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Prolog
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unter Tage
von
Elke Schwab
Neue überarbeitete Auflage
Ursprünglicher Titel:
„Blutige Seilfahrt im Warndt“
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© Elke Schwab, 2019
Covergestaltung: Manfred Rother
Motiv: Erlebnisbergwerk Velsen - http://www.erlebnisbergwerkvelsen.de
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Glückauf, liebe Gäste! Mein Name ist Arthur Hollinger. Ich werde Sie heute bei der Führung über das Grubengelände und durch das Erlebnisbergwerk Velsen begleiten«, stellte sich der große Mann der Gruppe vor.
Alle Besucherinnen und Besucher waren mit kleinen Schildern ausgestattet worden, auf denen ihre Vornamen vermerkt waren. Während sie sich damit beschäftigten, diese an ihren Jacken anzubringen, damit sie jeder lesen konnte, sprach der Mann weiter: »Bei uns unter Tage bevorzugen wir einen kameradschaftlichen Ton. Das heißt, dass wir uns mit ›Du‹ ansprechen, uns an der Hierarchie nicht stören und dabei unsere Vornamen meist sogar in Spitznamen abwandeln. Also mich hat man unter Tage nicht Arthur, sondern Addi gerufen. Ein Name, den ich heute anbiete. So wie ich auch das ›Du‹ anbiete. Ich hoffe, dass ihr alle damit einverstanden seid.«
Allgemeines Nicken und Lachen war die Antwort.
»Dann wollen wir mal beginnen.«
Hollinger war sich der Aufmerksamkeit der Gäste sicher und begann mit seinem Vortrag: »Schon Napoleon richtete in unserer Region eine Berghochschule ein, die zur damaligen Zeit einzigartig für Frankreich war. Der Schulstandort ist seit Mitte des 19. Jahrhundert in Saarbrücken. Zu dieser Zeit war die Grube Geislautern schon lange in Betrieb und wurde sogar durch zwei zusätzliche Schächte erweitert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich dann aber ein Förderrückgang ab, der zur Schließung führte. Geislautern war die Muttergrube der Grube Velsen, der ihr gerade einen Besuch abstattet.«
Andächtig schaute die Gruppe von Neugierigen auf den großen Bergmann, der mit dunkler, sonorer Stimme diesen Vortrag hielt. Seine Kleidung bestand aus imprägniertem Baumwollstoff. Seinen Helm hielt er in der Hand. Seine Schuhe waren mit Stahlkappen versehen. Darüber trug er Schienbeinschützer aus weißem, festem Kunststoff. Sogar Handschuhe hatte er bei sich, die während seines Vortrags im Lampengürtel befestigt waren.
»Mit dem Abteufen des Rosselschachtes wurde bereits im Jahr 1899 begonnen und …«
»Was heißt Abteufen?«, rief einer der Zuhörer dazwischen.
»Das ist der Fachbegriff der Bergleute für das Ausheben eines neuen Schachtes, der senkrecht in die Tiefe gebaut wird.«
Der Fragende nickte und der Bergmann sprach weiter: »Diese neue Anlage wurde zunächst Grube Rosseln und im Jahr 1907 nach dem preußischen Oberberghauptmann Gustav von Velsen, der fünf Jahre lang Vorsitzender der Bergwerksinspektion Saarbrücken war, in Grube Velsen umbenannt. Den Schacht nannte man ab dem Zeitpunkt Gustavschacht. Zwischen 1907 und 1917 wurde die gesamte Tagesanlage großzügig ausgebaut und um einen weiteren Schacht – den Annaschacht – erweitert. Anna war Gustav von Velsens Frau. Später wurde er dann der Einfachheit halber Gustavschacht II genannt. Dieser ist heute noch in Betrieb und dient als Wetter- und Seilfahrtschacht für das Bergwerk Warndt. Das bedeutet, dass hier keine Kohle mehr gefördert wird, der Schacht wird lediglich für Personen- und Materialbeförderung und für die Bewetterung der Grube genutzt.
Und genau an dieser Stelle befinden wir uns jetzt. Wir stehen hier am Gustavschacht II.«
»Was heißt Bewetterung?«
»Bewetterung bedeutet in der Bergmannssprache die Zuführung frischer Luft in den gesamten Grubenbau. Eigentlich ist es nur ein anderer Begriff für Belüftung«, antwortete Hollinger. »Und dieser Schacht dient neben der Bewetterung auch der Personenbeförderung, auf die wir jetzt zu sprechen kommen. Das System, das diese Körbe oder Aufzugskabinen hoch und wieder hinunter befördert, nennt man Koepe-Förderung. Zu diesem System gehört der Förderturm, den wir alle sehen.« Die Menge schaute auf das mächtige Gerüst, an dessen höchster Stelle ein großes Rad zu sehen war.
»Der eigentliche Motor liegt hier.« Hollinger zeigte auf einen Sandsteinbau mit Rundbogenfenstern und Mauerblenden, an dessen Stirnseite zwei Freitreppen vorgelagert waren. Die Blicke der Besucher schwenkten auf das Gebäude, dem von außen seine Funktion nicht anzusehen war.
»Das ist das Fördermaschinenhaus. Während im linken Teil heute eine Werkstatt untergebracht ist, befindet sich im rechten Teil noch die ursprüngliche Zwillingsdampfmaschine der Dingler-Werke aus dem Jahre 1916. Sie ist heute noch in Betrieb und ist die älteste Dampffördermaschine im Saarland.« Die Besucher staunten.
»Und trotzdem funktioniert die Maschine noch wie am ersten Tag. Jetzt gehen wir in die Halle. Dort können wir das Wunderwerk bestaunen. Ich erkläre euch das Prinzip der Koepe-Förderung und wir schauen dabei zu, wie Siggi, unser Maschinist am Steuerstand, die alte Dampfmaschine in Betrieb nimmt und damit den Förderkorb aus fast elfhundert Metern Tiefe nach oben holt.«
»Darfst du das einfach so machen?«, fragte eine junge Frau, die vor Aufregung gerötete Wangen hatte.
»Für Besucher dürfen wir einmal im Monat eine Leerfahrt mit den Förderkörben machen. Das ist hier allgemein bekannt. Trotzdem geben wir unter Tage ein Warnsignal, damit kein Risiko für die aktiven Bergleute besteht, die aber um diese Zeit den Förderkorb niemals nutzen würden«, antwortete Hollinger.
Wie im Gänsemarsch folgte die Gruppe dem Bergmann in das Sandsteingebäude. Beim Anblick der riesigen, stählernen Zylinder, Scheiben und Walzen hielten sie die Luft an vor Staunen.
Rechts neben dem Eingang befand sich ein hölzerner Kasten, der in diesem stählernen Umfeld sofort ins Auge stach. Hinter einer Glasscheibe saß ein Mann vor einem Pult, das an das Cockpit eines Piloten einer großen Boeing erinnerte.
Mit der Hand gab Hollinger dem Mann ein Zeichen. Der nickte, schickte das vorgeschriebene Warnsignal in den Grubenbau, betätigte einige Hebel und die Dampffördermaschine setzte sich mit lautem Getöse in Bewegung. Langsam begannen sich die großen Räder zu drehen. Das Stahlseil wurde angezogen.
Hollinger winkte die Gruppe wieder nach draußen. Dort überquerten sie den freien Platz und steuerten auf den Förderturm zu.
»Der Turm wurde im Jahr 1917 fertiggestellt und ist zweiundvierzig Meter hoch«, rief er gegen Wind und Geräuschkulisse an.
Die mächtigen Räder hoch oben auf dem Schachtbock bewegten sich.
»Unter dem Gerüst ist die Schachthalle. Dort wird der Förderkorb auf der einen Seite in die Tiefe abgelassen, auf der anderen Seite gleichzeitig hinaufgezogen. Das ist das Koepe-Prinzip, also eine Endlosseilförderung. Das bedeutet, dass beide Körbe an einem Seil hängen und somit immer beide, wie bei einem Paternosteraufzug, in Bewegung sind. Die Stahlseile laufen über die Seilscheiben – die ihr dort, hoch oben auf dem Förderturm, sehen könnt. So entsteht keine Reibung, die das Material brüchig machen könnte. Ein Unterseil sorgt für das Gleichgewicht der beiden Körbe.«
Alle starrten auf den hohen Förderturm.
»Wir können jetzt die Schachthalle betreten und zusehen, wie der Korb aus der Tiefe nach oben gelangt«, sprach Hollinger weiter und steuerte die große Eisentür an.
Doch niemand folgte ihm. Er schaute sich um und sah in kreideweiße Gesichter.
»Was ist los?«, fragte er.
Alle zeigten mit entsetzten Blicken nach oben. Also schaute er ebenfalls in die angegebene Richtung und sah, was die Besucher in Schock versetzte.
Dort hing etwas am Stahlseil, das nach oben gezogen wurde. Erst als das Bündel über die Gerüststreben hinaus gelangte, war deutlich zu erkennen, was dort hochzogen wurde: ein Bergmann.
Alle schrien durcheinander.
Hollinger rannte zum Steuerstand im Maschinenhaus, damit der Maschinist am Pult die Fahrt stoppte, bevor der Mann an die Seilscheibe geriet.
Das Geschrei wurde immer lauter.
Hollinger rannte so schnell er konnte, brüllte schon in der Tür: »Halt! Maschine aus!«
Doch es war zu spät.
Als er wieder auf der Außentreppe ankam, sah er gerade noch, wie der Körper zwischen Stahlseil und Stahlscheibe eingequetscht wurde, während die großen Räder langsam zum Stillstand kamen.
Dort blieb der leblose Körper in einer Höhe von zweiundvierzig Metern hängen. Totenstille breitete sich aus.