Читать книгу Mrs Palfrey im Claremont - Elizabeth Taylor - Страница 9
ОглавлениеKapitel Vier
Am Samstagabend zog Mrs Palfrey ihr bestes perlenbesetztes Kleid an und besprühte ihr Taschentuch mit Lavendelwasser. Bevor sie nach unten ging, nahm sie einen verschlossenen Briefumschlag aus der Schublade und steckte ihn in ihre Handtasche. Obwohl ihre Bewegungen langsam und bedächtig waren, fühlte sie sich unruhig und bang.
Am Donnerstagabend hatte sie dem Ober – in Hörweite von Mrs Arbuthnot – gesagt, sie erwarte am Samstag einen Gast zum Essen.
»Dann kommt Ihr Enkel also doch endlich zu Besuch«, hatte Mrs Arbuthnot auf ihrem langsamen Weg an Mrs Palfreys Tisch vorbei gesagt, und aus irgendeinem Grund, nach dem sie später noch suchte, ließ Mrs Palfrey sie wortlos weiterziehen.
Zum ersten Mal, seit sie Witwe geworden war, ließ sie sich zu einer Unwahrheit hinreißen. Ja, im Grunde hatte sie seit der frühen Kindheit nicht gelogen, es sei denn für ihren Mann – um Arthur Cocktailpartys zu ersparen, die er hasste, oder unverschämte Einheimische abzuwimmeln, wenn er müde war. Nun versuchte sie – durch Weglassen –, mit einer aus ihrer Sicht faustdicken Lüge davonzukommen, und fragte sich, ob sie oder Ludo dem gewachsen sein würden.
Immerhin war er ja gewillt gewesen, dabei mitzumachen; hatte keinerlei Skrupel gehabt, wie sie selbst; hatte das Ganze eher als Jux betrachtet.
Sie hatte ihn in der Kassenhalle von Harrods aufgespürt. Dort war es herrlich warm – und es war ein bitterkalter, böiger Nachmittag –, und er saß zurückgelehnt in seinem bequemen Sessel und schrieb emsig vor sich hin, ohne die ermatteten oder angespannten Leute in den Sesseln um sich herum weiter wahrzunehmen. Mrs Palfrey näherte sich ihm nervös, blieb vor ihm stehen und hüstelte. Als er den Kopf hob, schienen seine Augen noch eine andere Welt zu sehen, eine innere Welt, in der er allein gewesen war.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe«, sagte Mrs Palfrey, von seinem benommenen Blick nur noch mehr verunsichert.
Daraufhin stand er, mit einem Fächer aus Zetteln in der Hand, auf. Er lächelte.
Neben ihm war ein Sessel frei, und sie setzte sich und begann, ihn mit leiser, zaghafter Stimme in ihren Plan einzuweihen. Er verstand schnell, worum es ging, und ergriff Partei für sie gegen Mrs Arbuthnot und ihre gefürchtete Herablassung. »Ich habe sie wortlos weitergehen lassen«, sagte Mrs Palfrey. »Und nun ist es zu spät.« Sie ließ den Blick über die Kunden in den anderen Sesseln schweifen und war tief beschämt über das, was sie ihm zu sagen gehabt hatte, und doch war es nichts gegen die Demütigung, die Mrs Arbuthnot ihr zugefügt hätte. Lediglich neben Ludo zu sitzen, erleichterte sie schon ein wenig.
Er hatte ihr mit gespannter Miene zugehört, als traute er seinen Ohren nicht: Seine Augenbrauen waren hochgeschossen und dort geblieben. Er war fast schön, dachte sie, und der Gedanke erschreckte sie derart, dass ihr Blick von seinem Gesicht wegflog und sich auf einen seiner Schuhe heftete, der mit flappender dünner Sohle vor und zurück schwang.
»Wir bleiben ganz unter uns«, versprach sie. »Es ist nur für den Fall, dass ich Sie vorstellen muss – im Vorübergehen, wissen Sie. Es sind ziemlich neugierige Leute. Ist das zu viel verlangt? Oder muss ich zurückgehen und Mrs Arbuthnot eine Erklärung liefern?«
»Um Gottes willen, nein! Ich werde mich endlos amüsieren!«
»Um Viertel nach sieben dann. Ich werde im Aufenthaltsraum sitzen. Wir trinken ein Glas Sherry vor dem Essen.« Sie errötete ein wenig angesichts ihrer Kultiviertheit, der Idee, diesen jungen Mann einzuladen, und ihrer gemeinsamen Schuld. Sie erhob sich und streckte die Hand aus. Wieder packte er seine Zettel zusammen und stand auf. »Ich werde Sie Desmond nennen«, sagte sie.
»Himmel!«, war alles, was er darauf erwidert hatte.
Als Mrs Palfrey durch den Aufenthaltsraum zur Bar ging, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Aber nicht von Mrs Burton, die wieder mit ihrem Schwager zusammensaß, lachte und trank und sonst niemanden beachtete.
Die Schuhe machten Mrs Palfrey Sorgen. Den anständigen dunklen Anzug hatte sie ja in Ludos Souterrain-Zimmer hängen sehen, in der Hinsicht war sie ganz beruhigt. Aber diese alten Schuhe, die er bei Harrods getragen hatte, mit der losen Sohle … angenommen, er hatte keine anderen.
Ihre Ängste bestätigten sich: Er hatte keine anderen. Er kam in den Aufenthaltsraum und fiel beinahe der Länge nach hin, weil besagte lose Sohle sich zurückbog, als sie den dicken Teppich berührte.
Seine Contenance war erstaunlich. Er lenkte die Blicke aller Anwesenden von seinen Füßen weg, indem er mit ausgebreiteten Armen auf Mrs Palfrey zuging. Sie geriet in Panik, fürchtete, er würde es mit seiner Enkelrolle übertreiben; doch er kam mit genau dem richtigen Maß an Zuneigung, Vertrautheit und Respekt zu ihr und küsste sie leicht auf die Wange. Gleichzeitig nahm er die seltsame, an ein welkes Blütenblatt erinnernde Weichheit ihrer Haut wahr und speicherte diese Beobachtung für den späteren Gebrauch. Wie auch den Altersgeruch, der zu komplex war, als dass er ihn schon hätte beschreiben können.
Mrs Palfrey, die ihn nicht weiter auf diesem risikobehafteten Teppich herumlaufen lassen wollte, stand selbst auf und drückte auf den Klingelknopf. Als sie zu ihrem Sessel zurückkam, bat sie ihn, sich zu setzen.
»Was möchtest du trinken, Desmond?«
»Was immer unter den Umständen angebracht ist«, sagte er mit leiser Stimme; dann lehnte er sich zu ihr vor und fragte: »Wer ist der alte Knacker da drüben, der mich wie verrückt anstarrt?«
»Später«, sagte Mrs Palfrey und mied Mr Osmonds Blick.
Es war ein voller Erfolg. Beim Essen würden sie so viel zu bereden haben. Sie hatte Befürchtungen deswegen gehabt; dass er missmutig und zu jung sein und das Ganze bedauern würde; doch nun stand sie unter dem Einfluss von Charme – eine neue Zutat in ihrem Leben. Die ungeflickten Schuhe waren ein Spleen. Sie strahlte.
»Würden Sie uns zwei Gläser Sherry bringen, Antonio« sagte sie zum Ober. »Medium dry, denke ich. Einverstanden, Desmond?«
Ludo neigte den Kopf.
Diese Worte hatte Mrs Palfrey vorhin, als sie sich fertig machte und in ihrem Zimmer hin und her ging, leise vor sich hingesprochen: »Medium dry« hatte sie mit weltgewandter Miene gesagt und sich selbst im Spiegel betrachtet, während sie die größte Perle genau in die Mitte ihrer Kette rückte.
»Und dürfte ich um die Speisekarte und die Weinkarte bitten?«, fügte sie hinzu, wie sie es ebenfalls geprobt hatte.
Der Ober verzog seinen schmalen Mund seitwärts, was Erstaunen ausdrücken sollte. In diesem Hotel schauten die Gäste beim Fahrstuhl auf die Karte oder warteten im Restaurant still und leise auf das, was sie erwartete. À la carte war eine Farce.
Ludo lehnte sich entspannt zurück, doch seine Augen schossen hin und her und registrierten alles, registrierten, wie Mrs Arbuthnot ihn registrierte und was für ein Gewese Mrs Post, in ihren traurigen Potpourri-Farben, um ihr Strickzeug machte.
»Da drüben ist Mrs Arbuthnot«, sagte Mrs Palfrey leise zu Ludo. »Die mit den Stöcken.«
»Das dachte ich mir. Vor der würde ich an Ihrer Stelle keine Angst haben. Auch wenn Sie hier offenbar die Neue sind.«
»Natürlich. Mrs Arbuthnot ist seit Jahren im Claremont.«
»Es ist ihr in die Seele gedrungen.«
»Aber sterben lässt man uns hier nicht.«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte.
»Aber ist das denn nicht traurig?«, fragte sie.
»An Ihnen kann ich nichts Trauriges entdecken«, sagte er. Ich darf es jetzt nicht aufschreiben, dachte er; aber bitte, Gott, mach, dass ich es mir merke. Sterben lässt man uns hier nicht. Von Ludovic Myers.
Mrs Post eilte vorbei und zog zum Gruß leicht den Kopf ein. Sherry wurde gebracht, und Mrs Palfrey reichte Ludo die Speisekarte. »Wir können à la carte essen, wenn Sie möchten«, sagte sie kühn.
Während er an seinem Drink nippte und schweigend die Speisekarte studierte, begann sie, ihm geräucherten Lachs aufzudrängen. Nervös nahm sie wahr, dass Mrs Arbuthnot sich ihnen auf ihrem Weg in den Speisesaal Schritt für Schritt näherte. Bei ihnen angelangt, blieb sie stehen. »Da haben Sie ja endlich Ihren Enkel«, sagte sie zu Mrs Palfrey, sah dabei aber Ludo an, der schnell aufstand und dabei seine Schuhsohle hinunterdrückte.
Obwohl sie nicht einmal aus dem Augenwinkel zu ihr schaute, spürte Mrs Arbuthnot Mrs Palfreys Nervosität, als diese ihr ihren Enkelsohn vorstellte. Sie wunderte sich darüber, während sie ein, zwei Sätze an Ludo richtete. Er schien ihr trotz seines beklagenswerten Schuhwerks doch ein recht vorzeigbarer junger Mann zu sein. Dass er gebildet war, wussten sie ja alle.
»Hat das Britische Museum sonntags geöffnet?«, fragte sie ihn.
»Aber ja, es ist einer der Tage, an denen bei uns am meisten los ist«, sagte Ludo geschmeidig, und Mrs Palfrey wurde von einer Welle der Bewunderung und Erleichterung erfasst.
»Darüber würde ich gern mehr hören«, sagte Mrs Arbuthnot, und erneut spürte sie Mrs Palfreys Anspannung – ein jäh verändertes Atmen, ein kurzes Zucken. »Aber jetzt«, sagte sie, »muss ich zum Essen hineingehen.«
Im Schneckentempo erreichte sie die Tür.
»Jesses!«, sagte Ludo. »Jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Diese bösen alten Augen.«
»Sie hat oft große Schmerzen«, sagte Mrs Palfrey.
»Wir müssen unsere fünf Sinne beisammenhalten«, sagte Ludo. »Ich denke übrigens, ich nehme Suppe und dann das Kalb«, sagte er, rücksichtsvoll vom table d’hôte wählend.
»Na ja, schneller geht das wahrscheinlich«, sagte Mrs Palfrey.
Auf dem Weg in den Speisesaal nahm sie seinen Arm, aber nicht, um sich auf ihn zu stützen, sondern um ihn halten zu können, falls er wieder stolperte.
»Also, Großmama«, sagte er, sah sich um und entfaltete lächelnd seine Serviette, »jetzt habe ich aber richtig großen Hunger.«
Desmond hatte sie immer »Oma« genannt, was sie nie gemocht hatte, schien es doch der Name für eine zahnlose Mummelgreisin zu sein. Bei »Großmama« richtete sie sich sofort etwas gerader auf.
Sie erwiderte sein Lächeln, beugte sich vor und sagte leise: »So weit, so gut.«
Ihre Komplizenschaft verband sie. Nach den ersten zögerlichen Momenten ihrer Verlegenheit bei Harrods hatte sie verstanden, dass ihre Täuschung – ihrer beider Täuschung – leicht genommen werden musste; eher als Jux. So hatte Ludo es beschrieben.
Mrs Burton brach wiederholt hemmungslos in Gelächter aus. Ihr Schwager saß zurückgelehnt da und freute sich sichtlich über seine Fähigkeit, sie zu belustigen.
»Sie amüsiert sich ja blendend«, sagte Ludo.
»Ja. Mrs Burton ist recht mondän. Sie trinkt gern, geht oft aus und lässt wer weiß wie viel Geld beim Friseur. Sie lebt praktisch dort.«
»Es muss ziemlich teuer sein, hier zu wohnen«, sagte Ludo in unbekümmertem Ton.
»Ja, so ist es. Sehr teuer.« Sie sah ihn über den Tisch hinweg an, und er wusste, dass das Thema beendet war. All diese reichen alten Damen, dachte er.
Er aß die Suppe und das Kalb mit einer Art konzentriertem Hunger, der Mrs Palfrey großes Vergnügen bereitete. Sie tat etwas für ihn so wie er etwas für sie, und als er das Glas hob, um ihr zuzuprosten, spürte sie, dass man sie an den anderen Tischen beobachtete, und hatte zum ersten Mal, seit sie ins Claremont gezogen war, das Gefühl, beneidet und geachtet zu werden. Die Kellnerinnen bewegten sich durch den Saal wie Schlafwandlerinnen.
»Die Portionen sind nicht sehr groß, fürchte ich«, sagte sie, als er Messer und Gabel nebeneinander auf den Teller gelegt hatte. »Sie sind wohl für gebrechliche alte Damen bemessen.«
»Herrliches Essen«, sagte er. »Ich habe selten so viel Spaß gehabt – vollständig bekleidet.«
Das sagte er ganz automatisch, während er fortfuhr, Brotscheiben zu buttern und sie heißhungrig zu essen.
Sie errötete, von ihm unbemerkt, und gab dem Ober ein Zeichen, er solle ihm nachschenken. Sie war hin- und hergerissen bei Ludo – mal unsicher, dann wieder sicher –, genauso wie damals, vor langer Zeit, als sie sich in Arthur verliebt hatte: in jenen frühen Tagen, bevor sie sich ganz sicher gewesen war.
Der Ober brachte ein paar trist aussehende Stücke Käse, und Ludo schnitt sich dicke Brocken davon ab, während Mrs Palfrey sich zurücklehnte; sie konnte nichts mehr essen, freute sich aber an seinem Appetit.
»Der Camembert ist hervorragend«, sagte er. Eigentlich war es, wie sie wusste, ein kreideartiger Rest vom Rand irgendeines Bries. Sie lächelte und nickte.
Mit großer Sorgfalt butterte er einen kleinen Cracker, balancierte etwas Käse darauf und hielt ihn ihr hin. Er schwenkte ihn vor ihrem lachenden Mund hin und her, ihren abwehrend wedelnden Händen, und schob ihn ihr dann geschickt zwischen die Zähne.
»Ihretwegen wird Ihre Großmutter die ganze Nacht mit Verdauungsstörungen wach liegen«, presste Mrs Arbuthnot zwischen verzogenen Lippen hervor, als sie auf dem Weg hinaus an ihrem Tisch vorbeikam. Mrs Palfrey schluckte den Cracker hinunter und hatte das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben oder lächerlich gemacht worden zu sein.
Als Mrs Arbuthnot davonhumpelte, zog Ludo hinter ihrem Rücken eine Grimasse, und erneut war sich Mrs Palfrey nicht sicher – gar nicht sicher.
»Sie war an meinem ersten Abend hier sehr freundlich zu mir«, sagte sie. »Als ich mich ziemlich elend fühlte. Sie hat mich eingeladen, mit in den Fernsehraum zu kommen. So etwas vergisst man nicht.«
Sie machte sich kurz äußerst unbeliebt, als sie darum bat, dass man ihnen den Kaffee am Tisch servierte, und als er kam, war der Speisesaal abgesehen von ein paar schlechtgelaunten Fremden sowie Mrs Burton und ihrem Schwager, die sich halb totlachten und Brandy tranken, so gut wie leer. So konnten sich Ludo und Mrs Palfrey zwangloser unterhalten, mussten nicht mehr fürchten, belauscht zu werden. Vorher waren ihnen ein, zwei Fehler unterlaufen – Mrs Palfrey, indem sie ihm Dinge erzählte, die er als ihr Enkel hätte wissen müssen, und er, indem er sich despektierlich über seine Mutter äußerte und dabei vergaß, dass sie ja angeblich Mrs Palfreys Tochter war. Sie hatte ihm schnell das Wort abgeschnitten; aber nur um der Schicklichkeit, nicht um ihrer selbst willen. Auf ihre je eigene Weise waren sie beide zu ehrlich für dieses Spiel.
»Ich nehme keinen Zucker«, sagte sie. Er dagegen rührte sich mehrere Löffel davon in den Kaffee. »Aber früher habe ich ihn auch gern so getrunken«, fügte sie wie zur Entschuldigung hinzu.
»Schön für Sie.« Er rührte weiter in seinem Kaffee, blickte dann plötzlich auf und lächelte.
Es kam ihr vor, als sprächen sie verschiedene Sprachen, die der andere jeweils nur halb beherrschte. Mit Desmond hatte sie sich nie so gefühlt; und andere junge Leute kannte sie nicht.
»Ich denke, ich begleite Sie nach dem Kaffee hinaus – wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte sie. »Es ist sicher nicht sinnvoll, noch einmal in den Aufenthaltsraum zu gehen und womöglich lauter Fragen gestellt zu bekommen.«
»Nein, wir sollten unser Glück nicht herausfordern.«
»Und Sie müssen ja auch mit Ihrem Buch vorankommen. Ich will nicht zu viel von Ihrer Zeit beanspruchen.«
Sie fühlte sich auf einmal erschöpft: freudig gestimmt, aber erschöpft. Sie sehnte sich danach, jetzt allein zu sein, in ihrem Zimmer herumzuhantieren, sich bettfertig zu machen und innerlich den Abend Revue passieren zu lassen.
»Hier ist Ihr Taschentuch«, sagte sie und nahm den Briefumschlag aus ihrer Handtasche. Er schien verwirrt. »Als ich mir das Knie verletzt habe –«, fügte sie hinzu.
»Ist es in Ordnung? Ihr Knie, meine ich.« Er steckte den Umschlag ein und blickte sich auf dem Tisch um. Nichts mehr zu essen da. »Na, jetzt fühle ich mich gut für die nächste Woche gerüstet. Es war großartig.«
»Ich hoffe, Sie kommen einmal wieder«, sagte sie bang.
Sie sah den zweifelnden Ausdruck auf seinem Gesicht und schaute schnell weg.
Nachdem sie ihn zur Tür begleitet hatte, ging sie in den Aufenthaltsraum, setzte sich eine Weile hin und wartete darauf, dass die Wirkung des Kaffees nachließ. Mrs Burton und ihr Schwager waren zur Bar zurückgekehrt. Manchmal, wenn er sie zum Lachen gebracht hatte, stieß sie ihn mit dem Ellbogen leicht an. Mr Osmond saß da und starrte vor sich hin, während sich seine Hand auf der Armlehne hob und senkte wie zu einem Musikstück, das nur er hören konnte. Mrs Arbuthnot blätterte missgelaunt die letzten Seiten des neuesten Snow um und knallte dann das Buch zu. »Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, aber ich habe den Eindruck, er wird immer schlechter«, sagte sie und dann, etwas direkter, zu Mrs Palfrey: »Ihr Enkel schien sein Essen ja sehr zu genießen.«
»Er scheint alles zu genießen«, sagte Mrs Palfrey beglückt.
»Und ist dermaßen um Sie bemüht«, sagte Mrs Post mit wehmütiger Stimme.
»Er war schon immer sehr liebevoll.«
»Ein gutaussehender junger Mann.«
»Ach, er erinnert mich so sehr an meinen Mann. Als wir uns kennenlernten.« Mrs Palfrey erschrak selbst, als sie sich das sagen hörte.
»Wirklich?«
»Ja, es ist beinahe unheimlich.«
»Wie er Sie mit Crackern vollgestopft hat«, sagte Mrs Arbuthnot plötzlich gereizt, außerstande, noch mehr von Mrs Palfreys Selbstzufriedenheit zu ertragen. Sie beugte sich vor und massierte ihr geschwollenes Knie.
»Ja, er ist ein kleiner Schäker«, sagte Mrs Palfrey.
»Da er nun endlich aufgetaucht ist, werden wir ihn ja sicher häufiger zu Gesicht bekommen.«
»Das nehme ich an«, sagte Mrs Palfrey mit (für Mrs Arbuthnot) spürbarem Unbehagen.
Mrs Post strickte weiter vor sich hin und bewegte dabei stumm die Lippen. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich Watte in die Ohren gesteckt. Als sie eine Reihe fertig hatte, sah sie mit glasigem Blick auf und sagte: »Ja, ein nett aussehender junger Mann«, und wandte sich wieder ihrem Muster zu.
An diesem Abend ging Mrs Palfrey als Erste nach oben.
Als Ludo nach Hause kam, fror er, denn er hatte keinen Mantel. Er beschloss, sich vor dem Zubettgehen den Luxus eines halbstündigen Feuers zu gönnen, kniete sich vor den Ofen und rieb sich die Hände. Als ihm warm geworden war, griff er nach einem Notizbuch, klappte es auf und fing an zu schreiben. Die Überschrift lautete »Erforschung von Mrs Palfrey«. Eine Zeitlang schrieb er stetig, grübelte, runzelte die Stirn, notierte schließlich: »Sterben lässt man uns hier nicht.« Dann legte er das Buch weg und zog sich aus. Dabei fand er den Briefumschlag in seiner Tasche und öffnete ihn. In dem gewaschenen und gebügelten Taschentuch lagen ein gefalteter Fünfpfundschein und eine kleine Karte. In großer, überraschend theatralischer Handschrift stand dort: »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.«
Mrs Palfrey schlief gut und ohne Unterbrechungen, und ihre Lippen waren entspannt, als wäre sie kurz davor zu lächeln.
Mrs Arbuthnot dagegen gab die Hoffnung auf Schlaf nach der Hälfte der Nacht auf. Ihre steifen Glieder waren eine Qual für sie, und jeder Versuch, eine bequemere Lage zu finden, schmerzte. Sie schaltete das Licht ein und beschloss, den C. P. Snow noch einmal in Angriff zu nehmen. Aber sie hatte den Faden verloren und nicht genügend Geduld, ihn wieder aufzugreifen. Sie verübelte es Mrs Palfrey, das Buch ausgesucht, und dem Autor, es geschrieben zu haben.
Im Bett sitzend, blickte sie sich im Zimmer um. Es hatte den gleichen Zuschnitt – kleinen Zuschnitt – wie Mrs Palfreys. Ihr Mann hätte sich beim Management beschwert, und das hätte Wirkung gezeigt. Früher war ihr immer bang gewesen, wenn er das tat, denn sie selbst hatte dazu geneigt, alles klaglos hinzunehmen. Inzwischen beschwerte sie sich unablässig, und es zeigte überhaupt keine Wirkung. Mit jener blitzartigen, scheußlichen Klarheit, wie sie nur um drei Uhr nachts möglich ist, erkannte sie, dass sie sich ausschließlich bei Untergeordneten beschwerte, bei ihresgleichen, die nichts auszurichten vermochten. Ihr Mann war immer direkt zur Quelle gegangen, wie sie damals gern sagte. Sie hatte Angst vor den Quellen. Ihr Mann hatte sie – bei all seiner Herumkommandiererei – vergleichsweise schlecht versorgt zurückgelassen, und die Quelle interessierte sich allein dafür, dass das Hotel rentabel blieb. Sie steckte alte Frauen zu einem Preis, den diese sich gerade noch leisten konnten, in die schlechtesten Zimmer; denn wer nur eine Nacht blieb (zusätzliche Wäschekosten), hätte einen Aufstand gemacht.
Mrs Arbuthnot unterwarf sich der Quelle noch aus einem anderen Grund. Die Zeit, da sie mit ihren blockierten und geschwollenen Gelenken und all dem Schmerz nicht mehr allein zurechtkommen würde, rückte näher, und das wusste sie. Das Claremont war das letzte bisschen Freiheit, das ihr blieb, und sie wollte es so lange wie möglich behalten. Sie kannte den Ablauf, sah ihn voraus. Ihre vollständige Invalidität; ein Pflegeheim, das mehr kostete als das Claremont und wo sie die ganze Zeit im Bett bleiben müsste, weil es für das Pflegepersonal so bequemer war. Oder der Umzug zu einer ihrer Schwestern, die sie nicht haben wollten. Oder – am Ende – die geriatrische Station irgendeines Krankenhauses.
Hier kann ich nicht sterben, dachte sie, mitten in dieser Nacht. Und bis dahin dauert es vielleicht noch Jahre. Arthritis brachte einen nicht um. Man konnte damit weiter und weiter leben, eine hoffnungslose Last für andere; am Ende sinkender Komfort wegen steigender Preise. Für sie war das Claremont gerade so bezahlbar. Ohne Frage würde es für sie abwärts gehen.
Und nun begann sie, äußerst verbittert an Mrs Palfrey zu denken – wie viel Wein sie getrunken hatte, und ihre geröteten Wangen, und der junge Mann, dem sie geräucherten Lachs spendiert hatte, die Portion zu fünf Pfund Sixpence. Sie hatten sich über den Tisch zueinander vorgebeugt, einander ins Gesicht geschaut wie ein Liebespaar. Später, als er ein Stück Brot butterte – er aß so viel Butter, dass der Ober übellaunig geworden war –, hatte er gesagt (Mrs Arbuthnot hatte die Ohren gespitzt): »Mutter ist eine Schlampe, und das ist noch milde ausgedrückt.« »So kann ich dich aber nicht über sie reden lassen«, hatte Mrs Palfrey erwidert – und im nächsten Moment gelacht, als wäre es nicht ihre eigene Tochter, die sie verteidigen müsste. Mrs Arbuthnot hatte ein durch Bosheit geschärftes Gehör und saß nicht weit entfernt; doch obwohl ihr vom Lauschen der Kopf wehtat, war dies alles, was sie mitbekommen hatte.
Mrs Palfrey ist ein Pferd, auf das keiner gewettet hat, dachte sie. Bei diesem unbeabsichtigten kleinen Wortspiel lehnte sie sich wieder ans Kissen, und ihr Lächeln geriet zu einer Grimasse. »Sie sind ein Pferd, auf das keiner gewettet hat, Mrs Palfrey«, werde ich zu ihr sagen. Als sie den Kopf zur Seite drehte, um auf die Uhr zu schauen, knirschte es in ihrem Nacken wie Kristallzucker. Und nun musste sie auch noch ins Bad, den Flur hinunter. So oft in der Nacht war sie gezwungen, die Kraft für diese Tortur aufzubringen. Sie schob es hinaus, döste und schlief ein.