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Kapitel 3

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Laut arbeitete sich der Walzenschrämlader durch das Kohleflöz hindurch. Während die am vorderen Ende der Maschine befindliche Walze den oberen, den Hangenschnitt vornahm, führte die hintere Walze, die deutlich niedriger lag, den Sohlenschnitt durch. So konnten pro Arbeitsgang fast drei Meter Kohleflöz gleichmäßig abgebaut werden – eine effektive Abbaumethode, die Michael Bonhoff immer wieder faszinierte.

Und gleichzeitig betrübte – bei dem Gedanken, dass schon bald der gesamte Bergbau im Saarland stillgelegt werden sollte.

Wie gewohnt bediente er zusammen mit zwei Kollegen die große, lärmende Maschine. Doch dieses Mal wurde seine Routine gestört, weil Paolo Tremante die Arbeit von Peter Dempler übernehmen musste. Demplers Aufgabe hatte darin bestanden, die schweren Hydraulikschilde an den abgebauten Teil anzupassen, damit der Raum zwischen Streb und Panzerförderer vor Einsturz geschützt blieb.

Tremantes Anblick ließ Bonhoff an die Bergung der menschlichen Überreste zwischen Stahlseil und Seilscheibe denken. Normalerweise lenkte ihn die Arbeit ab. Aber heute war das unmöglich, weil gerade er fast täglich an Demplers Seite gewesen war.

Tremante, den alle unter Tage »Amore« nannten, war ein ewiger Spaßvogel, der sogar mit der Lampe an seinem Helm versuchte, durch Zeichen Späße zu machen. Bonhoff ignoriere seine Grimassen. Im Grunde genommen konnte er noch nie über »Amores« Späße lachen. Und heute schon gar nicht.

Mit lautem Getöse fielen die herausgeschnittenen Kohlebrocken auf den Panzerförderer, dessen starke Doppelketten sich unaufhaltsam bewegten. So beförderten sie die Kohle in die Fußstrecke am unteren Ende des Strebs, wo sie auf den Fußstreckenpanzer herabfiel, der sie mit ständig bewegenden schweren Ketten weiter transportierte.

Bonhoff konzentrierte sich auf die große Maschine, die mit brachialer Gewalt die Meissel ihrer Walzen in die Kohlewand hineinstieß. Ein Teil des schwarzen Staubs wurde mit Wasserdüsen, die am Walzenschrämlader angebracht waren, gebunden und nach unten gezogen. Von der Kopfstrecke aus sorgten Bewetterungsrohre für Frischluftzufuhr.

Die Zeit wollte an diesem Tag nicht vergehen. Die Männer arbeiteten mechanisch. Sie alle waren gut ausgebildet, sodass jeder die Aufgabe eines anderen übernehmen konnte. Das brachte Bonhof auf den Gedanken, dass sie alle entbehrlich waren. Kein schöner Gedanke.

Störung am Bandstreckenpanzer!

Durch den Strebfunk konnten die Männer deutlich hören, wie die Grubenwarte bekanntgab, dass die Förderung bis auf Weiteres stehen bleiben sollte. Für diesen Tag war die Schicht beendet.

Bonhoff sah, wie sich Tremante dem Steiger Remmark anschloss. Die beiden Männer verließen mit schnellen Schritten den Streb in Richtung Fußstrecke, sodass Bonhoff keine Chance hatte, ihnen zu folgen.

Er wartete eine Weile. Doch nichts geschah. Er blieb allein. Das Gefühl, nicht wirklich zu dieser Gemeinschaft zu gehören, hatte er schon lange. Immer wieder beobachtete er, wie sich die Jungs aus seiner Partie zusammenschlossen und diskutierten, ihn aber nicht daran teilhaben ließen.

Bisher hatte ihm jedoch die Gewissheit genügt, dass er auf die anderen zählen konnte, wenn man in eine gefährliche Situation geriet. Auf diese Loyalität hatte er sich noch immer verlassen können.

Bis jetzt.

Mit mulmigem Gefühl folgte er den Männern aus seiner Gruppe. Er schlängelte sich durch das enge Fahrfeld an der Schrämmaschine vorbei zur Fußstrecke, um von dort auf die Hauptstrecke der sechsten Sohle zu gelangen. Als er in den Querschlag einbog, konnte er gerade noch sehen, wie die Kameraden im Zugang zum Bandberg II verschwanden. Das bedeutete, dass sie zur fünften Sohle fuhren, dorthin, wo Dempler verunglückt war.

Ohne zu überlegen sprang er ebenfalls auf das Band, das in hohem Tempo durch den finsteren Tunnel fuhr. Seine Kopflampe hatte er schon vorher ausgemacht, um nicht bemerkt zu werden. Oben angekommen schwang er sich an eine der Ketten, mit denen die Bandkonstruktion am Ausbau befestigt war. Die Kopflampen seiner Arbeitskollegen konnte er schon von Weitem sehen.

Sie standen neben dem Bandantrieb an der Bandwendeanlage. Eine Lampe hing direkt über ihnen, was es ihm leichter machte, die Bewegungen und Gesten seiner Kameraden zu sehen. Nur konnte er kein Wort verstehen. Am Abwurf fielen die Kohlenbrocken mit lautem Getöse in den Trichter und von da auf das nächste Band Richtung Warndt. Das einzige, was Bonhoff wahrnehmen konnte, war die große Aufregung, die unter den Männern herrschte.

Nur wusste er nicht so genau, was diese Aufregung ausgelöst hatte. Trauer? Das konnte sich Bonhoff nicht vorstellen. So dick war niemand mit Dempler befreundet gewesen. Also was erregte die Männer wirklich?

Plötzlich spürte er eine Hand an seiner Schulter. Erschrocken drehte er sich um.

Hans Rach grinste ihn an. Bonhoff erschrak. Ihn hatte er vergessen.

»Na, Mimose«, meinte er grinsend, womit er Bonhoff schon gleich dort hatte, wo er ihn haben wollte. Er hasste diesen Spitznamen.

»Du musst uns nicht nachspionieren. Stell dich dazu!«

Das Grinsen im Gesicht des Kollegen wirkte hämisch.

Bonhoff schaute sich um und sah mit klopfendem Herzen, wie sich ihm auch die anderen Kameraden näherten.

Sollte er jetzt erfahren, was mit Peter Dempler wirklich passiert war?

*

Erik Tenes saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Kalender. Nur noch zwei Tage und die Kollegin Anke Deister würde aus ihrer Mutter-Kind-Kur zurückkommen. Er konnte ihre Rückkehr kaum noch erwarten. Sie hatten in den letzten sechs Wochen nur wenig miteinander telefoniert. Und wenn er sie endlich mal erreicht hatte, war Ankes Tochter Lisa die Hauptperson und musste Erik immer alles bis ins Detail berichten. Erik freute sich über die wiedergewonnene Lebensfreude dieses Kindes. In letzter Zeit war Lisa schwermütig geworden. Ankes Einsatz im Ausland hatte dazu beigetragen. Sie hatte ebenfalls unter der Verschlossenheit ihrer Tochter gelitten. Vermutlich war ihr deshalb diese Kur so wichtig worden – um das Verhältnis zwischen Mutter und Kind wieder zu verbessern. Und nach dem Geplapper der Kleinen zu urteilen, war ihr das gelungen.

Nach Ankes Rückkehr aus dem Ausland waren sie sich näher gekommen. Es fühlte sich aber immer noch sehr zerbrechlich an. Anke wirkte verletzt und versuchte wieder Vertrauen in einen anderen Menschen aufzubauen. Erik wusste, dass sie bisher mit Männern kein Glück gehabt hatte. Vermutlich hatte er ihr zu viel über seine eigenen Verfehlungen erzählt und damit ihre Annäherung auf eine harte Probe gestellt. Er schüttelte über sich selbst den Kopf.

Plötzlich ging die Tür auf und sein Vorgesetzter Jürgen Schnur spähte ins Zimmer.

»Träumst du?«, fragte er.

Erik schaute überrascht auf den Dienststellenleiter. Als er nichts sagte, fügte Schnur an: »Wir haben Dienstbesprechung! Schon vergessen?«

Die hatte Erik tatsächlich vergessen.

»Ich komme«, murrte er. Zu gerne hätte er noch einige Minuten weiter an Anke gedacht. Er folgte Schnur in dessen Büro.

Dort saßen bereits alle beisammen und grinsten ihn an. Rasch schnappte er sich einen Stuhl und setzte sich, damit er die Blicke mit seiner Größe von einsfünfundneunzig nicht noch länger auf sich zog. Die Verspätung war ihm auch so schon peinlich genug.

»Wir haben die ersten Ergebnisse der Spurensicherung«, begann Schnur, als endlich Ruhe in dem Büro herrschte. Dabei schaute er angestrengt auf einen Bericht, als hätte er Mühe, die Buchstaben darauf zu entziffern.

»Aber sonst alles klar?«, fragte Erik mit einem süffisanten Grinsen in die Stille.

»Wer lesen kann, ist klar im Vorteil«, fügte Andrea an.

Nun lachten alle laut.

Schnur wollte eine ernste Miene auflegen, doch das gelang ihm nicht. Zuerst verzog er nur leicht seine Lippen, bis er in das Gelächter einstimmte.

»Ich lese hier einen Namen, den ich nicht zuordnen kann.«

»Welchen Namen?«

»Robert Ollig«, antwortete Schnur. »Wer ist das?«

»Das ist der neue Teamchef der Spurensicherung«, erklärte Andrea. »Er hat die Nachfolge von Theo Barthels angetreten.«

Schnur rieb sich über sein Kinn und meinte: »Schön, dass ich das auch mal erfahre.«

»Theo wird erst zum Monatsende offiziell verabschiedet.«

Schnur nickte und begann, über die Ergebnisse zu sprechen: »Der Tote ist eindeutig als Peter Dempler identifiziert worden.« Er schaute in die Runde und fügte an: »Jetzt stehe ich vor dem Problem, wer dafür zuständig ist, die Witwe zu informieren.«

»Todesnachrichten werden in solchen Fällen von Vertretern des Betriebsrats überbracht«, meldete sich Anton Grewe zu Wort.

»Gut zu wissen«, bekannte Schnur. »Dann müssen wir uns nicht darum kümmern.«

»Was hättest du ihr auch sagen können?«, fragte Andrea. »Bisher gilt immer noch die Unfalltheorie. Wenn wir von der Kriminalpolizei dort ohne Vorwarnung auftauchen, wühlt das nur unnötig auf.«

»Deshalb müssen wir so schnell wie möglich klären, wie wir diesen Fall weiter behandeln«, stimmte Schnur zu.

»Was sagt die Staatsanwältin?«

»Sie wartet ab, was wir herausfinden. Erst dann will sie sich festlegen.« Schnur wirkte zerknirscht. »Deshalb werden wir jetzt den Bericht der Spurensicherung weiter besprechen und die Ergebnisse analysieren. Ich hoffe, dass wir anhand der Spurenlage weiterkommen.« Allgemeine Zustimmung. Schnur las weiter vor: »Die Suche nach Fingerabdrücken am Stahlseil in luftiger Höhe hat nichts ergeben. Der Zugang zum Förderkorb auf der fünften Sohle wurde ebenfalls genau untersucht. Dort sind außer denen von Dempler noch jede Menge andere Abdrücke.«

»Das klingt auch nicht gerade nach Mord«, bemerkte Erik.

»Innerhalb des Schachtes ist eine Leiter. Nach Angaben seiner Kollegen hatte Dempler diese Leiter schon mal benutzt, um nach oben zu gelangen. Dort waren aber keine Fingerabdrücke zu finden.«

»Endlich ein Hinweis auf Mord.« Aufregung machte sich breit.

»Aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Tür zum Schacht geöffnet wurde. Normalerweise bekommt der Maschinist ein Signal, wenn sich die Tür öffnet. Das ist zur Sicherheit, damit er den Korb nicht hochfährt, während sich jemand im Schacht aufhält oder gerade beim Betreten des Korbes ist.«

»Heißt das, dass das Opfer über einen anderen Weg in den Schacht gekommen sein muss?«, fragte Andrea.

»Ich weiß nicht, ob es einen anderen Zugang zum Schacht gibt. Der Steiger, der die Staatsanwältin und mich durch die Stollen geführt hat, hat uns jedenfalls keinen gezeigt.«

»Vielleicht hat er dieses Detail vor dir verheimlicht.«

Kurze Zeit trat Stille ein, die Schnur mit einem Räuspern unterbrach: »Dieser Fall wird auf jeden Fall schwierig für uns werden. Es fängt schon damit an, dass wir nicht einschätzen können, wie viele Informationen uns die Bergleute zukommen lassen und wie viel sie uns verschweigen.«

*

Der Tote aus der Tiefe prangte die Überschrift in großen Lettern auf der Titelseite der Saarbrücker Zeitung.

Norbert Kullmann saß am Küchentisch, wollte sich gerade eine zweite Tasse Kaffee einschenken, als er die Kanne sinken ließ.

»Was ist?«, fragte Martha, seine Frau. »Schmeckt der Kaffee nicht mehr?«

Kullmann schüttelte den Kopf.

»Seit Anke in der Mutter-Kind-Kur ist, bekomme ich nichts mehr von meiner ehemaligen Dienststelle mitgeteilt.«

»Falls du es vergessen hast, erinnere ich dich daran, dass du schon seit sechs Jahren in Pension bist«, sagte Martha.

Über den Tonfall seiner Frau erstaunt schaute Kullmann auf und sah in ein Gesicht, das Empörung ausdrückte. Seine Ehe dauerte inzwischen genauso lange wie seine gerade angesprochene Pensionszeit. Obwohl Kullmann Martha schon einige Jahre gekannt hatte, so hatte er ihr doch erst den Heiratsantrag gestellt, als er aus dem Berufsleben als Kriminalkommissar ausgestiegen war. Er hatte sich mit ihr ein ruhiges Eheleben versprochen, während er sich von Marthas Kochkünsten verwöhnen ließ. Doch immer wieder hatten seine ehemaligen Mitarbeiter aus der Abteilung für Tötungs- und Sexualdelikte bei der Kriminalpolizeidirektion Saarbrücken seine Hilfe in Anspruch genommen. Allen voran Anke Deister – sein ehemaliger Schützling. Sie hatte viel von ihm gelernt. Und immer, wenn ein Mordfall knifflig geworden war, hatte sie auf Kullmanns reichen Erfahrungsschatz zurückgegriffen, sodass sich der Hauptkommissar a.D. eigentlich gar nicht wie ein Rentner gefühlt hatte. Martha war dabei stets nachsichtig gewesen, obwohl er sich sogar in große Gefahr begeben hatte. Deshalb überraschte es ihn, dass sie nun so widerspenstig reagierte.

Es wunderte ihn, dass ihn niemand zu diesem Fall konsultierte. Hatte er sich also nur eingebildet, dass sie ihn brauchten? War es letztendlich nur eine »gute Tat« von Anke, ihm das Gefühl zu geben, gebraucht zu werden? Er konnte es nicht glauben.

Und nun diese Schlagzeilen. Ein Fall, der nicht nur sein Interesse weckte, sondern sogar regelrecht in seinen Fingerspitzen juckte.

Ein Toter aus einem Bergwerk – der Grube Warndt.

Zu genau erinnerte er sich an diesen Ort. Dort hatte sich vor einigen Jahren ein schweres Unglück ereignet, bei dem mehrere Bergleute zu Tode gekommen waren. Er war zur Unglücksstelle gerufen worden, weil das Oberbergamt ihn damals zur Amtshilfe hinzu gebeten hatte. Aber er hatte nichts Verdächtiges feststellen können. Dabei war ihm in Erinnerung geblieben, dass die Grube Warndt mit der Grube Velsen unterirdisch verbunden war. Hinzu kam, dass die Schließungen für das Jahr 2012 inzwischen beschlossene Sache waren. Ein Thema, das trotz allem immer wieder heiß diskutiert wurde.

Und nun tauchte ein Bergmann am Seil des Personenförderkorbs auf und wurde zwischen Stahlseil und Seilscheibe zu Tode gequetscht.

Das klang für Kullmann auf keinen Fall nach einem Unfall, wie es die Zeitung mit dem Artikel andeuten wollte. Das klang nach Mord.

Aber sein Telefon stand still. Stattdessen saß seine Frau ihm mit einem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck gegenüber.

»Ich kann dich beruhigen«, meinte Martha in die Stille, die am Küchentisch ausgebrochen war, nahm die Kaffeekanne und schenkte Kullmann ein. »Anke kommt am Freitag zurück. Spätestens nächste Woche bist du wieder im Boot.«

Kullmann brummte. Nächste Woche könnte zu spät sein, dachte er sich. Sagte aber nichts dazu. Er wollte seine Frau nicht verärgern. Die Geduld, die sie bisher immer bewiesen hatte, wollte er nicht überstrapazieren. Also schenke er ihr ein Lächeln und trank weiter von seinem Kaffee.

*

Michael Bonhoff ahnte, dass es gefährlich werden könnte, was er gerade tat. Peter Demplers Tod aber war so spektakulär, dass er alle seine Bedenken über Bord warf. Keiner der Bergleute brach sein Schweigen nach außen. Auch nicht gegenüber der zuständigen Bergpolizei. Und schon gar nicht bei der Kriminalpolizei. Allen war daran gelegen, die Arbeit bis zur Schließung zu behalten. Welche Berufe kämen sonst noch für sie infrage? Der Gedanke an Bürotätigkeit ließ jedem Bergmann schaudern. Ebenso die Vorstellung der Arbeitslosigkeit. Das Leben in den Grubensiedlungen, die eigens für die Bergleute gebaut worden waren, würde ohne die intakten Bergwerke schal und langweilig werden. Die Bergleute liebten ihren Job, sie liebten die körperliche Arbeit, die Herausforderung und die Kameradschaft. Keine Sekunde davon wollten sie verschenken. Niemand von ihnen wollte in die Übertagearbeit, denn das bedeutete Kontrolle, Überwachung. Etwas total Fremdes für sie.

Bonhoff empfand das genauso. Und doch stand er vor dem großen Gebäude der Landespolizeidirektion in Saarbrücken, um dort hineinzugehen und eine Aussage zum Tod von Peter Dempler zu machen.

Die Idee, wieder umzukehren und alles noch einmal zu überdenken, schlich sich in seinen Kopf. Vielleich sah er wirklich Gespenster. Vielleicht hatten seine Kameraden sogar recht, dass sie ihm den Spitznamen Mimose gaben. Vielleicht, ganz sicher, ganz bestimmt. Seine eigene Unentschlossenenheit ging ihm auf die Nerven.

Plötzlich drang eine Frage an sein Ohr: »Kann ich Ihnen helfen?«

Erschrocken schaute sich Bonhoff um und erblickte einen Polizeibeamten in Uniform, der im Türrahmen eines runden, niedrigen Gebäudes stand und ihn streng anschaute.

»Äh, ja. Ich möchte zu Kommissar Grewe.«

»In welcher Abteilung arbeitet Kommissar Grewe?«

»Er ist Kriminaloberkommissar und bearbeitet den Todesfall auf der Grube Warndt.«

»Sind Sie angemeldet? Oder vorgeladen?«

»Weder noch«

»Dann brauche ich Ihren Namen.«

Bonhoff fühlte sich bereits wie in einem Verhör. Er überlegte, schnell das Weite zu suchen, als sein Gegenüber sagte: »Ich habe gerade Dienststellenleiter Schnur am Telefon. Er möchte Ihren Namen wissen.«

»Michael Bonhoff.«

Plötzlich änderte sich alles vor Bonhoffs Augen. Der Beamte lächelte freundlich, gab ein Zeichen, ihm zu folgen, und steuerte mit schnellen Schritten die letzte Tür des langen Gebäudekomplexes an.

»Im dritten Stock«, erklärte er noch am Fahrstuhl und verabschiedete sich.

Oben angekommen stand ein Mann mit kurzen, krausen Haaren im Flur und begrüßte ihn mit den Worten: »Ich bin Hauptkommissar Jürgen Schnur. Sie wollen mit uns über den toten Bergmann sprechen?«

Bonhoff fühlte sich ertappt. Unsicher folgte er dem Hauptkommissar. Sie durchschritten einen langen Gang, bis Schnur anhielt und ihn in ein lichtdurchflutetes Büro bat. Dort ließen sie sich zu beiden Seiten des Schreibtisches nieder.

»Wie standen Sie zu dem Toten und welche Hinweise haben Sie für uns?«

»Ich habe in derselben Partie mit ihm gearbeitet. Da ist mir so manches aufgefallen.« Bonhoff sah dem Kripobeamten die Aufregung deutlich an, die sich plötzlich auf dessen Gesicht abzeichnete. Trotzdem blieb er vorsichtig.

»Ich rufe meine Kollegen«, sagte Schnur und begann zu telefonieren.

»Ich habe gehört, dass Anton Grewe hier arbeitet«, funkte Bonhoff dazwischen. »Eigentlich wollte ich mit ihm sprechen.«

»Kein Problem. Er ist ebenfalls auf dem Weg hierher.«

Es dauerte nicht lange und Schnurs Mitarbeiter füllten den Raum.

Bonhoff starrte jeden prüfend an, bis sein Blick an dem Mann mit den schwarzen Haaren hängen blieb. Sofort schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht.

Der Polizeibeamte reagierte nicht.

Dafür alle anderen in dem Büro. Alle ließen ihre Blicke zwischen den beiden Männern hin und her wandern und warteten, was nun kommen würde.

»Erkennst du mich nicht mehr?«, frage Bonhoff.

Anton Grewe richtete sich auf, schaute den schlanken Mann in verwaschenen Jeans und Baumwollhemd, das unter der schwarzen Lederjacke hervor lugte, an. Der Fremde trug seine dunkelblonden Haare sehr kurz geschnitten, was sein schmales Gesicht und vor allem seine lange Nase betonte. Die dunklen Augen des Besuchers sahen geschminkt aus, als habe er mit einem Kajal-Stift einen schwarzen Strich unter den Lidern gezogen. Es verlieh seinem Gesicht einen besonderen Ausdruck. Tiefe Lachfalten hatten sich um seinen Mund gebildet, den ein Dreitagebart einrahmte.

Nach einigen Minuten schüttelte Grewe nur den Kopf und murmelte: »Tut mir leid.«

»Ich bin es«, sprach der Mann weiter. »Mimose!«

Grewe atmete hörbar tief ein.

»Dieser Spitzname sollte dir doch etwas sagen«, sprach Bonhoff weiter. »Wir haben mal zusammen im Stoß gearbeitet.«

Grewes Augen wurden groß. Alle starrten ihn an. Kein Geräusch unterbrach die Stille.

»Jetzt erinnere ich mich«, stieß Grewe endlich aus. Er schüttelte den Kopf, schaute dabei jedoch nicht auf Michael Bonhoff, sondern auf den Boden. Trotzdem konnten alle sehen, wie sein Gericht rot anlief.

*

Schnur fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Anton Grewe war ein ehemaliger Bergmann und er hatte nichts davon gewusst. Da stand er hilflos vor einem Todesfall in einer ihm völlig fremden Welt und in seinen eigenen Reihen befand sich ein Fachmann, der es nicht für nötig hielt, sein Wissen in die Ermittlungsarbeiten einzubringen.

Das musste er mit Grewe besprechen. Während sich die Laune seiner Mitarbeiter um ihn herum verbesserte, weil sich alle über diese Enthüllung freuten, verdunkelte sich Schnurs Stimmung zusehends. Es war Andrea, die plötzlich innehielt und die anderen mit ihrer Mimik auf den Dienststellenleiter aufmerksam machte. Augenblicklich wurde es wieder ruhig.

Grewe ahnte bereits, was in seinem Chef vorging. Also kam er ihm zuvor, indem er sagte: »Von April 1986 bis November 1990 habe ich als Bergmann auf der Grube Warndt gearbeitet.«

»Du erinnerst dich aber plötzlich sehr genau an die Daten«, bemerkte Schnur bissig.

Die Temperatur in dem Zimmer schien schlagartig zu sinken. Die Freude, die diese Neuigkeit zunächst ausgelöst hatte, war verschwunden. Alle Beamten wirkten betroffen. Bis auf Andrea. Mit einem Schmunzeln meinte sie: »Du wirst diese sprudelnde Quelle an Informationen über den Bergbau doch nicht schon gleich versiegen lassen, bevor sie eine Chance hatte, sich hier zu beweisen?«

Verwirrt schaute Schnur auf die Mitarbeiterin. Seine Laune war schlecht. Er war der Chef. Und das sollten alle respektieren. Doch als er Andreas entwaffnendes Lächeln sah, spürte er, wie sein Widerstand brach. Wie schaffte diese Frau das nur? War es die lange Zeit, die sie beide sich schon kannten? Er schüttelte den Kopf und beschloss, bei Gelegenheit ernsthaft darüber nachzudenken. In diesem Augenblick stand für ihn jedoch im Vordergrund, dass Grewe ihn unwissend zur Grube geschickt hatte. Das konnte er nicht einfach so hinnehmen.

»Über das Thema unterhalten wir uns später«, sagte er.

Egal, wie sehr er sich dagegen sträubte – aber Andrea hatte recht. Er musste jetzt den Vorteil daraus ziehen.

»Herr Bonhoff! Sie haben mir eben berichtet, dass Sie sich unter Tage in einer Position befinden, in der Sie interessante Beobachtungen machen konnten.«

Der Angesprochene nickte.

»Erzählen Sie uns bitte davon. Deshalb sind Sie doch hier, oder?«

Bonhoff zog die Schultern ein, als müsste er sich vor einem Angriff schützen, nickte nervös und begann zu berichten: »Schorsch sprach davon, dass sich Pitt gestern Morgen äußerst seltsam benommen hätte.«

»Mit Pitt meinen Sie Peter Dempler?«, hakte Schnur nach.

»Genau«, antwortete Bonhoff.

»Was meinte er mit seltsam benommen?«

»Verwirrt. So, als hätte er Medikamente genommen. Er hätte wirres Zeug geredet«, erzählte Bonhoff weiter. »Aber ich bin an diesem Morgen mit ihm zusammen runtergefahren. Da wirkte er wie immer – völlig normal.«

Schnur rieb sich über sein Kinn »Das allein ist aber kein Grund, an der Aussage von Georg Remmark zu zweifeln. Es könnte ihm später schlecht geworden sein.«

»Später hatte er sich bei mir abgemeldet und ist über den Bandberg II auf die fünfte Sohle gefahren«, widersprach Bonhoff. »Auch da ist mir nichts aufgefallen.«

»Wissen Sie, warum er dorthin gefahren ist?«

»Nein. Es war nur seltsam, weil er nicht wollte, dass ich das beim Steiger melde.« Bonhoff rieb sich nervös über seine Nase und meinte: »Und heute habe ich beobachtet, wie einige der Kameraden während der Schicht ebenfalls über den Bandberg II nach oben gefahren sind. Ich bin ihnen gefolgt.«

Stille trat ein.

»Haben Sie etwas herausfinden können?«

»Ich konnte kein Wort verstehen, weil es zu laut war.«

»Haben die Kameraden Sie gesehen?«

»Leider ja. Ich habe mich natürlich herausgeredet. Aber ob sie mir geglaubt haben …«

»Warum sind Sie den Kollegen gefolgt?«

Zögerlich antwortete Bonhoff: »Weil ich nicht daran glaube, dass Pitt verunglückt ist. Aber leider kann ich das nicht beweisen. Hinzu kommt, dass ich unter Tage allein mit dieser Meinung bin.«

»Für uns ist es wichtig herauszufinden, ob wir es mit Mord zu tun haben«, stellte Schnur klar. »Deshalb werden wir wieder nach Velsen fahren und dort ermitteln.«

Bonhoff lachte und sagte: »Die Kameraden werden Ihnen keine Hilfe sein. Für sie ist es ein Unfall.«

»Warum stellen Sie sich gegen Ihre Kameraden?«

»Weil ich Angst habe, ich könnte der Nächste sein, der tödlich verunglückt.«

*

»Warum verschwieg Hermes gelegentlich die Wahrheit, obwohl er als Götterbote dazu berufen war, die Botschaften der Götter an die Sterblichen zu überbringen?«, fragte Schnur.

Anton Grewe wand sich auf dem Stuhl, der seinem Vorgesetzten gegenüberstand, und meinte zögerlich: »Weil er Schaden vermeiden wollte.«

»Soll ich raten, welchen Schaden du vermeiden wolltest, als du mir verschwiegen hast, dass du aus dem Bergbau kommst?«

Grewes Gesicht wurde rot. Nur mit Mühe gelang es ihm, Schnur anzusehen, während er zugab: »Ich wollte nicht derjenige sein, der zum Ermitteln nach unter Tage geschickt wird.«

»Und warum nicht?«

»Ich habe den Beruf damals aufgegeben, weil ich mich dort deplatziert gefühlt habe.« Ein Schweißfilm bildete sich auf Grewes Stirn. Er wartete einen Augenblick, in der Hoffnung, diese Antwort würde Schnur genügen. Doch so war es nicht. Sein Vorgesetzter wollte mehr wissen. Also gab er zu: »Ich bin für diese harte Arbeit nicht geeignet.«

»Du hast aber doch diesen Beruf gelernt, sonst könntest du ihn nicht ausüben. Warum der Aufwand, wenn es sowieso kein Job für dich war?«

»Ich komme aus einer Bergmannsfamilie.«

»Ich staune«, gab Schnur zu. »Das wusste ich bisher auch nicht.«

»Ich habe nicht darüber gesprochen, weil … weil …«

»… es dir peinlich ist?«

»Es ist mir peinlich, dass ich diese Tradition gebrochen habe«, gestand Grewe. »Der Bergmannsberuf war in unserer Familie etwas Besonderes. Alle waren stolz darauf.«

»Aber?«, hakte Schnur nach.

»Ich fühle nicht wie ein Bergmann – und ich fühle mich nicht zum Bergmann geboren. Damals nicht und heute auch nicht. Aber davon wollte meine Familie nichts wissen. Da heißt es, dass der Beruf weitervererbt wird. Großvater Bergmann, Vater Bergmann, Sohn ebenfalls Bergmann. Niemand wagte es damals, diese Tradition zu brechen. Also habe ich die Klappe gehalten und bin runtergefahren. Mit dem Ergebnis, dass ich mich dort unten ständig wie ein Außenseiter gefühlt habe. Bis ich es geschafft habe, mich von meiner Familie abzuseilen. Ich bin vom Warndtdorf zuerst nach Saarbrücken gezogen. Und später nach Grosbliederstroff in Lothringen.«

»Leben deine Eltern noch in Dorf im Warndt?«

»Ja. Dort in der Grubensiedlung. Dort gehen sie auch nicht mehr weg.«

»Dann kannst du mir bestimmt sagen, wie du unsere Angelegenheit im Fall des toten Bergmanns einschätzt.« Schnur schaute erwartungsvoll auf den Beamten mit den schwarzen Locken. »Die Fakten und die Fotos kennst du. Haben wir es hier mit einem Unfall oder mit Mord zu tun?«

»Ich soll jetzt also wie ein Bergmann denken?«

Schnur nickte.

»Dann sage ich, dass es kein Mord war.«

Verdutzt schaute Schnur den Mitarbeiter an, worauf Grewe anfügte: »Kein Bergmann bringt einen anderen um. Diese Männer sind echte Kameraden und halten zusammen.«

»Das ist mir als Argument zu schwach«, gestand Schnur. »Ich hätte ein bisschen mehr erwartet.«

»Dafür brauche ich mehr Fakten, um die Sachlage besser beurteilen zu können«, gab Grewe zu.

Schnur grübelte eine Weile, bis er sagte: »Diese Fakten werden wir noch zusammentragen. Dann schauen wir, wie wir in diesem Fall weiter vorgehen werden.«

»Soll ich zur Witwe des Toten fahren?«, bot sich Grewe an.

»Nein. Das übernehme ich.«

»Warum?«

»Weil du die Akte über den Fall lesen sollst, um festzustellen, wo wir etwas übersehen haben. Vermutlich gibt es einige Ungereimtheiten, die nur du als Fachmann für den Bergbau feststellen kannst.«

Kullmann unter Tage

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