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Kapitel 5

C

hief Inspector Blake und Inspector McGinnis saßen sich an ihren Schreibtischen gegenüber. Zum wiederholten Mal sahen sie sich die Obduktionsberichte von John Eltringham und Paul Asbury an.

»Egal, wie oft ich mir die Berichte ansehe, ich komme nicht umhin festzustellen, dass die Morde in irgendeiner Weise in Verbindung stehen«, murmelte Blake vor sich hin, aber durchaus so laut und verständlich, dass McGinnis ihn noch klar und deutlich verstehen konnte. »Die Fälle weisen in ihrer Anlage und Art der Ausführung einfach eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Das kann meines Erachtens kein Zufall sein.«

»Daran glaube ich auch nicht. Ich kann dir aber nicht sagen warum …« Mit der linken Hand klappte McGinnis den Pappordner vor sich zu und legte ihn beiseite, während er sich mit der rechten Hand den verspannten Nacken massierte, » ... auf mich macht das sehr den Eindruck, dass wir es mit einem Verrückten, einem Wahnsinnigen, zu tun haben.« Er griff nach seinem Kaffeepott und nahm einen kräftigen Schluck. »Ich will ja nicht unken, aber …«

»Dann lass es auch lieber«, unterbrach ihn Blake und warf ihm einen strafenden Blick zu, denn er ahnte schon, was sein Kollege ihm sagen wollte.

»… bei unserem Glück in der letzten Zeit?«, konnte sich McGinnis nicht verkneifen noch hinzuzufügen, ließ es aber als Andeutung im Raum stehen.

»Du denkst an übersinnliche Vorkommnisse«, ging Blake nun doch auf ihn ein. »Ich halte diesen Gedankengang zu diesem Zeitpunkt für verfrüht.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln einmal heftig auf die Tischplatte, und setzte damit auch optisch und akustisch den Punkt nach ›verfrüht‹. Dann er stand auf, schritt zum Fenster hinüber und öffnete es einen Spalt. Es war Zeit für eine Zigarette. Er holte das Päckchen Benson & Hedges hervor, klopfte einen der Glimmstängel heraus, zündete ihn an, inhalierte tief und blies den Rauch nach draußen. »Und selbst wenn ... letztlich ist das Sir Christopher völlig egal.«

»Ist mir schon klar«, entgegnete McGinnis mit einem süffisanten Schmunzeln. »Unserem Chief Superintendent geht es wie immer nur darum, dass wir den Killer schnellstens ausfindig machen und zur Strecke bringen.«

Blake nickte zustimmend.

»Nicht nur ihm! Er hat vor nichts mehr Sorge als vor negativen Schlagzeilen. Wenn wir nicht bald liefern, zerreißt uns die Presse.« Er drehte sich herum und sah seinen Kollegen an. »Sag mal, Cyril, hast du schon den Obduktionsbefund von diesem Richard Dobbs?«

»Nein«, antwortete McGinnis. »Der wird gerade von Gordons Sekretärin geschrieben. Magenta hat vor einer halben Stunde mit ihr gesprochen. Ihr wurde zugesichert, dass sie den Bericht, sobald sie damit fertig ist, direkt vorbeibringt.«

»Gut, dann dauert es ja nicht mehr lange«, erwiderte Blake. Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette, warf McGinnis einen fragenden Blick zu und deutete auf dessen Kaffeepott. »Ich könnte jetzt auch erstmal einen vertragen, und ... hast du eigentlich schon gefrühstückt? Ich habe Hunger.«

»Ich dachte, du hättest mit Kimberly schon etwas gegessen«, erwiderte McGinnis schmunzelnd, und ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen.

»Ich wollte sie nicht wecken«, gab Blake lächelnd zurück. »Wie ein Engel hat sie dagelegen.«

Für einen Moment schweiften seine Gedanken zu seiner zauberhaften Verlobten, die es hervorragend verstand, ihn nach Dienstschluss auch einmal seine Arbeit für einige Zeit vergessen zu lassen – Zeit, die auch ein Vollblutprofi, wie er, benötigte, um gewisse Dinge aus einem anderen Gesichtswinkel zu betrachten.

»Ja, dass kenne ich gut«, grinste McGinnis. »Betrachte Felicity auch gern, wenn sie sich eingekuschelt hat und einzunicken beginnt. Dann frage ich mich oft, woran sie wohl gerade denkt – was sie träumt.«

»Nimm dir Zeit, um zu träumen. Das ist der Weg zu den Sternen«, schmunzelte Blake. »Zumindest sagen das die Iren. Du bist mir ausgewichen, Cyril. Interesse an Frühstück?«

»Aber immer doch«, lachte McGinnis und amüsierte sich insgeheim über die neue romantische Seite an seinem Freund, »als wenn du das nicht genau wüsstest. Ich werde Magenta bitten, uns ein paar Sandwiches zu bringen.« Und mit einem Blick auf seinen fast leeren Kaffeepott: »Und starken, heißen Kaffee! Genau das Richtige.«

McGinnis stemmte seine mächtige Gestalt aus dem Ledersessel und ging ins Vorzimmer. Blake hörte das Stimmengemurmel, immer wieder vom erfrischenden Lachen ›Magentas‹ unterbrochen. Ein paar Minuten später kehrte McGinnis an seinen Schreibtisch zurück.

Eine Viertelstunde später klopfte es an der Tür und Lauren Marshall betrat das Büro. In ihren Händen hielt sie ein Tablett mit einigen Sandwiches, die sie in der hauseigenen Kantine besorgt hatte. Vorsichtig stellte sie das Speisenbrett in der Mitte der beiden Schreibtische ab, nachdem Blake einige Akten beiseitegeschoben und auf diese Weise Platz geschaffen hatte. Dann lief sie noch einmal hinaus und kam mit einer Thermoskanne zurück.

»Wünsche den Herren einen guten Appetit«, lächelte die attraktive Vierundzwanzigjährige, während sie den beiden Kaffee in ihre Becher füllte.

»Herzlichen Dank, Magenta!«, bedankte sich Blake und lud sie ein: »Wenn Sie möchten, dürfen Sie sich gern zu uns setzen.«

»Sehr nett, Sir. Danke für die Einladung, aber ich habe schon gegessen und auf meinem Tisch wartet eine Menge Arbeit auf mich«, entschuldigte sie sich und huschte wieder hinaus.

»Da kann man nichts machen«, kommentierte McGinnis die Szene und langte direkt nach drei der Sandwichecken, um sie gleich darauf sorgfältig aufeinander zu stapeln. Im nächsten Schritt drehte er die Brotscheiben geschickt mit der linken Hand und sorgte dafür, dass auch tatsächlich jede Kante perfekt auf der nächsten lag. Als er mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden schien, biss er herzhaft in sein sechsstöckiges Kunstwerk aus Käse, Speck, Marmelade und Weißbrot. Kaum geschehen, spülte er auch schon mit einem großen Schluck Kaffee nach, nur um direkt noch einmal hineinzubeißen.

Blake, der sich wieder mit einer Akte beschäftigte, nachdem er sich auch ein Stück genommen hatte, hatte es irritiert aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Unmerklich schüttelte er missbilligend den Kopf. Er hatte schon des Öfteren einen Anlauf nehmen wollen, um sich mit seinem Partner mal ausführlich über dessen Essgewohnheiten zu unterhalten, es aber schlussendlich, aus Gründen der Höflichkeit, immer wieder unterlassen.

Eine gute Stunde später traf der Obduktionsbefund von Richard Dobbs ein. Gordon Lestrades Sekretärin brachte ihn, wie zugesagt, persönlich vorbei. Blake und McGinnis waren gerade dabei, sich mit einigen Vermisstenanzeigen zu beschäftigen, bei denen ein Kapitalverbrechen nicht ausgeschlossen werden konnte.

»Ist dir eigentlich aufgefallen, dass sich die Rate der Vermisstenanzeigen in den letzten zwei Monaten drastisch erhöht hat?«, erkundigte sich McGinnis beiläufig, während er wieder eine Akte zur Seite legte. Er hatte ein nahezu foto-grafisches Gedächtnis. Dennoch suchte er immer wieder nach Details, die ihm möglicherweise entgangen waren. »Die meisten von ihnen sind bislang nicht mehr aufgetaucht. Ziemlich ungewöhnlich, wie ich finde.«

Blake nickte zustimmend. Wieder griff er zu seiner Schachtel Benson & Hedges. Dann holte er einen Aschenbecher aus der untersten Schreibtischschublade, stellte ihn vor sich ab und zündete sich eine Zigarette an.

»Stimmt, das ist tatsächlich recht ungewöhnlich«, erwiderte er und griff nach seinem Kaffee. Er betrachtete die glänzende schwarze Oberfläche und bewegte den Becher nachdenklich eine Weile, gerade so, als sei der Kaffee ein wertvoller Wein, den es zu genießen galt. Dann erst nahm er einen großen Schluck. »Mein Gefühl sagt mir, dass das vielleicht mit unserem Fall in Verbindung steht. Nur mit Fakten kann ich das nicht untermauern. Es ist und bleibt eben ein unbestimmtes Gefühl.«

Er klappte die Akte, die er sich gerade angesehen hatte, zu und legte sie zur Seite. Sein nächster Griff galt dem Obduktionsbericht.

»Halsgefäßkompression, insbesondere der Jugularvene mit massiver Zirkulationseinschränkung im Gehirn. Atemwegsverlegung durch Tracheakompression«, las er laut vor, so dass auch McGinnis dem Inhalt des Befundes folgen konnte. »Äußere Befunde: Drosselmarke, Stauung und Dunsung des Gesichts, leichter Blutaustritt aus Nase und Mund, petechiale Blutungen in den Augen, der Gesichtshaut und den Schleimhäuten. Innere Befunde: kräftige Einblutungen der Halsmuskulatur und der Kopfschwarteninnenfläche, vor allem unterhalb der Drosselmarke. Weitere Einblutungen der Knochenhaut des Schädeldaches, der Hals-, Nacken- und Rückenmuskulatur. Frakturen von Zungenbein und oberen Schildknorpelhörnern. Petechiale Blutungen der Kehlkopfschleimhaut, sowie der serösen Häute, Pleura visceralis, Perikard und Thymuskapsel. Querstreifige Unterblutungen der Zungengrundmuskulatur, des Gaumenbogens und des Pharynx. Feinblasiger, schaumiger Inhalt der Trachea.« Er ließ einen Teil aus und fasste den Befund mit eigenen Worten zusammen. »Der Tod erfolgte durch eine anhaltende ventrikuläre Tachykardie, vermutlich infolge von übergroßer Anstrengung und Stress. Diagnose: Plötzlicher Herztod.«

»Also, wie ich es vermutet habe«, bemerkte McGinnis, nachdenklich vor sich hin nickend. »Alle drei Befunde sind quasi identisch.«

»Stimmt.« Blake nahm noch einen Zug und drückte den Rest seiner Zigarette in den Aschenbecher. »Bei allen drei Opfern handelte es sich um ältere Herren, die einen schweren Herzfehler hatten. Und alle starben an Herzversagen auf Grund von Stress, der, wie es aussieht, wohl auf eine Strangulation zurückzuführen ist.«

»Ich gehe davon aus, der Killer hat sie ausspioniert, und sehr genau über sie Bescheid gewusst. Alle waren alleinstehend – keine Ehefrauen, keine Verwandten, die im näheren Umfeld leben«, bemerkte McGinnis, der gerade den Rest seines Sandwiches in sich hineingestopft hatte und begann, ein weiteres Kunstwerk vor sich aufzutürmen.

»Aber mal abgesehen davon, dass der Killer sie vermutlich persönlich kannte, gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen dem ersten und den beiden anderen Morden ...«, McGinnis lauerte auf Blakes Reaktion. Als der nichts sagte, fuhr er fort: »Paul Asbury und Richard Dobbs haben ein nicht gerade unbeachtliches Vermögen besessen. John Eltringham hingegen hat in dieser Richtung nichts aufzuweisen. Und da ist noch eine Kleinigkeit, die vielleicht von Bedeutung sein könnte ...«

Blake fuhr sich nachdenklich über seine buschigen Augenbrauen.

»Du meinst, dass Eltringhams Leiche fünf Meilen entfernt von den anderen gefunden wurde!«, ergänzte er jetzt direkt.

»Ganz genau, das meine ich«, bestätigte McGinnis lächelnd.

Blake legte Gordon Lestrades Bericht zur Seite.

»Fällt schwer zu glauben, dass alle einen Herzfehler hatten und infolge Stress daran verstorben sind«, sinnierte er halblaut. »Tod durch Strangulation wäre für mich einleuchtender gewesen. Das ist einfach so unvorstellbar, dass es kein Zufall sein kann!«

»Jedenfalls können wir einen Fehler seitens der Pathologie ausschließen«, brach McGinnis eine Lanze für die Arbeit Lestrades. »Gordon ist eine wahre Kapazität auf seinem Gebiet.«

»Ich zweifle ja auch gar nicht an der Richtigkeit seiner Ausführungen«, stellte Blake klar, lehnte sich im Sessel zurück, schloss die Augen und dachte nach. Nach einer Weile setzte er sich wieder auf und sah McGinnis durchdringend an. »Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, dass es bei diesen Fällen so gar keinen Hinweis gibt, der uns auf die Spur des Mörders bringt«, murmelte er. »Und schon gar nicht will ich auf den nächsten Mord warten, der uns eventuell auf die richtige Fährte führt.«

»Dann bleibt uns im Augenblick nur eins zu tun«, stöhnte McGinnis. »Wir müssen die Akten von Eltringham und Asbury noch ein weiteres Mal gründlich durchgehen.«

»Und vielleicht kann uns H.O.L.M.E.S. dabei unterstützen«, ergänzte Blake lächelnd und bezog sich dabei auf das ›Hole Office Large Major Enquiry System‹, die Kriminaldatenbank, des New Scotland Yard und dessen Apronym, das zu Ehren von Sir Arthur Conan Doyles berühmter Romanfigur Sherlock Holmes gewählt worden war. »Irgendetwas wird sich sicher finden lassen, irgendeine Kleinigkeit, die uns auf den ersten Blick vielleicht unbedeutend erscheint.«


Das Haus des Schreckens

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