Читать книгу Der Tote unterm Weihnachtsbaum - Elke Boretzki - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеDie Dame des Hauses geleitete ihn und Rosenkranz in die Bibliothek und bot ihnen eine Erfrischung an. Höflich hätte liebend gern einen Weihnachtspunsch angenommen, schon deshalb, weil heute Heiligabend war, doch mit Besserwisser Rosenkranz im Schlepptau und Alkohol während der Arbeit und so, lehnte er dankend und für den Moment betrübt ab.
„Nun, gnädige Frau, wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, wohlauf versteht sich?“
„Vor etwa zwei Wochen“, kam es kühl zurück. Höflich, der sich wenigstens eine Zigarette gönnen wollte und gerade nach ihr suchte, hielt prompt in der Bewegung inne und schaute ungläubig die Frau vor sich an. „Wollen Sie etwa damit sagen, dass sie sich in einem gemeinsamen Leben unter einem Dach nicht öfter sehen?“
„Ich will damit sagen, dass ich vor etwa zwei Wochen hier war und mit ihm gesprochen hatte, während er sich bester Gesundheit erfreute. Von gemeinsamen Leben kann keine Rede sein“, antwortete sie mit der gleichen kühlen Stimme und schob ihm einen Aschenbecher zu. „Danke“, sagte er geistesabwesend und begann leicht zu frösteln. „Verstehe ich das richtig? Sie wohnen also nicht in diesem Haus?“
„So ist es. Ich wohne seit sechs Monaten nicht mehr in diesem Haus.“
„Aha.“ Höflich sah zu seinem Assistenten hinüber und bedeutete ihm mit einer energischen Geste, Notizen zu machen.
Dieser war allerdings damit beschäftigt, die Titel auf den Buchrücken zu entziffern.
Grimmig wandte sich Höflich ab und wieder Frau Maus, der ehemaligen Dame des Hauses, zu.
„Wir benötigen natürlich Ihre neue Adresse. Doch erzählen Sie uns zuerst wann und warum Sie hierher kamen.“
„Ich kam so gegen 9.30 Uhr und klingelte. Als niemand öffnete, beschloss ich zu warten und es später noch einmal zu probieren.“
„Haben Sie denn keinen Schlüssel mehr, Frau Maus?“
„Natürlich habe ich noch einen Schlüssel“, antwortete sie hochmütig. „Doch ich dachte mir, dass ich meinem Mann noch etwas Zeit gebe, denn ich war etwas eher da, als verabredet. So bin ich noch einige Zeit durch den Park gegangen, ganz in der Nähe. So tief verschneit wie jetzt ist er sehr romantisch, wissen Sie.“
„So, ist er das?“ Höflich tat verschwörerisch und zwinkerte seinem Assistenten unauffällig zu. „Hat Sie denn jemand gesehen?“
„Möglich. Ich weiß es nicht. Im Park war ich allein. Brauche ich denn ein Alibi?“ Ihre Stimme klang immer frostiger. Höflich zog die Schultern hoch. „Wie kamen Sie dann herein?“
„Als ich zurückkam, sah ich das Auto der Sekretärin meines Mannes vor dem Gartentor. Ich klingelte noch einmal und wurde von Frau Klingbeil eingelassen. Da war er bereits tot.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, ich sah ihn in seinem Blut unter dem Weihnachtsbaum liegen.“
„War noch jemand im Haus?“
„Nein.“
„Die Köchin?“
„Lulu? Sie kam später, so gegen 12 Uhr, glaube ich. Da war die Polizei bereits da.“
„Was taten Sie dann?“
„Ich sagte der Sekretärin, sie solle die Polizei benachrichtigen.“
„Ah ja, warum taten Sie es nicht selbst?“
Sie sah ihn kalt an. Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es schien, antwortete sie: „Wozu ist schließlich eine Sekretärin da?“
Höflich starrte sie an. Diese Frau war kalt und herzlos. Kein Wunder, dass er fror. Sie war ihm ausgesprochen unangenehm. Am liebsten hätte er ihr eine Antwort an den Kopf geworfen, die sich gewaschen hatte. Er nahm sich zusammen.
„Lässt Sie der Tod Ihres Mannes denn völlig kalt?“ Vorwurfsvoll sah er sie an. Auch Rosenkranz, der sich mittlerweile auf seine Aufgabe zu besinnen schien, betrachtete sie aufmerksam.
Doch die Dame erhob sich. „Falls Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich gern wieder nach Hause fahren. Heute ist schließlich Heiligabend.“
„Das ist es für uns alle.“ Höflich war empört. Höchstwahrscheinlich ihretwegen hatte er das hier auf dem Hals.
„Was wollten Sie eigentlich von Ihrem Mann?“
Sie zögerte etwas, sagte dann aber: „Das, was ich schon seit Monaten versuche mit ihm zu klären. Finanzielle Angelegenheiten.“
„Womöglich Unterhaltszahlungen?“
„Unter anderem. Schließlich haben wir zwei Kinder.“
„Und wo sind diese Kinder?“ Höflich ließ sich seinen Abscheu anmerken. Doch die Frau blieb ruhig, klang jedoch weniger kühl. Das fand zumindest Rosenkranz.
„Mein Sohn studiert in Amerika und verbringt das Weihnachtsfest bei Freunden. Meine Tochter studiert ebenfalls in Amerika. Sie ist jedoch seit Kurzem zurück und wohnt vorübergehend bei mir. Zur Zeit besucht sie eine Schulfreundin.“
„Gut. Es kann sein, dass ich Ihre Tochter ebenfalls vernehmen muss.“
Höflich fühlte sich einerseits abgestoßen von der Kälte dieser Frau, andererseits war er verunsichert. Er schlug ein Bein über das andere und wedelte mit der Hand. „Ich muss Sie beide bitten, die Stadt nicht zu verlassen. Für eventuell weitere Fragen warten Sie bitte …“ Dabei entfiel ihm die Zigarette, landete auf dem weißen, flauschigen Teppich, kullerte ein kleines Stück weiter, wobei sie eine Spur zeichnete, blieb dann liegen und brannte ein Loch hinein.
„ … noch im Haus“, beendete er den Satz, während er erschrocken auf seine Zigarette starrte, die sich eben noch zwischen seinen Fingern befunden hatte.
Dann versuchte er Augenkontakt zu seinem Assistenten aufzunehmen, um ihn mit beschwörenden Blicken zu bedeuten, das Malheur schnell zu beseitigen. Doch Rosenkranz notierte gerade etwas in sein Notizbuch. Auch mehrmaliges Räuspern half nichts.
Höflich fühlte den Blick seiner Gastgeberin auf sich gerichtet. Wenn Blicke töten könnten, kam ihm in den Sinn.
„Sie haben ein Loch in meinen Teppich gebrannt“, hörte er sie sagen.
Schließlich wandte er sich ihr zu. „Das ist mir wirklich …“ Mit diesen Worten sprang er auf, um die Zigarette aufzuheben. Dabei redete er unaufhörlich: „Das war sehr ungeschickt von mir. Tut mir wirklich leid … sehr unangenehm.“
Er hörte eine Tür. Als er sich umwandte, war sie gegangen.
Verärgert sah er seinen Assistenten an, der sich erhoben hatte. „Also Sie …“ Vor Wut wurde er rot. „Wenn ich Ihnen Zeichen gebe, dann reagieren Sie gefälligst!“
„Aber …“
Er ließ Rosenkranz keine Zeit. „Die nächste Zeugin …“ Etwas anderes beschäftigte ihn jetzt. Was hatte sie gesagt? „Sie haben ein Loch in MEINEN Teppich gebrannt.“
Höflich kniff ein Auge zu … „AHA!“
Anita Klingbeil saß steif in einem gemütlichen Sessel der Bibliothek und sah Höflich erwartungsvoll an. Sie hatte gerade ein wenig über sich erzählt. Sie war alleinerziehende Mutter von einer sechsjährigen Tochter. Sie wohnte seit fast zwei Jahren in der Stadt, hatte jedoch noch keine Freunde gefunden.
Ihre Eltern lebten über 100 Kilometer weit entfernt von hier, was sie sehr bedauerte.
Rosenkranz hatte eine Ewigkeit gebraucht, Frau Klingbeil in die Bibliothek zu führen. Auch jetzt noch versuchte er immer wieder ihren Blick einzufangen. Nanu, was geht denn hier vor, dachte der Kommissar. Das konnte ja sogar ein Blinder sehen.
Haha, Blinder und sehen. Guter Witz, schmunzelte Höflich über seinen eigenen einfältigen Scherz in sich hinein.
Sein Assistent, der sonst eher ein mönchisches Dasein führte, hatte sich offenbar in diese blasse Blondine verguckt. Er fuhr sich mit der Hand über das Haar und ordnete es über der kleinen kahlen Stelle an seinem Hinterkopf, die er gern verdeckt hielt.
Nachdenklich betrachtete er die junge Frau. Sie fühlte sich scheinbar nicht wohl in ihrer Haut. Hatte sie etwas zu verbergen?
„Na dann werde ich ihr einmal gründlich auf den Zahn fühlen“, dachte er bei sich.
Gerade wollte er damit beginnen, als ihm sein Assistent zuvorkam. „Kann ich Ihnen vielleicht eine Erfrischung bringen“, wandte er sich mit einem zaghaften Lächeln an die junge Frau.
Was sollte denn das? Höflich warf Rosenkranz einen verärgerten Blick zu. „Später“, sagte er schnell, ehe die Angesprochene antworten konnte. „Das ist hier keine Strandbar oder sowas, wo wir Erfrischungen anbieten“, fuhr er an seinen Assistenten gewandt fort, „sondern …, wir haben einen Mord aufzuklären. Merken Sie sich das Rosenkranz!“
„Wir können doch trotzdem höflich sein“, wehrte sich Rosenkranz, plötzlich sehr rot im Gesicht. Betroffen und verletzt widmete er sich seinen Notizen.
Kommissar Höflich wandte sich erneut seiner Verdächtigen zu. Denn verdächtig ist sie, entschied er. Und so lange sie ihn nicht vom Gegenteil überzeugen konnte, blieb es dabei.
„Nun sagen Sie, seit wann kennen Sie Herrn Maus?“, begann er sein Verhör.
„Ehm, seit fast zwei Jahren etwa. Seitdem ich als seine Sekretärin für ihn arbeite.“
„So. Sie kannten ihn also vorher noch nicht. Richtig?
„Ja“, hauchte sie die Antwort.
„War er ein guter Chef? Waren Sie mit ihm zufrieden?“
„Ja. Doch.“
„Was waren Ihre Aufgaben?“
„Ehm, ich habe seine gesamte Korrespondenz erledigt, war bei Treffen dabei und habe Protokoll geführt, Telefonate und …“
„Aha! War das alles?“
„Ehm, wie meinen Sie das?“
„Persönliches. Hat er Sie aufgefordert, persönliche Angelegenheiten für ihn zu erledigen?“
„Ehm nein. Eh ja. Manchmal. Ich bin … eh, ich meine, ich war ja schließlich seine Sekretärin.“
„Nur?“ Herausfordernd belauerte er sie. Neben sich hörte er seinen Assistenten geräuschvoll Luft holen. „Eh, wie meinen Sie …?“
„Herr Kommissar, vielleicht sollten …“ Weiter kam Rosenkranz nicht. Denn eine schnelle herrische Handbewegung seines Vorgesetzten gebot ihm zu schweigen. Dabei hatte Höflich die junge Frau nicht aus den Augen gelassen.
Unruhig rutschte sie auf der Kante ihres Sessels herum. Ihr Blick flackerte zwischen den beiden Männern hin und her und senkte sich schließlich auf ihren Schoß, wo sie ihre Hände so sehr ineinander verschränkte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Nun, ich denke, Sie haben mich schon verstanden“, sagte Kommissar Höflich dann.
„Ehm nein. Entschuldigen Sie. Ich glaube, ehm, ich habe Sie nicht verstanden“, flüsterte sie.
„Entschuldigen Sie, dass ich mich so unklar ausgedrückt habe.“ Höflich wurde ebenso leise. Mit fast geschlossenen Augen belauerte er sie.
„Dann werde ich mich jetzt verständlicher ausdrücken. Hatten Sie ein Verhältnis mit Ihrem Chef?“ Den letzten Satz feuerte er wie einen Pistolenschuss ab. Und um jedem Missverständnis vorzubeugen, fügte er noch hinzu: „Ein intimes Verhältnis, meine ich.“
Seine Verdächtige wurde rot bis an die Haarwurzeln. „Ehm, nein. Hatte ich nicht.“
Daraufhin legte Höflich eine kurze Pause ein. Dann fuhr er fort:
„In welchem Verhältnis standen Herr und Frau Maus zueinander, nachdem sie ihn verlassen hatte?“
„Sie kamen seit langem nicht mehr miteinander aus. Es gab nur noch Streit.“
„Weswegen?“
„Sie war wohl sehr eifersüchtig.“
„So. Hat das der Verstorbene behauptet?“
„Ja. Ehm, nein. Na ja, er hat so was angedeutet … Ich habe sie auch oft streiten gehört.“
„Worum ging es dabei?“
„Na, sie war krankhaft eifersüchtig.“
„So. Das ist eine harte Beschuldigung.“
„Aber sie war es. Anatol …, ich meine Herr Maus, hat immer wieder darunter gelitten.“
„Aha.“ Höflich zündete sich erneut eine Zigarette an. „Wieso nannten Sie Ihren Chef beim Vornamen?“
„Oh, das war mir nur so rausgerutscht.“ Sie wurde wieder nervös. „Er hatte es mir einmal angeboten, ihn beim Vornamen zu nennen.“
Wieder legte Höflich eine Pause ein. Dabei hielt er die Augen geschlossen.
„Ehm, kann ich jetzt gehen?“, wagte sie zaghaft die Frage. „Meine Tochter … Sie ist noch klein. Sie wartet zu Hause auf mich. Heute ist ja Heiligabend.“ Höflich hielt die Augen weiterhin geschlossen. „Es ist wirklich ungerecht“, grollte er innerlich. Und was war mit ihm? Hatte er vielleicht kein Recht auf Heiligabend? Dabei vergaß er, dass zu Hause niemand auf ihn wartete. Er war müde. Er brauchte endlich Urlaub, um wieder einmal so richtig ausspannen zu können. Er seufzte.
„Vielleicht … ja … gleich. Doch vorher gestatten Sie mir noch eine Frage.“ Höflich nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sah die Frau vor sich eindringlich an. „Warum kamen Sie am Morgen des Heiligabends, während Sie Ihr Kind allein ließen, hier her zu Herrn Maus?“
„Ehm …“ Sie suchte nach einer Antwort.
„Zu so einer recht privaten, intimen Zeit?“, fuhr Höflich fort. „Haben Sie nicht wie alle anderen Arbeitnehmer frei an so einem Tag wie heute? Wie die meisten Arbeitnehmer …“, verbesserte er sich.
„Doch, ja. Ehm, ich wollte nur noch etwas erledigen. Ach ja, ich wollte auch meinen Schal holen.“
„Ah ja, verstehe. Und was wollten Sie noch erledigen?“
„Ach, eigentlich nichts Wichtiges.“
„Frau Klingbeil.“ Höflich erhob seine Stimme, während er seine Zigarette ausdrückte. „Das hier ist ein Mordfall. Daher lassen Sie mich beurteilen, was hier wichtig oder unwichtig ist. Also bitte, was hatten Sie noch zu erledigen!“
Während die Angesprochene ihre Finger zusammenpresste, schien sie fieberhaft zu überlegen. Schließlich sagte sie leise: „Herr Maus hatte uns, meine Tochter und mich eingeladen, Heiligabend mit ihm zu verbringen. Er hatte Kinder gern, wissen Sie.“
„Und …?“
„Ehm, ich wollte nur absagen.“
„Und …?“
„Und meinen Schal holen.“
„Das meine ich nicht. Sie hatten also zuerst zugesagt?“
„Ehm ja.“
„Warum hatte er Sie beide eingeladen?“
„Hatte ich ja schon gesagt. Weil er Kinder gern hatte.“
„So so. Und warum wollten Sie absagen?“
„Ehm, ich hatte es mir eben anders überlegt.“ Als Höflich sie immer noch fragend ansah, fügte sie hastig hinzu: „Meine Eltern kommen. Sie wollen meine Kleine endlich einmal wiedersehen.“
„Hm, da sind Sie also hierher gefahren und haben geklingelt.“
„Ja. Erst ja. Als niemand öffnete, habe ich aufgeschlossen.“
„Ach. Sie haben einen Hausschlüssel?“
Bei dieser Frage zuckte die junge Frau zusammen. „Ehm, ja. Herr Maus hatte ihn mir vor einiger Zeit gegeben, damit ich in seiner Abwesenheit die Korrespondenz erledigen konnte.“
Noch eine mit Schlüssel. „Hm, Sie sind also mit Hilfe des Schlüssels, den Ihnen Herr Maus gegeben hatte, hereingekommen.“
„Ja.“
„Was sagte er zu Ihrer Erklärung?“
„Na nichts. Er war ja bereits tot“, rief sie mit großen Augen und begann wieder zu weinen.
„Wann war das?“ Höflich räusperte sich. Rosenkranz, der mit großer Aufmerksamkeit das Verhör verfolgt hatte, warf seinem Chef eindringliche Blicke zu. „So gegen 11 Uhr. Kann ich jetzt gehen?“
„Woher wussten Sie, dass er tot war?“ Höflich ignorierte ihre Frage.
„Er sah tot aus, wie er da so in seinem Blut lag.“ Tränen rannen über ihr Gesicht.
„Was taten Sie dann?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe geschrien. Dann bin ich in die Küche gelaufen, weil ich hoffte, die Köchin wäre schon da. Doch niemand hörte mich. Niemand war im Haus. Da wollte ich das Haus verlassen.“
„Und warum taten Sie es nicht?“
Sie antwortete ihm nicht. Sie schluchzte nur. Höflich hatte eine Idee. „Hatten Sie eigentlich Angst vor Ihrem Chef?“
„Ehm nein?“ Sie sah ihn fragend an.
„Auch nicht vor seiner Reaktion, wenn Sie die gemeinsame Heiligabendfeier abgesagt hätten?“
„Ehm, nein. Herr Maus hätte es verstanden. Er war so ein verständiger Mensch“, sagte sie und drückte ihr Taschentuch an die Augen.
Daran zweifelte Kommissar Höflich allerdings. Denn wäre er das gewesen, würde er jetzt nicht mausetot in seinem eigenen Haus unter seinem eigenen Weihnachtsbaum liegen.
Plötzlich klopfte es. Gleich darauf steckte Kirschkern seinen Kopf herein.
„Entschuldigen Sie. Können Sie für einen Moment herauskommen, Herr Kommissar?!“
„Wir haben aller Wahrscheinlichkeit nach die Tatwaffe gefunden.“ Mit diesen Worten wurde Höflich von Kirschkern empfangen, als dieser gerade die Tür zur Bibliothek hinter sich geschlossen hatte. Beide gingen in den Garten.
Im Blumengarten des weit angelegten Grundstückes säumte dichtes Buschwerk, säuberlich beschnitten, den Gehweg, der um das Haus führte. Hinter einem der Sträucher war der über Nacht gefallene Pulverschnee durch viele Schuhabdrücke festgetreten. Die Mitarbeiter der Spurensicherung ließen Kommissar Höflich und seinem Assistenten, der ebenfalls herausgekommen war, den Vortritt, damit sie den Fund genaustens betrachten konnten.
Rosenkranz sah viele verschiedene Spuren, die ineinander übergingen und größtenteils verwischt waren. Daneben verliefen Tierspuren, wahrscheinlich von einer Katze oder doch eher von einem Hund, bis zu den Rosenstöcken und wieder zurück.
Kommissar Höflich starrte auf das Ding im Schnee hinter dem Strauch, und in ihm stieg das unangenehm peinliche Gefühl auf, dass ihn schon damals in der Schulzeit beschlichen hatte, wenn er mal wieder so richtig von seinen Mitschülern verladen wurde.
Verärgert wandte er sich Kirschkern zu und wollte ihm gerade seine Meinung über diese Art von Scherzen kundtun, als dieser ihm zunickte und meinte: „Eigentlich unglaublich, nicht?“
Neben ihnen sog Rosenkranz geräuschvoll die Luft ein. Höflich sah erneut auf den Fund und schüttelte ungläubig den Kopf.
Denn im festgetretenen Schnee zu seinen Füßen lag, noch in der handelsüblichen durchsichtigen Folie verpackt, eine hart gefrorene Mastgans. Gewicht: 5 kg, so stand es auf der Verpackung.
„Eine Weihnachtsgans?“ Endlich fand Höflich die Sprache wieder. „Sind Sie sicher?“
„Nun ja, so ziemlich. Wir fanden Blut und Hautpartikel der Leiche an diesem Vogel. Hier sehen Sie? Es wird im Labor natürlich noch genauer untersucht werden. Doch unsere bisherige Untersuchung bestätigt diese Annahme.“ Kirschkern schien es selbst nicht ganz glauben zu können.
„Tja, was soll ich sagen … es ist kaum zu glauben, doch der Verstorbene wurde mit einer Weihnachtsgans erschlagen.“
„Dann wurde die belastende Tatwaffe kurzerhand unter diesem Strauch hier versteckt“, spann Rosenkranz den Faden weiter.
„ … und sorgfältig mit Schnee bedeckt“, beendete Kirschkern.
Kommissar Höflich riss seinen Blick von der Tatwaffe los.
„Der Täter hatte sich offenbar keine Zeit genommen, die Tatwaffe besser zu beseitigen. Vielleicht war er konfus.“
„Oder die Täterin“, gab Rosenkranz zu bedenken.
Sein Blick schweifte über die verschneite Gartenlandschaft und blieb wie zufällig an einem etwas weiter entfernt gelegenen, langgestreckten Gebäude hängen. Es schien sich um einen Stall für Tiere oder Fahrzeuge zu handeln. Genau konnte er es nicht erkennen. Sicher war dort auch der Gärtner zu finden.
Aus der gleichen Richtung wehte das hochtönende Gebell eines eher kleinen Hundes zu ihnen herüber. Es schien, als käme es direkt aus dem Stallgebäude. Er wollte gerade den Kommissar darauf hinweisen, als dieser jedoch ungeduldig darauf drängte, mit der Vernehmung der vorerst letzten Zeugin fortzufahren. „Jammerschade“, dachte Höflich und fühlte einen kleinen Stich im Herzen.
Er hatte sich, während der kurzen Zeit in der Küche von der Frau mit der Schürze spontan angezogen gefühlt. Doch persönliche Befindlichkeiten waren hier fehl am Platz.
Denn jetzt war es an der Zeit, ein ernstes Wort mit der Köchin zu reden.
„Ach nehmen Sie doch bitte Platz.“ Kommissar Höflich hatte sich beim Eintritt von Ludmila Grünspan, genannt Lulu, erhoben.
Sie hatte ihre Schürze abgenommen. Nun saß sie vor ihm in einem engen, fliederfarbenen Kleid, das ihre imposanten Rundungen zur Geltung brachte. Was für eine prachtvolle Frau, dachte Höflich und seufzte versonnen. Doch gleich darauf schalt er sich einen Narren und riss seinen Blick von ihrem üppigen Busen los.
Die Frau war vielleicht eine Mörderin! Was fiel ihm ein? Trotzdem, sie schien eine Frau zu sein, die gerne lachte. Das sah er an ihren Augen. Wieder etwas, das ihm gefiel. Doch jetzt saß sie ernst da und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Lulu“, dachte Höflich versonnen. Dann räusperte er sich. „Frau Grünspan“, begann er, „seit wann arbeiten Sie als Köchin in diesem Haus?“
„Naja, so genau weiß ich das gar nicht mehr.“ Sie sprach mit Akzent und lächelte dabei verlegen. „Ich habe hier schon gearbeitet, als die Kinder noch ganz klein waren.“
„Dann gehören Sie ja sozusagen mit zur Familie?“
„Ja, natürlich. Ich habe die Kinder aufwachsen sehen.“
„Sie haben sich hier wohl gefühlt?“
„Oh ja.“
„Und wie ist es jetzt hier für Sie?“
„Jetzt?“ Höflich nickte.
„Nun ja, die Kinder sind erwachsen.“
„ … und die Eltern haben sich getrennt“, beendete Höflich.
„Ja. So ist wohl das Leben.“
„Da haben Sie recht. Sie jedoch arbeiten immer noch hier.“
„Ja, bis vor Kurzem noch regelmäßig. Jetzt aber nur, wenn Herr Maus Gäste hat. Sonst braucht er mich nicht. Er ist viel unterwegs. Da isst er immer auswärts.“
„Was machen Sie in der übrigen Zeit?“
„Oh, ich arbeite in einer Familie als Köchin am Ende der Straße. Wenn Herr Maus mich braucht, richte ich es immer so ein, dass ich ihm behilflich sein kann.“
„So. Und am heutigen Tag brauchte er Sie?“
„Ja, richtig.“
„Wann trafen Sie hier ein?“
„Hm, ich war vielleicht gegen 12 Uhr hier. Da war er leider schon tot. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Sie begann zu schluchzen und drückte ihr Taschentuch an die Augen.
„Ja, das wissen wir. Tut mir leid. Was taten Sie, bevor Sie hierher kamen?“
„Ich arbeitete den ganzen Vormittag über in der Villa ‚Agatha‘ am Ende der Straße, Nummer 45. Ich habe dort bereits das Menü für den heutigen Abend vorbereitet.“
„Hmm, wir werden Ihre Aussage überprüfen müssen, Frau Grünspan“, sagte Kommissar Höflich ernsten Gesichtes und schickte seinen Assistenten Rosenkranz zur genannten Adresse, um sich das Alibi der Köchin bestätigen zu lassen.
„Wenn Sie das müssen …“, seufzte Ludmila Grünspan und sah ihn mit ihren blauen Augen an, dass sich Höflich wünschte, ihr in einer anderen Situation begegnet zu sein.
„Reine Routine …“, entschuldigte er sich. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er mit ihr allein war. „Leben Sie allein?“ Spontan war ihm diese Frage über die Lippen gekommen? Gleich darauf spürte er, dass er rot wurde und wandte sich ab. Er hatte gar nicht weiter nachgedacht. Jetzt hätte er sich dafür ohrfeigen können, so taktlos zu sein.
Doch Ludmila Grünspan schien es gar nicht zu bemerken.
„Ja. Vor einem Jahr ist meine Mutter gestorben. Seitdem lebe ich allein.“
„Oh“, machte Höflich nur und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
„Was sollten Sie heute für den Verstorbenen erledigen? Denn er erwartete ja Gäste. Richtig?“
„Ja, richtig. Er wollte gern, dass ich ein Abendessen mit drei Gängen für zwei Personen vorbereite sowie ein Kindermenü.“ Als der Kommissar sie immer noch abwartend ansah, fuhr sie fort: „Pastanester mit Garnelen, gefüllte Gurkenhäppchen mit Räucherlachssalat, Kalbskotelett mit Steinpilzen und Herzoginkartoffeln und als Nachtisch Créme brûlée. Für den späteren Abend war eine Feuerzangenbowle geplant.“
„Ehm, verstehe, danke.“ Offenbar war sie eine ausgezeichnete Köchin. Höflich lief das Wasser im Mund zusammen. Ein Grund mehr ….nun ja.
Doch er runzelte die Stirn. Jetzt musste Klartext gesprochen werden: „Und wann soll es die Weihnachtsgans geben?“
„Die Weihnachtsgans?“ Die Köchin wirkte erstaunt. „Na, die gibt es doch morgen. Ehm, das heißt, es hätte sie morgen gegeben“, verbesserte sie sich.
„Herr Maus hatte sich für den Weihnachtstag ein typisch deutsches Gericht, eine Weihnachtsgans gewünscht.“
„Das hätte er sich nicht wünschen sollen, denn nun hat er sie schon heute bekommen“, meinte Höflich lakonisch.
„Wie bitte?“
„Wie ich es bereits sagte. Er hat sie schon heute bekommen.“ Höflich beobachtete die Köchin gespannt. „Ich verstehe nicht.“ Ludmila Grünspan schien völlig verwirrt.
„Wie könnte Herr Maus sie heute schon bekommen haben, denn sie ist doch noch tief gefroren!“ Sie sah ihn kopfschüttelnd an.
„Richtig, Frau Grünspan!“ Höflich erhob sich und ebenfalls seine Stimme. Private Befindlichkeiten hatten hier keinen Platz.
„Sie ist noch tief gefroren! Schockgefrostet! So heißt es wohl richtig. Bei Minus 10 Grad oder so.“ Höflich hatte seine Hände auf dem Rücken verschränkt und lief dozierend durch den Raum. Dann machte er vor Ludmila Grünspan Halt, die ihn verständnislos ansah, und starrte auf sie herab.
„Sie, Frau Grünspan, waren die einzige, die um die gefrostete Gans wussten.“ Dann machte er eine wohl berechnete Pause, in der sich die Angesprochene immer unbehaglicher fühlte.
Schließlich sprach er langsam weiter, indem er jedes Wort einzeln betonte: „Und Sie waren es auch, die diesen Vogel dem Frostfach entnahm und damit so lange auf den Kopf Ihres Opfers einschlugen, bis dieses aus seinem Sessel fiel und unter seinem eigenen Weihnachtsbaum verstarb!“ Höflich war sehr laut geworden. Nun musste er erst einmal Luft holen.
„NEIN!“, rief da Ludmila Grünspan und wich zurück. „NEIN! Ich kenne Herrn Maus fast mein ganzes Leben. Nie könnte ich ihm so etwas antun.“ Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen.
„Aber Sie wussten um die Gans!“ Höflich ließ nicht locker.
„Die Küche und auch der Gefrierschrank sind für jeden zugänglich!“ Wehrte sich schluchzend die Köchin.
„Und wenn wir schon dabei sind, im Gefrierschrank befinden sich auch noch ein gefrostetes Kaninchen, sowie die Lende einer Ziege. Weshalb also die Gans!“ Sie konnte ihrerseits auch aufbrausend sein.
„Weil keines dieser Viecher über fünf Kilo wiegt! Deshalb!!“ Höflich hatte es geschrien.
„Naja“, jetzt wurde er ruhiger, „vielleicht wird das nächste Opfer ja mit einer Ziege erschlagen. Wer weiß das schon in diesem Irrenhaus.“
Im nächsten Moment ging die Tür auf und herein kam Rosenkranz, der von seiner Zeugenbefragung zurückgekehrt war. Seine Mitteilung für den Kommissar lautete: Frau Grünspan arbeitete tatsächlich als Köchin in der Villa „Agatha“ in der Nummer 45. Und sie hatte den ganzen Vormittag dort gearbeitet, um das Menü für den Abend vorzubereiten. Die Familie kann es bezeugen.
Damit hatte die Dame ein Alibi.
„Nichts für ungut Madame.“ Höflich deutete eine leichte Verbeugung an. Er war etwas erschöpft.
Nun ja. Auch Hercule Poiroit, der, mit Hilfe seiner grauen Zellen, jeden seiner Mordfälle aufzuklären imstande war, traf nicht gleich beim ersten Versuch ins Schwarze.
Dazu muss gesagt werden, dass Höflich ein heimliches Vorbild verehrte, und das war niemand Geringerer als der berühmte Detektiv aus den Werken der Kriminalautorin Agatha Christie.
Lulu war noch immer betroffen. Doch allmählich begriff sie, dass sie nun des Verdachtes ledig war. „Ich, ehm ich …“ Höflich setzte sich ihr gegenüber. „Ich war wohl etwas grob. Ich …“
„Nein. Ich verstehe das“, sprach sie mit einem koketten Augenaufschlag. „Sie müssen sicherlich so vorgehen. Ich glaube, Sie sind ein sehr guter Polizist.“
„Oh …“ Höflich fühlte sich geschmeichelt und glättete sich etwas verlegen die Frisur, in der Hoffnung, dass die kahle Stelle nicht zu sehen war.
„Danke. Gestatten Sie mir daher noch einige wenige Fragen.“ Er wurde wieder ernst und nickte seinem Assistenten wohlwollend zu.
Dieser hätte beinahe nicht begriffen, was sein Chef von ihm wollte. So sehr war er von dem Bild, das die beiden boten, gefesselt. Oho, dachte er.
Dann fiel es ihm noch rechtzeitig ein, und er zückte sein Notizbuch.
„Wie kamen Sie mit Herrn Maus, als Ihrem Chef, aus? Gab es auch mal Ärger?“
„Oh, eher selten. Wir kamen meist gut miteinander aus. Er hat gesagt was er wollte, und ich habe es getan.“
„Er war Inhaber eines Gourmetrestaurants. Als ein Kenner der guten Küche hatte er da nicht hin und wieder etwas auszusetzen?“
„Kleinigkeiten. Ansonsten hat er immer gern gegessen, was ich gekocht habe. Ich kann ziemlich gut kochen, wissen Sie.“
„Das glaube ich gern“, sagte Höflich und lächelte, während er sich wünschte, auch einmal in diesen Genuss zu kommen.
„Doch sagen Sie, warum ist Frau Maus ausgezogen?“
„Oh, naja, ich denke, ihre Ehe war am Ende. Herr Maus war viel geschäftlich unterwegs. Ninuschka kümmerte sich sehr gut um die Kinder und das Haus und alles.“
„Sie meinen Frau Maus?“
„Ja.“
„Gab es Streit?“
„Ja, natürlich!“
„Wieso natürlich?“
„Nun frage ich Sie: Ist es etwa richtig, dass ein Ehemann und Familienvater sich kaum um Heim und Familie kümmert, weil er viel zu beschäftigt damit ist, den Frauen zu gefallen, ausgenommen der einen, mit der er verheiratet ist?“
„Wollen Sie damit sagen, Frau Grünspan, dass der Verstorbene seine Frau betrogen und seine Familie vernachlässigt hatte?“
„Ja. Das hatte er. Doch weiter möchte ich dazu nichts mehr sagen.“
„Aha. So. Verstehe.“ Das warf ein neues Licht auf den Fall. Höflich musste sich vorerst damit zufrieden geben. „Eine andere Frage: Wissen Sie etwas darüber, ob Herr Maus Feinde hatte? Ich meine Personen, die ihn nicht mochten.“
„Möglich, dass es sie gibt. Doch Genaues weiß ich nicht.“
Langsam wurde die Köchin ungeduldig. Das konnte Höflich spüren. Es drängte sie wieder danach, etwas Handfestes zu tun.
„Der Gärtner. Kennen Sie ihn näher?“ Höflich sah ihr in die Augen.
„Igor? Er arbeitet genau wie ich nur nach Bedarf hier.“ Lulu runzelte die Stirn. „Doch wenn Sie ihn befragen, seien Sie nachsichtig mit ihm.“
„Warum?“ Höflich verlor sich in dem Blau ihrer Augen.
„Nun, er ist … ein scheuer Mensch.“ Beide sahen sich sekundenlang an. Schließlich räusperte sich Höflich. „Ehm, danke. Das war vorerst alles.“
Er beobachtete, wie sie, froh es überstanden zu haben, dem Ausgang zu strebte. Als sie an der Tür angekommen war, fiel ihm ein, was er sie schon die ganze Zeit über fragen wollte.
„Hat Herr Maus auch einmal selbst gekocht?“ Sie drehte sich zu ihm um und lächelte.
„Nein. Er hat nie etwas selbst getan. Das taten immer andere für ihn.“ Dann ging sie mit wogenden Hüften hinaus.
Höflich starrte lange auf die geschlossene Tür. Ihm schien es so, als hätte sich an dieser Stelle ein seltenes Feenwesen entmaterialisiert und wurde durch den umgekehrten Vorgang wieder zurückerwartet. Wirklich. Sie war ihm eine Augenweide.