaber angefreundet hatten. Hier frönten sie ausgiebig ihrer gemeinsamen Vorliebe für Spaghetti Bolognese, für Cannelloni und Lasagne. Außerdem schätzten sie die herben roten Landweine, die ›Vino Tipicos‹, die der Inhaber direkt aus seiner Heimat importierte. Immer wieder bedauerten sie, dass das ›Boca Di Lupo‹ bereits um dreiundzwanzig Uhr schloss, denn sie wären bei angeregten und freundschaftlichen Gesprächen gern länger geblieben.
Und dann passierte es!
An einem dieser Abende!
Ein schreckliches Unglück!
Seitdem kam Gabham nicht mehr zur Ruhe, laufend musste er daran denken, denn es hätte sowohl ihn als auch seinen Freund Slaughter treffen können. Nur war er selbst an diesem Abend auf der Innenseite des Bürgersteiges gelaufen, und nicht wie so oft an der Bordsteinkante entlang – so wie es Slaughter an diesem denkwürdigen, grauenhaften Abend getan hatte.
Sie waren gerade aus dem ›Boca Di Lupo‹ gekommen und auf dem Weg zu Gabhams nagelneuen Mercedes-Maybach S 600, als sie das fürchterliche Kreischen von Autoreifen hörten.
Und dann ging alles sehr schnell!
Viel zu schnell!
Zu schnell, um zu reagieren!
Seinem Freund war keine Zeit mehr geblieben, die tödliche Situation zu erfassen und sich rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu bringen. Eines der weltbekannten Londoner Taxis, ein ›Black Cab‹, wie sie liebevoll genannt wurden, musste einem mit überhöhter Geschwindigkeit dahinrasenden Sportwagen ausweichen, um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden. Der Fahrer hatte blitzschnell reagiert und sein Taxi Richtung Bordstein herumgerissen. Er konnte nicht ahnen, dass in diesem Augenblick die beiden Anwälte um die Hausecke biegen würden. Der Fahrer hatte keine Chance, auch auf diese Gefahrenlage zu reagieren. Zwar bremste er instinktiv, erwischte Slaughter aber dennoch frontal. Drei Tage später verstarb Gabhams Freund, im ›St. Mary’s Hospital‹ in Paddington, an den Folgen seiner schweren Schädelverletzung.
Gabham selbst hatte es unter größter Anstrengung, mit einem weiten Hechtsprung geschafft, sich aus der tödlichen Situation zu befreien
In seinem Kopf klopfte es, wie wild.
Es rauschte in seinen Ohren.
Warum nur, fragte er sich ein ums andere Mal, wollte ausgerechnet Cedric ihn töten? Gerade ihn, mit dem er doch immer das beste Verhältnis hatte?
Er konnte es einfach nicht stoppen. Immer wieder lief dieser grauenhafte Traum vor seinem geistigen Auge ab, in dem er erst ganz langsam, dann schneller und schneller werdend auf dieses Haus zulief, dass er inzwischen nur zu gut kannte und von dem er genau wusste, was ihn dort erwartete. Er versuchte sich dagegen zu wehren, aber da war etwas, das hatte Besitz von ihm ergriffen und zwang ihn immer wieder aufs Neue dazu, dorthin zu gehen. Sein ganzes Denken und Handeln wurde von einer, ihm unbekannten Kraft gelenkt. Wie eine Motte, die vom Licht einer Glühbirne angezogen wird, ging er einem stetigen Blinken nach, dessen unheimlicher Strahl von einem Spiegel zu kommen schien. Er blinzelte mit den Augen, versuchte die Quelle auszumachen, konnte sie aber nicht erkennen. Erst als er immer näherkam, wurde der Gegenstand deutlicher.
Ihm stockte der Atem, denn das was er für einen Spiegel gehalten hatte, war das riesige, spiegelblanke Schwert einer Kettensäge. In einem Zustand intensiver Angst wollte er weglaufen, aber es ging nicht. Aus irgendeinem Grund zog ihn die Kettensäge magisch an. Die Spiegelkraft war so stark, dass er geblendet die Hand vor seine Augen halten musste. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Er wollte sich abwenden, doch er vermochte es nicht. Die Säge wirkte auf ihn wie ein Magnet, dem er sich nicht mehr entziehen konnte.
Plötzlich zeichneten sich in ihrem Hintergrund die Konturen eines Mannes ab, …
… es war Cedric Slaughter!
Archibald Gabham begann lauthals zu schreien!
Schreie die ungehört blieben!
Dann verdunkelte sich das glänzende Blatt der Kettensäge. Es war matt geworden. Blut klebte daran. Es war sein Blut, und sein Körper lag auf dem Fußboden, von oben nach unten in zwei Teile zertrennt.
Gabham, eigentlich ein seelischer und körperlicher Koloss, bekannt für seine unbeugsame Härte, war am Ende. Nichts davon war am Schluss des Traumes übriggeblieben. Seine Augen hatten jeden Glanz verloren und den Ausdruck eines Toten angenommen. Er musste alle Kraft aufbringen, um seinen massigen Körper zum Wandschrank zu schleppen. Mit zitternden Händen griff er nach einer Whiskyflasche, drehte den Verschluss ab und setzte sie direkt an die Lippen. Als er die Flasche wieder absetzte, war sie bis auf ein Viertel geleert.
Das Zittern hatte etwas nachgelassen. Der Alkohol half ihm, sich wieder ein wenig besser in Griff zu bekommen.
Gabham ging zu seinem Schreibtisch und ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. Es dauerte eine Weile, ehe er sich aufrappelte und zum Smartphone griff. Schnell hatte er die gesuchte Nummer gefunden. Endlich ertönte das Freizeichen. Es verursachte einen höllischen Lärm in seinem Kopf und er glaubte, dieser würde ihm jeden Augenblick platzen.
Dann, endlich!
Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine, ihm wohlbekannte Stimme.
»Dr. Abdelghani«, klang es etwas verschlafen.
»Gabham! Archibald Gabham!«, stieß er aus. »Habe ich Sie aus dem Bett geholt?«
Ein verhaltenes freundliches Lachen ertönte am anderen Ende.
»Schon, aber nicht der Rede wert«, erwiderte Abdelghani. »Was ist denn los, Mister Gabham?«
»Ich ... Es ist mal wieder so weit, Doktor«, stockte der Anwalt mit einem zerknirschten Unterton in der Stimme. »Ich halte das einfach nicht mehr aus.«
»Können Sie mir genauer sagen, was mit Ihnen nicht stimmt?«, erkundigte sich der Mann mit dem ägyptisch klingenden Nachnamen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Gabham antwortete nicht gleich.
»Letzte Woche im Club, erinnern Sie sich?«, antwortete der Anwalt, nachdem er sich etwas gefangen hatte. »Ich hatte Sie schon darauf angesprochen.«
»Ach ja, jetzt weiß ich es wieder«, bestätigte Abdelghani. »Was halten Sie davon, wenn Sie mich morgen aufsuchen? Wir werden Ihr Problem dann in aller Ruhe besprechen.«
»Danke, Doktor! Ich werde kommen.«
»Gut«, erwiderte Abdelghani und beendete das Gespräch mit einem: »Gute Nacht, Mister Gabham!«
Als Gabham auf das Hörersymbol drückte und das Gespräch endgültig beendete, fühlte er sich ein wenig erleichtert. Die Worte des Psychiaters hatten ihn etwas beruhigt. Wenn ihm jemand helfen konnte, da war er sich sicher, war es dieser Mann, und schließlich musste jetzt endlich etwas geschehen. Noch hielt er sich nicht für völlig verrückt, aber lange würde es nicht mehr dauern.