Читать книгу Der Tote unterm Weihnachtsbaum - Elke Boretzki - Страница 5

Kapitel 1

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In einem wunderschönen alten Hotel, verträumt auf dem Gipfel eines Berges gelegen, saß im Foyer des Hauses, elegant lässig in seinem Sessel zurück gelehnt, Kommissar Hans Christian Höflich und nippte genießerisch an seinem Cognac, während er unauffällig eine einzelne Dame beobachtete, die ganz in der Nähe des Eingangs saß und mit besorgtem Gesichtsausdruck die eintreffenden Gäste musterte. Sie wirkte angespannt und sah immer wieder auf ihre Armbanduhr.

„Wer würde eine solche Frau nur warten lassen?“ Höflich konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen und runzelte verwundert die Stirn.

Die Kellnerin nahm am Nachbartisch eine Bestellung auf und lächelte ihm freundlich zu. Höflich lächelte zurück. Sie gefiel ihm. Wenn sie an seinen Tisch kam, würde er noch einen Cognac bestellen.

Plötzlich sprang die schöne Dame von ihrem Platz auf. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte sie zur Eingangstür, vermutlich auf jemanden, der gerade eingetreten war, machte eine hilflose Geste und …

„Kann ich Ihnen noch einen bringen?“

Natürlich würde er noch einen Cognac trinken. Doch musste sie ausgerechnet jetzt stören!

Die Stimme hatte Höflich durcheinander gebracht. Irgendwie passte sie nicht zu der kleinen, rundlichen Kellnerin.

„Kann ich … Herr Kommissar!“

Er sah irritiert auf und begegnete dem fragenden Blick seines hochgewachsenen Assistenten Rosenkranz, der einen Aktenordner von seinem Schreibtisch genommen hatte, um ihn wieder an seinen Platz in den Aktenschrank zu stellen. Dabei stieß er versehentlich mit dem Ordner den Telefonhörer herunter. Schnell nahm er ihn auf und legte ihn wieder auf die Station.

Das Geräusch hatte Höflich aus seinem Tagtraum gerissen. Schnell verblasste das Bild vor seinem inneren Auge. Der Kommissar blinzelte.

Er saß in seinem Büro, das er seit einem halben Jahr mit seinem Assistenten teilen musste, am Schreibtisch. Vor ihm ein heilloses Durcheinander von Schriftstücken, Heftern, Folien und kleinen Zetteln mit lässig hingekritzelten Notizen darauf oder mit Telefonnummern versehen, jedoch ohne den dazu gehörigen Namen, was sie spätestens nach zwei Tagen unbrauchbar machen würden.

„Bringen Sie mir den Ordner …“ Er überlegte. „Ach egal, bringen Sie mir irgendeine Akte von den noch offenen Fällen.“

Der Kommissar seufzte.

Normalerweise wäre er schon längst „über alle Berge“ an seinem Urlaubsort und für die Angelegenheiten der Dienststelle viele Kilometer weit entfernt und damit unerreichbar.

Doch aufgrund eines Krankheitsfalles war kurzfristig der Dienstplan geändert worden, was zur Folge hatte, dass ausgerechnet er, ein hochrangiger Mitarbeiter der Mordkommission, über die Weihnachtsfeiertage Dienst hatte, er und sein Assistent Rosenkranz.

Kommissar Höflich hatte seit vielen Monaten keinen Urlaub gehabt, und ihn daher bitter nötig. Er war eben nicht mehr der Jüngste.

Das und die Tatsache, dass er auch noch an den Feiertagen mit diesem Rosenkranz im engen Büro eingesperrt sein sollte, ließen seine Laune in den Keller sinken.

Missmutig sah er seinem Assistenten dabei zu, wie er sich zielstrebig den richtigen Ordner herausnahm, um ihn dem Kommissar vorzulegen.

Er konnte Rosenkranz nicht leiden. Immer war der an seiner Seite und wollte über alles unterrichtet sein. Der Kommissar war ein Einzelkämpfer. Er arbeitete lieber allein.

Doch in einer Dienststelle wie dieser war das nicht immer möglich und auch nicht ratsam. Das sah er natürlich ein. Auch die Tatsache, dass das Zusammenwirken unterschiedlicher Instanzen gerade dazu beitrug, die Hintergründe eines Falles zu durchleuchten, verborgene Tatsachen zu heben und durch professionelle Methoden zu beweisen.

Schließlich hatte die Zusammenarbeit mit den Kollegen während seiner dreißigjährigen Dienstzeit immer gut funktioniert, fand er, auch ohne dass jemand wie Rosenkranz jeden seiner Schritte beobachtete.

Höflich nahm die ihm dargereichte Akte, blätterte sie oberflächlich durch und legte sie wieder ab. „Wie wäre es mit einem Kaffee, Rosenkranz?“, wandte er sich an seinen Assistenten.

Heute war der vierundzwanzigste Dezember, Heiligabend, ein Tag, an dem sich andere auf die Feiertage einstellten, noch schnell die letzten Weihnachtseinkäufe erledigten, den Weihnachtsbaum schmückten oder das Weihnachtsmenü vorbereiteten.

Und dann gab es die Beneidenswerten unter ihnen, die ihre Koffer gepackt hatten und auf und davon in die Weihnachtsferien gefahren waren. Er dagegen … Höflich blickte auf das Chaos auf seinem Schreibtisch, gähnte und sah auf die Uhr.

Es war fast Mittag, also Zeit für eine Pause. Rosenkranz kam mit zwei Bechern voll dampfenden Kaffees herein, den er vom Kaffeeautomaten geholt hatte. Höflich angelte nach seinen Zigaretten, nahm seinen Kaffee entgegen und schickte sich an, das Büro zu verlassen.

Da klingelte das Telefon. Ausgerechnet jetzt! Höflich zögerte. Wer auch immer jetzt anrief, hatte ein sehr schlechtes Timing.

„Das Telefon klingelt“, meinte Rosenkranz unnötigerweise und sah seinen Chef fragend an.

„Das höre ich selbst!“ Dieser Rosenkranz! Höflich bedachte seinen Assistenten mit einem verärgerten Blick, als wäre er der Störenfried.

Pflichtschuldig ging er an seinen Schreibtisch zurück und nahm den Hörer ab.

„Was gibts?!“, bellte er.

Es war Zettel, ein Kollege von der Polizeidirektion, zwei Etagen tiefer und zuständig für das gesamte Stadtgebiet und auch wie er dazu verdonnert, über die Feiertage Dienst zu tun, das arme Schwein.

„Es handelt sich wahrscheinlich um Mord, Herr Kommissar.“

„So.“

„Ja. Direkt unterm Weihnachtsbaum.“

„Verstehe. Ich komme.“

„Ach übrigens Herr Kommissar, ich hatte bereits mehrmals versucht, Sie zu erreichen. Es war immer besetzt.“

„Wie das? Ich habe nicht telefoniert. Wohl eine Störung, was?“

„Na jedenfalls, die Kollegen von der Spurensicherung sind schon da.“

„Sehr gut!“ Kommissar Höflich knallte den Hörer auf den Apparat. „Tzss.“

Bevor sie aufbrachen, trat Rosenkranz unauffällig an das Telefon und legte den Telefonhörer richtig auf die Station.

Mit quietschenden Reifen hielt das Auto in der Pfotenhauergasse 13, am Rande der Stadt.

Kommissar Höflich hatte eine filmreife Vollbremsung hingelegt, sodass Rosenkranz schützend die Arme vorstreckte, während er nach vorn geschossen kam. Hätte sein Sicherheitsgurt nicht so gute Arbeit geleistet, dann …

Er verzichtete auf eine Bemerkung, als ihm bewusst wurde, dass sein Chef ihn interessiert betrachtete und nun verächtlich den Kopf schüttelte.

Wortlos stiegen beide aus.

Sie standen vor einer imposanten Villa auf einem weitläufigen, parkähnlichen Grundstück. Durch den Zaun sahen sie den Gärtner, der, auf den Schneeschieber gestützt, pausierte und sie neugierig musterte. Im Haus herrschte bereits emsiges Treiben. Kommissar Höflich wurde händeringend erwartet.

„Na endlich! Da sind Sie ja …“ Kirschkern, der Mann von der Spurensicherung, flankiert von seinen Assistenten, kam auf sie zu. „Kommen Sie und sehen sie sich das an!“

Höflich ließ sich nicht drängen. Gemächlich schritt er durch die Eingangshalle ins Wohnzimmer, dem Tatort. Hier lag ganz offensichtlich der Hausherr unter seinem Weihnachtsbaum auf seinem Gesicht und regte sich nicht, während um ihn herum der Boden untersucht wurde.

Man hatte am Tatort noch nichts verändert, denn man wartete auf den Kommissar. Lediglich der Arzt hatte den Toten untersucht, um seine Diagnose zu stellen. Er war es auch, an den sich Kommissar Höflich mit ernster Miene als Ersten wandte.

„Nun Herr Doktor, was können sie mir zur Todesursache sagen?“

„Der Mann, übrigens der Hausherr, wurde mit einem harten, schweren Gegenstand mehrmals am Kopf getroffen, sodass er vom Sessel fiel und kurz darauf verschied, was vor circa zwei bis drei Stunden geschehen sein musste.“

„Gibt es Anzeichen dafür, dass ein Kampf stattgefunden hat?“

Der Arzt verneinte.

„Nein?!“, rief Kommissar Höflich und suchte nach seinem Assistenten, der sich im Zimmer umsah. „Würden Sie sich einfach so mit einem harten Gegenstand eins überziehen lassen? He, Rosenkranz?“

„Eh nein, Herr Kommissar, natürlich nicht. Das Opfer wurde überrascht.“ Rosenkranz hatte sich schnell wieder seinem Chef angeschlossen.

„So! Meinen Sie. Und wie kommen Sie darauf, dass er Opfer einer Gewalttat geworden ist? Vielleicht ist er eingeschlafen, vom Sessel gefallen und so hart mit dem Kopf aufgeschlagen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als zu sterben. Also höchstens ein Opfer seiner eigenen Ungeschicklichkeit, würde ich sagen. Könnte es nicht so passiert sein?!“, forderte er seinen Assistenten heraus.

„Nun, das wäre eine Möglichkeit, doch eher unwahrscheinlich, meine ich.“ Rosenkranz blieb vorsichtig, denn er kannte die spontanen Attacken des Kommissars.

„Das finde ich aber doch. Es muss sich nicht immer um Mord handeln, wenn es einen Toten gibt. Nur wenn ein Unfall ausgeschlossen werden kann, dann … Also sie müssen noch viel lernen, Rosenkranz.“ Mit diesen Worten wandte er sich zwecks eingehender Untersuchung dem Opfer zu.

Rosenkranz nahm sein Notizheft zur Hand und begann die Beobachtungen niederzuschreiben.

Der Tote lag lang hingestreckt auf dem edlen Parkettboden. Ein Bein war leicht angewinkelt. Beim Sturz aus dem Sessel hatte er einen Schuh verloren, der in unmittelbarer Nähe seines Fußes lag. Überhaupt hatte er offenbar zu Lebzeiten großen Wert auf elegantes und teures Schuhwerk gelegt. Denn es handelte sich um ein Paar auffallend schöner brauner Krokodillederschuhe.

Auch die graue Hose war aus edlem Stoff. Über einem weißen Hemd trug er einen roten Kaschmirpullover.

„Er legte scheinbar wert auf besonders edle und teure Kleidung“, warf Rosenkranz ein. „Vielleicht von Armani?“

„Besonders edle Kleidung ist grundsätzlich teuer“, murmelte der Kommissar und starrte mit gerunzelter Stirn auf den roten Pullover. „Doch ob sie immer eine gute Wahl ist …?“

Der Tote selbst war von großer und kräftiger, schon fast massiger Statur. Das lockige, einst dunkle Haar war von vielen grauen Strähnen durchzogen.

An der Schläfe war eine scheußliche Wunde zu sehen, aus der Blut gesickert war und sich auf dem Parkettboden verteilt hatte. Die Arme des Toten lagen unmittelbar neben dem Körper, was vermuten ließ, dass er bereits vor dem Fallen tot oder zumindest bewusstlos war, sonst hätte er sicher versucht, sich abzustützen.

Rechts neben dem Toten stand der bewusste Sessel, aus dem er höchstwahrscheinlich gestürzt war. Neben dem Sessel lag eine aufgeschlagene Zeitung, das Börsenblatt, welches er kurz vor seinem Tod gelesen haben musste.

„Hm, wieso eigentlich …“, überlegte Rosenkranz laut und wies auf die Schleifspur. Aus der Blutlache führte eine Schleifspur ein kurzes Stück in Richtung Tür und hörte dann spontan auf, so als hätte jemand einen schweren Gegenstand vom Tatort weggeschleift und dann aufgehoben und fortgetragen.

„Womöglich die Tatwaffe“, antwortete der Mediziner und wies noch einmal auf die Kopfwunde. „Diese Wunde wurde offenbar durch mehrere Schläge mit einem harten und vermutlich auch schweren Gegenstand herbeigeführt. Dann wurde dieser Gegenstand fallen gelassen. Sehen Sie?“ Er wies auf eine Stelle am Boden, auf der der Gegenstand aufgeschlagen sein könnte. „Dann, vielleicht unmittelbar danach oder auch etwas später, wurde dieser Gegenstand ein Stück auf dem Boden entlanggezogen, aufgenommen und entsorgt.“ Zufrieden verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Da könnten Sie recht haben, lieber Freund.“ Der Kommissar und der Arzt waren alte Bekannte. „Nur, wo befindet sich dieses Ding, die sogenannte Mordwaffe?“

„Nicht meine Sache.“ Damit packte der Mediziner seine Tasche.

„Doch eins ist nun sicher. Es handelt sich um Mord.“ Höflich hatte die letzte Bemerkung des Mediziners freundlich überhört. Seinem Assistenten gönnte er keinen Blick, als er fortfuhr: „Wie ich bereits längst vermutet hatte.“

„Nun“, wandte er sich plötzlich an Rosenkranz, „was wäre denn nun der nächste Schritt, hm?“ Listig belauerte er ihn. Doch Rosenkranz ließ sich nicht verunsichern.

„Nun, der nächste Schritt wäre die Identifikation des Toten und dann die Vernehmung der Zeugen.“

„Hm.“

Es stellte sich heraus, das es sich bei dem Toten um den einflussreichen Geschäftsmann, Anatol Maus, handelte, der neben anderen Unternehmungen der Inhaber des stadtbekannten Gourmetrestaurants „Die Taube“ war. Er war vierundfünfzig Jahre alt, verheiratet und hatte zwei bereits erwachsene Kinder, eine zweiundzwanzigjährige Tochter und einen neunzehnjährigen Sohn.

Von Kirschkern erfuhren sie, dass der Verstorbene, so wie er da lag, von seiner Sekretärin gefunden worden war, die dann umgehend die Polizei benachrichtigt hatte. Sie hätte sehr verstört gewirkt, gaben die beiden Polizisten an, die zuerst am Tatort erschienen waren.

Ebenso wie die besagte Dame wären noch die Ehefrau des Toten und die Köchin im Haus. Sie würden sich alle drei in der Küche befinden. Außerdem gäbe es noch einen Gärtner, der gebeten wurde, sich ebenfalls zur Verfügung zu halten.

Indes wurde die Umgebung des Tatortes weiter nach möglichen Spuren untersucht.

Höflich begab sich, gefolgt von seinem Assistenten, in die Küche. Dort fand er drei Frauen vor. Eine der Frauen, eine kräftige Dame mittleren Alters machte sich mit den Küchengeräten zu schaffen und schien, obwohl es bereits früher Nachmittag war, das Mittagessen vorzubereiten.

Sie hatte ihr blondiertes Haar zu einem Knoten zusammengesteckt und strahlte mit ihrem runden, rotwangigen Gesicht Gesundheit und Lebenslust aus. Sie wirkte wie eine Frau vom Lande, die es gewohnt war, mit anzupacken.

Das musste die Köchin sein.

Sie war genau die Art von Frau, die ihm gefiel. Bei so einer gab es kein Rätselraten, fand er. Da wusste man immer, woran man war. Höflich bedachte sie mit einem wohlwollenden Blick.

Die Küche war groß und geräumig und ebenfalls hier und da weihnachtlich geschmückt.

In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, an dem eine junge Frau saß und leise weinend ihren Kaffee trank. Sie war modisch gekleidet und ihr ebenfalls blondiertes Haar fiel ihr glatt und lang über den Rücken.

Die dritte Frau verhielt sich am unauffälligsten. Eine Aura der Unnahbarkeit umgab sie.

Mit dem Rücken zum Fenster am Fensterbrett gelehnt, trank sie ruhig ihren Kaffee. Sie war ebenfalls eher mittleren Alters, schlank und wirkte, trotz einfacher Hose und Pullover, elegant. Würde Höflich es nicht besser wissen, hätte er sie für die Sekretärin gehalten.

Doch es handelte sich um die Ehefrau des Opfers, Irina Maus.

Daher wandte er sich als Erstes an sie.

Höflich konnte tatsächlich auch höflich sein. Mit großem Taktgefühl sprach er sein Beileid aus und bat um eine Unterredung.

Der Tote unterm Weihnachtsbaum

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