Читать книгу Kullmann unter Tage - Elke Schwab - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеAm Warndtschacht wurden Ann-Kathrin Reichert und Jürgen Schnur mit Steigeranzug, Grubenhelm, Schutzbrille, Lampe, Filterselbstretter und Staubmaske ausgerüstet, bevor sie den Förderkorb ansteuerten. Mit zwölf Metern pro Sekunde ging es hinab zur fünften Sohle. Am Füllort angekommen öffnete Remmark die Schachttüren und ließ dem Kommissar und der Staatsanwältin den Vortritt.
Keine stickige Enge oder finstere Höhle erwartete die beiden dort. Sie sahen hohe, halbrunde Gänge voller Licht, Lärm und Bewegung. Gebogene Stahlträger verbunden mit Stahlgitternetzen über ihren Köpfen stützten die Hohlräume ab. Durch die Gitter war grobes Gestein zu sehen, das aussah, als wollte es jeden Augenblick die Halterung sprengen und auf sie herabstürzen.
Sie stiegen eine stählerne Treppe hinunter und betraten eine Plattform, auf der sich einige Männer laut schreiend verständigten. Weiterer Lärm kam von Maschinen, die die Besucher nicht sehen konnten. Rohre mit unterschiedlichen Durchmessern verliefen quer am halbrunden Gewölbe über ihnen. Darauf standen schwarze, mit Wasser gefüllte Plastikwannen in der Größe von Wäschekörben, auf die Ann-Kathrin fragend wies. Remmark brummte etwas von Explosionsschutz, ohne sein Tempo zu verringern. In den Betonboden waren Schienen eingelassen, auf die sie achten mussten, um nicht zu stolpern. Einige Meter weiter wartete am Bahnhof ein Personenzug. Remmark wies die beiden an einzusteigen.
Schnur spürte Beklemmung. Der Waggon war eng und ohne Fenster. Er schaute auf Ann-Kathrin, doch die Staatsanwältin wirkte unbekümmert wie immer. Er gab sich einen Ruck und kletterte in die Kabine.
Nach einer knappen halben Stunde holpriger Fahrt durch stickige warme Luft und Wetterschleusen, vorbei an lärmenden Maschinen, hatten sie ihr Ziel erreicht. Schnurs Hände waren feucht. Zum Glück konnte das niemand sehen. Es wäre ihm peinlich zuzugeben, dass er mit Klaustrophobie zu kämpfen hatte.
Sie stiegen aus. Remmark ging voraus, zeigte auf einen Stollen zu seiner Linken und brummte: »Durch diesen Querschlag müssen wir gehen, dann kommen wir in den Streb, in dem meine Partie zurzeit arbeitet.«
Einige Minuten schritten sie schweigend durch den dunklen Querschlag. Die Lampen an ihren Helmen sorgten für ständig hin und her springende Lichtkegel. Und doch konnte Schnur in einiger Entfernung eine weitere Bahn erkennen. Dort waren die Waggons offen.
»Das ist die Kulibahn«, erklärte Remmark, als er Schnurs Blick bemerkte. »Damit fahren wird bis zur oberen Ecke des Strebes. Dort müssen Sie dann die Staubmasken anziehen, die ich Ihnen mitgegeben habe.«
Die Kulibahn war so schmal, dass sie für die Fahrt hintereinander sitzen mussten. Remmark übernahm den vorderen Platz und Schnur überließ der Staatsanwältin die Mitte. Der Gang, in den sie hineinfuhren, war noch enger und dunkler als der bisherige Weg. Die Temperaturen stiegen an, bis es stickig und heiß wurde. Irgendwann wurde es wieder heller und gleichzeitig auch lauter.
Die Kulibahn hielt an.
Remmark, Schnur und Ann-Kathrin setzten ihre Staubmasken auf und stiegen aus dem schmalen Zug. Remmark bediente einen Taster, der an der Wand des Gangs befestigt war, und löste ein Signal aus. Schlagartig wurde es stiller, aber wohl fühlte sich keiner. Schnur wollte sich in Ruhe umschauen, doch Remmark wies ihn an, ihm zu folgen. Sie blickten in einen schmalen Gang, der rechtwinklig schräg nach unten abzweigte. Zu ihrer Rechten befanden sich schwere Stahlketten knapp über dem Boden, auf denen Kohle und sonstiges Gestein lagerten. Eine große Maschine mit schraubenähnlichen Zahnrädern vorne und hinten nahm den meisten Platz in diesem engen Schlauch ein. Stählerne Stützen ragten in der Mitte der Strecke in die Höhe. Heiße Luft blies ihnen von unten entgegen. Nur langsam verbesserte sich die Sicht. Doch leider sah Schnur die über den Boden verlaufende Querstrebe zu spät. Er stolperte und landete schmerzhaft auf seinem Knie.
Schwarzgesichtige Bergmänner grinsten breit, einige lachten, während Schnur sich rasch wieder erhob und so tat, als spürte er nichts. Andere schauten staunend auf Ann-Kathrin, als sie merkten, dass eine Frau unter der Ausrüstung steckte. Nach fast 300 beschwerlichen Metern, in denen sie sich nur sehr langsam und vorsichtig bewegen konnten, erreichten sie den Walzenschrämlader, der an der unteren Ecke des Strebes stand.
»Was sollen wir hier?«, fragte Schnur mürrisch. »Ich will Anhaltspunkte dafür finden, ob wir es hier mit Unfall oder Mord zu tun haben, und nicht die Reise zum Mittelpunkt der Erde nachspielen!«
»Ich will Ihnen zeigen, wo Pitt gearbeitet hat«, antwortete Remmark. »Er war Schildfahrer.«
Schnur schaute den Steiger fragend an.
»Die Hydraulikschilde, über die Sie gerade gestolpert sind, stützen das Gebirge ab, das durch das Abfräsen der Kohle mit dem Walzenschrämlader frei wird.«
Plötzlich rief einer der Bergmänner: »Was ist los? Kann ich laufen lassen? Die Grubenwarte hat schon dreimal nachgefragt, warum die Förderung steht.«
Remmark gab ihm ein Zeichen und meinte zu Schnur: »Jetzt können Sie gleichen sehen, was ich meine.«
Dann hörte man durch einen Lautsprecher die Ansage: »Vorsicht am Panzer.« Und sofort begann wieder der ohrenbetäubende Lärm.
Sie sahen, wie sich die Zähne der Walze in die schwarze Wand hinein frästen. Die Kohle fiel direkt vor ihnen auf die schweren, stählernen Ketten des Panzerförderers am Fuß des Strebes. Dann bewegten sich die stählernen Mitnehmer, deren Bodenstreben für Schnur zur Stolperfalle geworden waren. Die Platten über ihnen, die die Decke vor Einbruch sicherten, senkten sich und rückten vor, bis sie fast an die Kohlewand anstießen, und fuhren wieder hoch.
In der Zwischenzeit rumpelte und krachte es brachial von der anderen Seite. Schnur und Ann-Kathrin drehten sich erschrocken um. Remmark erklärte schreiend, dass die Kohle gerade auf den nächsten Panzer in der Fußstrecke fiel und durch den Brecher gefahren wurde. Große, unregelmäßige Kohle- und Gesteinsbrocken fuhren auf der einen Seite in den Kasten von der Größe eines VW-Busses hinein und kamen am anderen Ende zerkleinert wieder heraus, wo der Transport ebenfalls auf einem schweren Kettenförderer fortgesetzt wurde.
Hinter den Schilden lag eine Aushöhlung, die in totaler Schwärze versank. Der Blick der Staatsanwältin blieb genau dort haften. Sie fühlte sich magisch angezogen – als sei sie immer noch das neugierige Mädchen, dem keine Gefahr zu groß war. Sie beugte sich vor, um durch den schmalen Spalt zwischen zwei Schilden hindurchzuschauen, als Remmark sie an ihrem langen Grubenmantel packte und zurückzog.
»Halt, Frau Staatsanwältin! Der Raum hinter den Schilden ist tabu! Die ungeschützte Stelle, die nach dem Abbau hinter dem Streb zurückbleibt, nennt man den Alten Mann.«
»Warum wird der nicht abgestützt?«
»Weil alle Versuche, diesen Raum zu sichern, zu teuer wären. Und da der Kohleabbau ohnehin schon zu teuer ist, wird dafür kein Geld investiert.«
»Klingt gefährlich.«
»Ist es auch! Wer dort verschüttet wird, kann nicht mehr geborgen werden.«
Mit schnellen Schritten entfernte sich Remmark, winkte den beiden Besuchern ihm zu folgen und steuerte die nächste Kulibahn an.
»Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Schnur, als sie sich wieder hintereinander in die engen Sitze quetschten.
»Zur Zwischensohle. Dort fährt uns die nächste Kulibahn zur sechsten Sohle.«
»Ist ihr Kollege auf der sechsten Sohle verunglückt?«
»Möglich.«
Schnur war es ganz recht, dass er diese Entfernungen nicht laufen musste. Doch kaum hatte er diesen Gedanken ausgedacht, hieß es: »Aussteigen! Den Rest müssen wir zu Fuß zurücklegen.«
Nach einem Kilometer erreichten sie den Gustavschacht.
»Hier muss es passiert sein«, sagte Remmark.
»Hier kann es nicht passiert sein«, widersprach Schnur.
»Wir haben uns auch schon die Köpfe darüber zerbrochen«, gab Remmark zu. »Er muss hier hinaufgestiegen sein. Vielleicht fiel er in Ohnmacht und stürzte in den Schacht.« Er zeigte auf eine metallene Treppe, die an der Außenseite des Schachtes bis zum Dach des Korbs führte.
»Auch die Theorie funktioniert nicht.« Schnur hustete und krächzte weiter: »Der Abstand zwischen dem Toten und dem Fahrstuhl …«
»… Korb …«
»… war dafür viel zu groß.«
»Wie groß?«, hakte Remmark nach.
»Nach den Messungen der Spusi beträgt der Abstand zweihundertfünfzig Meter.«
Remmark zog seinen Helm aus und kratzte sich am Kopf. Seine grauen Haare lagen wie ein lockiger Kranz um die kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Er schwieg eine Weile. Nur die Geräusche einiger entfernter Maschinen und der starke Luftzug der Bewetterung waren zu hören. Dann meinte er: »Okay! Ich habe eine Idee, wie es passiert sein könnte.«
»Wie?«
»Pitt hatte mir schon gleich morgens im Zechensaal kurz vor der Anfahrt zu verstehen gegeben, dass er sich nicht wohlfühlt. Ich wollte ihn heimschicken, aber er meinte, es sei nicht so schlimm. Vermutlich wurde es dann doch zu einer ernsten Sache und er ist über Bandberg II zur fünften Sohle hochgefahren.«
»Vermutlich? Sie wissen also nicht, was Ihre Leute so während der Schicht treiben?«, hakte Schnur nach.
»Doch! Auf die Jungs ist Verlass«, beharrte Remmark. »Wenn Pitt wirklich zur fünften Sohle gefahren ist, ohne sich bei mir abzumelden, dann hat er einem seiner Kameraden Bescheid gesagt.«
»Aber der Kollege müsste diese Mitteilung doch an Sie weitergeben!« Schnur spürte, dass hier etwas nicht stimmte.
»Kann sein, dass derjenige es vergessen hat. Ich habe mich schon umgehört, aber bis jetzt hat mir keiner bestätigt, dass Pitt sich bei ihm abgemeldet hätte.«
»Okay.« Schnur winkte ab. »Und mit welchem Gerät ist Dempler auf die fünfte Sohle gekommen? Das Wort habe ich eben nicht richtig verstanden.«
»Bandberg II.«
»Was ist das?«
»Damit meine ich einen schräg nach oben führenden Stollen mit einem Förderband, das die Kohle von der sechsten Sohle zur fünften Sohle fährt, weil sie nur von dort weiter bis zum Warndtschacht transportiert werden kann.«
»Wie kommen wir dorthin?«
Remmark ging die Hälfte der Strecke zurück, die sie gerade gekommen waren. Dort sahen sie, wie die Kohle, die eben noch im Streb abgebaut worden war, auf Förderbändern durch einen engen Tunnel nach oben transportiert wurde.
»Hier beginnt der Bandberg II. Er führt zur fünften Sohle in Richtung Warndtschacht.«
»Aber der Mann kam aus dem Schacht in Velsen.«
»Entweder wir nehmen jetzt den Weg, den Pitt aller Wahrscheinlichkeit nach genommen hat, oder wir fahren wieder über Tage«, brummte Remmark genervt.
Der Anblick des düsteren Tunnels, dessen Beleuchtung mehr als spärlich ausfiel, löste Atemnot bei dem Kommissar aus. In dieser Enge lief das Band in zügiger Geschwindigkeit und war mit schwarzem Gestein beladen.
»Wie weit ist es bis zur fünften Sohle?«, fragte Schnur weiter.
»Etwa 1200 Meter. Ein Katzensprung.«
»Ich habe wohl keine andere Wahl.« Schnur rieb sich nervös über sein Kinn. »Schließlich müssen wir herausfinden, was hier unten passiert ist.«
Über eine Leiter gelangten sie zur Aufstiegsstelle des Bandes, sprangen auf und eine rasante Fahrt nach oben begann. Schnur spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Die Seiten schienen immer näher zu rücken. Er warf einen fragenden Blick auf die Staatsanwältin, doch Ann-Kathrin Kramer wirkte eher amüsiert als beängstigt.
»Alles ok?«, fragte Remmark.
»Und wie!«, gab die Staatsanwältin zurück.
*
Andrea Westrich unterdrückte ein Fluchen, als sie sich Paolo Tremantes Bemühungen ausgesetzt sah, sich bei ihr einzuschmeicheln. Seine schwarzen Haare lagen ordentlich gekämmt. Graumelierte Schläfen verliehen ihm etwas Seriöses. Den ersten Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, musste sie jedoch schnell korrigieren. Seine Sprüche waren mehr als trivial, seine Selbstsicherheit wirkte lächerlich.
Sie schüttelte energisch ihren Kopf. »Ich bin Polizeibeamtin und bitte Sie, auf Distanz zu bleiben.«
»Schöne Frau«, sprach er mit einer Betonung, die Andrea auf die Palme brachte. »Warum haben Sie so einen unschönen Beruf?«
»Das geht Sie nichts an!« Andrea setzte einen Blick auf, der den kleinen, drahtigen Mann in seine Schranken wies.
»Amore!«, riefen einige Kameraden belustigt, die das Schauspiel beobachtet hatten. »Lässt du wieder deinen Charme spielen?«
Tremante winkte ab und lächelte die Kriminalistin ergeben an.
»Was macht Sie so sicher, dass der Tote Ihr Kollege Peter Dempler ist?«
»Guarda, Bella Donna«, begann Tremante, woraufhin Andrea ihn sofort unterbrach und sagte: »Auf Deutsch bitte!«
»Scusa, bella mia!« Er faltete beide Hände und verbeugte sich leicht vor ihr. »Er ist mit uns runtergefahren, doch dann hat ihn niemand mehr gesehen. Auch als wir nach der Schicht hochgefahren sind – heute im Warndt, Sie wissen schon warum – war er nicht dabei.«
»Kann es nicht sein, dass er mit einer anderen Gruppe von Männern gefahren ist?« Andrea schaute sich um und sah, dass sich der Platz mehr und mehr mit Bergleuten füllte, das Stimmengewirr wurde immer lauter und die Stimmung aggressiver. »Wie ich sehe, arbeiten hier sehr viele. Da kann sich doch einer schon mal in eine andere Gruppe verlaufen.«
»Niemals! Wir fahren mit unserer Partie zusammen runter und nach der Schicht wieder rauf.« Tremante schüttelte energisch den Kopf.
»Partie?«
»Gruppe, Signora. Das ist Bergmannssprache«, antwortete Tremante mit einem Lächeln. »Partie heißt Gruppe.«
»Also könnte Peter Dempler auch mit einer anderen Partie über Tage gefahren sein.«
»No Signora! Glauben Sie mir, es hat unseren Kameraden erwischt. Povero Ragazzo!«, erklärte Tremante mit weinerlicher Stimme. »Seine Lampe und seine Fahrmarke hat er noch nicht zurückgegeben. Fragen Sie doch in der Lampenstube nach!«
»Hatte Dempler mit jemandem Streit unter Tage?«
»No no! Sempre il bene. Er wollte immer, dass alle gut miteinander sind. Niemals würde er streiten.«
Andrea blickte ihn misstrauisch an. Sie überlegte, ob das eine Masche des Italieners war, oder ob er ernsthaft glaubte, was er sagte. Der sentimentale Ausdruck in seinem Gesicht war so plötzlich gekommen, dass sie Schauspielerei dahinter vermutete.
»Warum hat er sich dann von seiner eigenen Partie getrennt?«
»Se sapessimo! Wenn wir das wüssten …« Mit beiden Händen wies Tremante zu der Stelle am Förderturm, an der der Tote geborgen worden war, und fügte an: »Wir können ihn nicht mehr fragen.«
Andrea war sich sicher, dass dieser Mann ihr etwas vorspielte.
*
Am oberen Ende des Förderbandes sprangen sie nacheinander vom Band.
Jürgen Schnur stöhnte, als er sein Gleichgewicht wiederfand. »Warum tu ich mir das an?«
Ann-Kathrin lachte und meinte: »Sag nur, du hast als Kind keine solchen Sachen gemacht?«
»Welche Sachen?«
»Auf fahrende Züge aufspringen und wieder abspringen. Auf ein Fahrstuhldach springen, während die Kabine in die Tiefe geht.«
Schnur schaute die Staatsanwältin an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ihr Gesicht war kohleverschmiert. Einzelne Strähnen ihrer roten Haare kamen unter dem Helm zum Vorschein und schimmerten ebenfalls schwarz.
Sie schauten sich um und erkannten schnell, dass es auf der fünften Sohle genauso wie auf der Sechsten aussah, mit dem Unterschied, dass hier viel mehr Betriebsamkeit herrschte. Waggons, beladen mit Material, fuhren an ihnen vorbei, Bergleute eilten hin und her und riefen sich mit lauten Stimmen Informationen zu.
»Also, hier läuft das Förderband, das mit Kohle beladen ist. Über Bandberg II und die Hauptstrecke kommt sie dann in den Kohlenbunker 3 auf Sohle fünf, von dort auf das nächste Förderband, das bis zum Warndtschacht auf die vierte Sohle führt«, erklärte Remmark. »Genauso – also über die Bänder – können auch die Kameraden zum Warndt gelangen, was wir aber kaum noch machen, weil die Fahrt unter Tage viel länger dauert als über Tage. Es sei denn, die Seilfahrt in Velsen ist blockiert – so wie jetzt.«
»Aber wir wollen zum Gustavschacht«, stellte die Staatsanwältin klar. »Denn dort ist es passiert.«
»Wir fahren mit dem Zug, weil es ein gutes Stück von hier entfernt ist«, sagte Remmark.
Doch Schnur lehnte ab. Seine Klaustrophobie machte ihm ohnehin zu schaffen. Sein Herz klopfte in seiner Brust. Die Luft wurde knapp. Überall, wo er hinschaute, sah er nur finstere Gänge, die schwach ausgeleuchtet waren. Der Gedanke, wieder in die enge Kabine des Personenzuges zu steigen, machte alles nur noch schlimmer.
»Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß«, sagte er und legte so viel Entschlossenheit in seine Stimme, wie es ihm in dieser Situation möglich war. »Sollte ein Kampf stattgefunden haben, könnte es sein, dass wir auf Spuren stoßen.«
»Wie Sie meinen«, brummte Remmark und marschierte los.
Sie entfernten sich immer weiter von der Abstiegsstelle, bis es still wurde. Nur ihre eigenen Schritte und ihr Schnaufen waren in dem düsteren Gang zu hören.
»Hier ist es verdammt leise«, stellte Schnur nach einer Weile fest. »Und finster.«
»Hier wird an den Stellen an Material und Strom gespart, an denen nicht mehr gearbeitet wird.«
»Heißt das, dass hier sämtliche Kohle bereits abgebaut ist?«, fragte Schnur.
Remmark nestelte an seiner Jackentasche, fischte etwas heraus, was er sich in den Mund schob, und antwortete: »Hier ist kein weiterer Abbau mehr geplant. Aus und vorbei! Kohle ist hier im Erdreich noch mehr als genug zu finden.«
Schnur spürte, dass er das Thema falsch angepackt hatte. Der Abbaustopp war bei den Bergleuten nicht auf große Freude gestoßen.
»Sie ahnen ja gar nicht, wie viele hunderttausend Tonnen Kohle hier unter der Erde noch schlummern. Dafür bräuchte man Tausende von Bergleuten und mehrere Hundert Jahre Zeit, um das alles abzubauen.«
»Das glaube ich Ihnen«, versuchte Schnur umzuschwenken. »Aber deshalb sind wir nicht hier.«
»Was glauben Sie, wie die Stimmung hier unten ist?«, brüllte Remmark weiter, als hätte Schnur nichts gesagt. »Abbaustopp! Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen. Die Länder wollen keine Subventionen mehr für den Abbau von Kohle bezahlen und faseln uns etwas von CO²-Ausstoß und Klimawandel. Und warum?«
»Die faseln nicht nur etwas von CO²-Ausstoß, die Umweltbelastung ist eine Tatsache«, mischte sich nun die Staatsanwältin ein. »Das Verbrennen von Steinkohle setzt nun mal CO² frei, sodass es sich in der Atmosphäre anreichern kann und das Klima erwärmt. Viele Millionen Tonnen CO² wurden dadurch schon freigesetzt. Selbst das modernste Kohlekraftwerk stößt im Vergleich zu einem Gaskraftwerk doppelt so viel CO² aus. Klimaschutz ist mit Bergbau unmöglich.«
Remmarks Stimme ging in ein wütendes Brüllen über, als er widersprach: »Das ist doch alles Blödsinn! Wie gewohnt schießt unsere Regierung über das Ziel weit hinaus. Auf nationaler Ebene hat sie bis 2005 bereits eine 25-prozentige Minderung an CO²-Emissionen in Deutschland erreicht. Trotz Bergbau oder besser gesagt mit Bergbau. Glauben Sie mir, es ist ein großer Fehler, alle Gruben zu schließen und absaufen zu lassen. Was würde das ändern? Selbst eine Abschaltung aller deutschen Kohlekraftwerke wird den CO²-Anstieg nur minimal verlangsamen. Man glaubt es nicht, aber der weltweite Anstieg der Energieerzeugung durch Kohle lässt die gewonnene CO²-Reduzierung schnell wieder verschwinden.«
»Ihre Verteidigung des Kohleabbaus kann ich verstehen«, gab Ann-Kathrin zu. »Es ist jedoch eine unbestrittene Tatsache, dass trotz Ihrer Beteuerungen bisher keine Lösung für das Klimaproblem gefunden wurde. Der Versuch, in Kraftwerken das bei der Verbrennung fossiler Energien entstehende CO² aufzufangen und in geologischen Lagerstätten zu speichern, scheitert daran, dass diese Speicherung sehr viel Energie verbraucht, für die wiederum umso mehr Kohle verbrannt werden muss. Damit nimmt die Gesamtbelastung durch den Bergbau zu – und nicht ab. Es nützt alles nichts! Die Ursachen des Klimawandels müssen bekämpft werden.«
»Es gibt inzwischen schon neue Kraftwerkstechnologien, die eine deutlich reduzierte CO²-Belastung möglich machen. Man sollte uns einfach nur die Zeit geben, weiter an dieser Entwicklung zu arbeiten. Aber nein, die Regierung beschließt, diese Gruben zuzuschütten – also werden sie zugeschüttet. Dann ist es aus und vorbei mit dem Kohleabbau im Saarland.« Remmark schnaubte wie ein Pferd. »Was glauben Sie, was die uns mit dem endgültigen Abbaustopp antun? Woher bekommen wir in Zukunft unsere Energie? Es ist doch jetzt schon so, dass wir alles teuer von den Scheichs und Russen kaufen, damit wir heizen können. Dabei haben wir das beste Material für Wärme und Energie zu Hause im eigenen Boden.«
»Hinzu kommen die Bergsenkungen …«, setzte die Staatsanwältin erneut mit Gegenargumenten an. Aber auch dagegen schien der Steiger immun zu sein. Er sprach einfach weiter: »Andere Länder bauen doch auch Kohle ab. Und nicht nur ein bisschen, sondern gehen in die Vollen, damit wir denen hinterher die Kohle wieder teuer abkaufen. Hinzu kommt, dass ein Verzicht auf Steinkohle aus dem eigenen Land keinen Nutzen fürs Klima bringt. Die Importkohle kommt nämlich aus weniger umweltschonender Produktion, womit wir die Gesamtbelastung letztendlich doch nur weiter in die Höhe treiben. Ein erheblicher Gewinn für die Umwelt wäre, alle Kohlekraftwerke der Welt mit deutscher Spitzentechnik für Kraftwerke auszustatten. Aber nein! Wir begraben unsere Technik und unseren Fortschritt.« Remmark schob sich ein neues Stück Kautabak in den Mund. »Und was tun wir, wenn die Preise für Gas und Öl unbezahlbar geworden sind? Neue Gruben schaufeln?«
»Die Deutsche Kohle hat sich doch in den letzten Jahren nur noch durch Subventionen halten können. Sogar der Import von Kohle ist für uns billiger als der Abbau im eigenen Land«, argumentierte die Staatsanwältin nun, doch auch damit war Remmark nicht zu überzeugen. Er tippte sich an die Stirn. »Ach was! Irgendwann stehen wir da, können die explodierenden Kosten für die Energie aus dem Ausland nicht mehr tragen und erinnern uns, dass wir doch eigentlich einen eigenen Energieträger haben. Nur wo? Dann ist alles zugeschüttet und begraben worden. Es würde zwanzig Jahre dauern, um wieder an den Stand heranzukommen, den wir jetzt haben. Und wie schwer es wäre, dann wieder von vorne anzufangen! Diese Arbeit können nur Männer machen, die das richtig gelernt haben. Mit dem iPod oder Laptop in der Hand holt keiner die Kohle nach oben. Da sind schwere, körperliche Arbeit und Fachwissen gefragt. Da muss man vom bequemen Stuhl aufstehen, runter unter Tage fahren und ranklotzen.« Remmark schnappte nach Luft. »Alle unsere Fertigkeiten, unsere Technik, unsere Standorte – all das, was in die Entwicklung gesteckt wurde, um den heutigen Standard zu erreichen. Das alles zerstören wir innerhalb von wenigen Wochen, weil die Politiker das so entschieden haben. Mal sehen, wie lange es dauert, bis die merken, dass Atomkraftwerke viel gefährlicher sind.«
Remmark spuckte eine braune Masse direkt neben Ann-Kathrins Füßen auf den Boden.
Die Staatsanwältin beachtete diese Geste nicht. Sie wusste, dass die Bergmänner anstatt zu rauchen Kautabak zerkauten und wieder ausspuckten. Sie hatte außerdem keine Lust mehr, mit diesem Mann über politische Entscheidungen zu diskutieren, weil Remmark resistent gegen ihre Argumente war. Sie ging weiter und schaute sich um. Die Verschachtelungen unter Tage, die Löcher, in denen alles im schwarzen Nichts verschwand, all das erregte ihr Interesse weitaus mehr als ein querköpfiger Hitzkopf. Höhlen waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen. Und wenn sie es sich genau anschaute, hatte eine Grube einen gewissen Höhlencharakter.
Plötzlich stieß sie auf eine Stahltür. Sie trat darauf zu und fragte: »Was ist hinter dieser Tür?«
»Eine alte Gezähekammer.«
»Was ist eine Gezähekammer?« Ann-Kathrin stutzte.
»Eine Gezähekammer ist ein Raum, in dem wir das Arbeitsmaterial lagern, das wir nicht ständig mit uns tragen können«, antwortete Remmark. »Diese Kammer ist der Anfang einer vorzeitig eingestellten Strecke. Dort sind wir nur einige Meter vorgestoßen, bis die Planungsabteilung die Arbeiten wegen des Abbaustopps beendet hat.«
»Also sowas wie eine Sackgasse?«
»Genau. Am Montag, wenn die Auszubildenden das erste Mal unter Tage arbeiten, lasse ich sie diesen Eingang zumauern.«
»Wofür werden die Männer überhaupt noch ausgebildet?«
»Sie können mit den Fertigkeiten, die sie hier lernen, in Gruben im Ruhrgebiet sofort zu arbeiten beginnen – solange die Gruben dort noch in Betrieb sind. Oder ins Ausland gehen.«
Ann-Kathrin setzte ihren Weg fort. Die beiden Männer folgten ihr, bis sie auf eine Heiligenfigur in einer Wandnische stießen. Darunter standen die Namen: Karl Fechter und Winfried Bode.
»Was ist den beiden passiert?«, fragte sie.
Remmark schnaubte und schob sich das nächste Stück Kautabak in den Mund. Hektisch bewegte er seine Kiefer, als er antwortete: »Dort ist vor Jahren ein Stollen eingebrochen.«
»Wann war das?«
»Vor elf Jahren – im Herbst 1999«, antwortete Remmark. »Haben Sie nichts von dem Unglück gehört?«
Ann-Kathrin überlegte eine Weile. »Gehört schon. Ich kann mich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern.«
»Mehrere Bergleute sind hier verschüttet worden. Alle konnten nur noch tot geborgen werden.« Eine kurze Pause entstand, dann fügte Remmark an: »Bis auf diese beiden.«
Die Stille, die nun folgte, war bedrückend.
»Gehörten diese beiden Kameraden zu Ihrer Gruppe?«, fragte Schnur.
»Eher umgekehrt. Fechter war vorher der Steiger und ich gehörte zu seiner Partie. Winni Bo war Streckenhauer. Er hing immer mit Fechter zusammen.«
»Winni Bo?«, fragte Schnur staunend.
»So nannten wir Winfried Bode, weil wir schon einige Winnis hatten und Verwechslungen vermeiden wollten«, erklärte Remmark.
»Und was ist mit den Leichen?«
»Sie konnten trotz erheblichen Aufwands nicht gefunden werden. Keine Spur von ihnen.« Remmark spuckte. »Sie waren so tief verschüttet, dass wir sie dort liegen lassen mussten. Deshalb haben wir eine Statue der heiligen Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, an dieser Stelle angebracht – als Gedenkstätte sozusagen.«
Das nahm Schnur zum Anlass, wieder auf den eigentlichen Grund zu sprechen zu kommen, weshalb er überhaupt in diesen tiefen unterirdischen Katakomben umherirrte: »Okay. Wir sind aber hier, um den Fall unseres Toten in luftiger Höhe zu bearbeiten. Wir sollten also weitergehen!« Er wollte so schnell wie möglich wieder an die Oberfläche zurückkommen.
Einige Zeit schritten sie zu dritt die Strecke entlang und sprachen kein Wort. Bis Remmark schließlich am Schacht stehenblieb und auf ein Gitter zeigte.
»Hier!«
Bei genauem Hinsehen konnte Schnur über dem Gitter eine Schiene erkennen, auf der Rollen liefen, an denen das Gitter befestigt war. Zwischen den unregelmäßigen Eisenstäben konnte man deutlich das Stahlseil erkennen.
Schnur schaute sich um. In einiger Entfernung sah er einen Bergmann, der mit zügigen Schritten in der Dunkelheit verschwand. Ein anderer trat aus einem Seitenstollen und verschwand wieder auf der gegenüberliegenden Seite.
»Warum ist es hier so ruhig?«
»Weil hier nicht gearbeitet wird. Allerdings herrscht zum Schichtwechsel hier Hochbetrieb.«
Schnur nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schachttür. »Sieht nicht so aus, als könnte jemand zufällig durch das Gitter fallen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Dass es kein Unfall war. Jemand muss das Gitter geöffnet haben.«
»Niemand hat das Gitter geöffnet«, widersprach Remmark.
»Was macht Sie so sicher?«
»Wenn das Gitter geöffnet wird, bekommt unser Fördermaschinist über Tage ein Warnsignal, damit er den Korb nicht weiterfährt. Aber Siggi hat nichts dergleichen gemeldet.«
»Aber irgendwie ist der Mann an das Seil geraten.« Schnur warf einen Blick durch die Gitter auf das Stahlseil und fügte an: »Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass jemand an einem solchen Seil aus Versehen hängenbleibt.«
»So unwahrscheinlich ist das nicht«, widersprach Remmark. »Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie die einzelnen dünneren Seile, aus denen das dicke Führungsseil zusammengesetzt ist.«
Schnur nickte.
»Die heißen Litze. Manchmal passiert es, dass sich eine Litze ablöst. Dann ragt sie aus dem Seil wie ein fingerdicker Dorn. Und der besteht aus stabilem Stahl. Daran kann ein Mensch hängenbleiben.«
»Und wie?«
»Mit dem Lampengürtel zum Beispiel.«
»Aber wie ist er dorthin gekommen?«
»Vielleicht ist er tatsächlich durch das Gitter geklettert und wollte über die Fahrten im Schacht nach oben. Dabei wurde er ohnmächtig.«
»Diese Leitern befinden sich also innerhalb des Schachtes?«
»Ja. Die sind für Notfälle, wenn der Korb mal ausfällt oder mitten in einer Fahrt stehen bleibt. Das ist schon mal vorgekommen, als hier noch mehr los war. Früher haben wir hier noch mit mehreren Hundert Mann gearbeitet. Da fuhren die Körbe mit Menschen und Material ständig rauf und wieder runter. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Betrieb hier mal geherrscht hat.« Remmark schnappte wieder nach Luft. Als niemand auf seine Worte reagierte, sprach er weiter: »Mit 3000 Mann haben wir täglich 6000 Tonnen nach oben befördert. Das waren noch Zeiten. Doch im Laufe der Jahre wurden immer weniger Bergleute beschäftigt. Den Rest kennen Sie ja.«
»Ich habe genug gesehen. Leider müssen wir den ganzen Weg wieder zurück, weil der Gustavschacht noch gesperrt ist«, murrte Schnur.
Remmark steuerte den Zug an, der bereits auf sie zu warten schien.
*
Schon wieder spürte Andrea Westrich die prüfenden Blicke der Männer, während sie sich ihre langen Haare zurückband. Sie suchte Arthur Hollinger, der die Besucher des Erlebnisbergwerks betreute. Nach der Bergung der Leiche war er erstaunlich schnell aus ihrem Blickfeld verschwunden, obwohl alle aufgefordert waren, den Platz nicht zu verlassen.
Eine Windböe traf sie so heftig, dass sie gegen einen kleinen Mann stieß, der diese Begegnung sofort mit einem freudigen Grinsen kommentierte. Andrea schaute auf und sah ein rundes Gesicht, das voller Kohlenstaub war. Sie konnte nicht anders, sie musste ebenfalls lachen.
»Glückauf!«, rief der Mann mit rauer Stimme gegen den Wind.
»Glückauf!«, erwiderte Andrea, die sich den Bergmannsgruß ebenfalls angeeignet hatte.
»Wen suchen Sie?«
»Arthur Hollinger, den Touristenführer des Erlebnisbergwerks.«
»Der ist in die Kaffeeküche gegangen«, rief der Mann. »Wer Addi kennt, weiß, dass er immer beim Essen ist, wenn er mal nichts zu tun hat. Und das kommt oft vor.« Der Bergmann lachte.
Andrea bedankte sich und machte sich auf den Weg zur Kantine. Der Gedanke an einen Kaffee behagte ihr. Der Wind und die Kälte machten ihr zu schaffen. Sie war für diese Witterung nicht richtig angezogen, weil sie nicht damit gerechnet hatte, an einen Tatort gerufen zu werden.
Sie öffnete die schwere Tür. Ihr Bick fiel auf eine Theke, die Wurst, Fleisch und Salate in großer Vielfalt anbot. Dahinter entdeckte sie eine Kaffeemaschine – genau das, was sie jetzt brauchte. Doch erst als die Tür hinter ihr zugefallen war, bemerkte sie, wie leise es plötzlich war. Erstaunlich wenig Betrieb herrschte in der Kaffeeküche. Das wunderte sie. Draußen in Wind und Kälte war alles voller Menschen. Und hier in der halbwegs warmen Stube gähnten leere Stühle. Nur ein Mann saß in der hinteren Ecke und biss gerade in ein Wiener Würstchen.
Andrea bestellte sich an der Theke einen Kaffee und trat auf den Mann zu.
»Sind Sie Arthur Hollinger?«
»Der bin ich.« Er schaute auf. Seine dunklen, mit Grau durchzogenen Haare standen wirr vom Kopf ab. Sein Gesicht war gerötet, seine braunen Augen schauten sie fragend an.
»Sie sind bestimmt von der Polizei«, meinte er und bot ihr an, sich neben ihn zu setzen. Ein Ruf von der Theke verkündete Andrea, dass der Kaffee fertig war. Schnell schnappte sie sich die heiße Tasse und ließ sich neben dem Bergmann nieder.
»Wissen Sie schon, wer der Tote ist?«, fragte Hollinger.
Andrea antwortete: »Wir wissen leider noch nicht sehr viel. Deshalb müssen wir einige Fragen stellen.«
»Das war ein Unfall, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen«, sagte Hollinger mit vollem Mund.
»Schön. Trotzdem habe ich einige Fragen an Sie.«
»Schießen Sie los!«
»Wie jeder aus Ihrer Gruppe mitbekommen hat, hing der Tote an dem Seil, das den Aufzug hochzog«, begann die Kriminalistin.
»Das heißt nicht Aufzug, das heißt Förderkorb«, korrigierte der Bergmann.
»Und für die Führung heute Morgen haben Sie den Förderkorb außer der Reihe hochfahren lassen. Eine Leerfahrt sozusagen«, fuhr Andrea fort.
Hollinger hörte auf zu kauen.
»Worauf wollen Sie hinaus?« Diese Frage klang nun weniger freundlich, dachte Andrea. Sie war wohl dabei, einen wunden Punkt zu treffen.
»Darauf, dass der Unfall vielleicht nur deshalb passieren konnte, weil eine unplanmäßige Fahrt mit dem Aufzug gemacht worden ist.«
»Diese Fahrt war nicht unplanmäßig!« Hollingers Tonfall wurde kälter. »Es steht hier auf jedem Dienstplan, dass immer am ersten Dienstag im Monat eine Führung der Besucher durch das Erlebnisbergwerk stattfindet, die ich mit einer Leerfahrt des Förderkorbs beginne. Immer zur selben Uhrzeit.«
Andrea versuchte, den Mann zu beruhigen, doch er war noch nicht fertig: »Hinzu kommt das Signal, das wir bei jeder Fahrt mit dem Korb geben. Bevor der Korb in Betrieb genommen wird, werden laute Signale gegeben. Die Signale hört man auf allen Sohlen. Alle wissen dann, dass die Leerfahrt beginnt.«
»Ich habe verstanden«, kommentierte Andrea, um den Redefluss des aufgebrachten Mannes zu stoppen. »Das deutet ja dann eher auf Mord hin als auf einen Unfall.«
Hollinger verschluckte sich fast, als er seine Wurst mit einem Schluck Bier herunterspülen wollte. Hastig meinte er: »Das war ein Unfall, wie Schorsch gesagt hat.«
»Mit Schorsch meinen Sie Georg Remmark?«
»Genau. Schorsch kennt dort unten jeden Winkel und jeden Kameraden. Er kann die Lage besser einschätzen als jeder andere – glauben Sie mir!«
»Das würde ich ja gerne. Aber Remmark ist Bergmann und kein Kriminalbeamter«, erklärte Andrea mit Nachdruck in der Stimme. »Er muss nicht herausfinden, was wirklich passiert ist. Aber wir!«
»Schorsch weiß mehr, als Sie denken. Wenn der sagt, dass es ein Unfall ist, dann ist das so.«
»Und wenn nicht?«, entgegnete Andrea. »Sollte es sich doch um Mord handeln, wäre es für alle anderen Kameraden gefährlich dort unten. Ein Mörder wäre unter ihnen, der jederzeit wieder zuschlagen könnte.«
»Ich glaube, Sie gucken zu viele Krimis im Fernsehen.« Hollinger schmunzelte. »Das hört sich ja nach Edgar Wallace an. Aber glauben Sie mir: Hier liegen die Dinge anders. Die Kameraden hier halten zusammen und bringen sich nicht gegenseitig um.«
»Was macht Sie so sicher?«
Hollinger lehnte sich zurück, überlegte kurz und antwortete dann: »Wissen Sie: Das Wichtigste in unserem Beruf ist die Kameradschaft, die uns verbindet. Es existiert so etwas wie ein Ehrenkodex für Bergleute. Die Gefahr unseres Berufs schweißt uns zusammen. Jeder ist auf den anderen angewiesen. Deshalb ist der Zusammenhalt eine überlebenswichtige Sache. Jeder muss sich auf den anderen hundertprozentig verlassen können. Hinzu kommt die Tiefe, in der wir uns befinden. Tausend Meter unter der Erde – da ist man von oben abgeschnitten. Dort unten leben wir in unserer eigenen Welt. Bei Unfällen oder sonstigen kritischen Situationen können wir nicht auf Hilfe von außen warten. Also müssen wir uns selbst helfen. Aus dem Grund tun wir auch alles, um Gefahren zu vermeiden. Das tun wir mit lauten Signalen oder sonstigen Kennzeichen. Für alles, was uns gefährlich werden könnte, haben wir spezielle Zeichen, die uns genau angeben, worauf wir achtgeben müssen. Damit vermeiden wir Unfälle – soweit es eben möglich ist. Wir bewegen uns dort unten mit der absoluten Gewissheit, dass jeder auf den anderen aufpasst. Dort läuft niemand herum, der seinesgleichen tötet.«
Andrea lauschte seinen Worten und spürte, dass dieser Mann aus voller Überzeugung sprach. Und doch war dort unten in der Tiefe etwas passiert. Die Art, wie das Opfer zu Tode gekommen war, ließ zu viele Fragen offen.
»Ist das der einzige Grund, warum Sie fest an einen Unfall glauben?«
Hollinger starrte Andrea verständnislos an, woraufhin sie ihre Frage deutlicher stellte: »Kann es sein, dass Ihnen besonders viel daran liegt, uns davon zu überzeugen, dass polizeiliche Ermittlungen nicht nötig sind?«
»Polizeiliche Untersuchungen sind sowieso nicht nötig«, gab er überzeugt zurück. »Wenn hier eine Untersuchung nötig wäre, wäre das Bergamt zuständig und nicht Sie.«
»Da muss ich Sie enttäuschen. Das Bergamt hat die Staatsanwaltschaft gebeten, diesen Fall genau zu prüfen.«
Arthur Hollinger stutzte. Er starrte Andrea mit großen Augen an.
»Also noch mal: Warum halten Sie so verbissen an der Unfalltheorie fest?«
Eine Weile wand sich der Bergmann, bis er endlich zugab: »Was glauben Sie, was passiert, wenn das Gerücht aufkommt, dass in Velsen unter Tage Bergleute getötet werden?«
»Bergleute? Ich weiß nur von einem!«
Arthur rollte die Augen und meinte: »Sie sprachen doch selbst davon, dass wir alle in Gefahr sind.«
Andrea nickte und hakte nach: »Was würde passieren?«
»Die Zeche wird sofort geschlossen«, zischte er. »Und zwar vor der vereinbarten Zeit.«
Andrea konnte den Mann nur fragend anschauen.
»Dann bin ich meinen Job los. Oder ich muss an die Ruhr, weil dort noch einige Gruben in Betrieb sind. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, umzuschulen. Das traue ich mir in meinem Alter nicht mehr zu.«
*
Alle Blicke waren auf Jürgen Schnur gerichtet. Sorgfältig hatte er sein Gesicht eingeseift und geschrubbt. Trotzdem schimmerte es immer noch schwarz.
»So wurde aus Barbarossa der Sarotti-Mohr«, stellte Erik nach einer Weile des Schweigens fest.
Andrea lachte, doch Schnur blickte grimmig zu Erik und fragte: »Habt ihr auch was gemacht, während ich in den Hades hinabgestiegen bin?«
»Haben wir. Recherche über Tage«, kam es von Andrea.
»Und was habt ihr herausgefunden?«
»Mein Eindruck ist, dass alle Bergmänner an der Unfall-Theorie festhalten. So, als hätten sie sich abgesprochen und wollten gar nicht wissen, was wirklich passiert ist – Hauptsache, es wird als Unfall deklariert und wir verschwinden schnell wieder.«
»Warum?«, fragte Schnur.
»Sie haben Angst, die Grube würde geschlossen, wenn sich herausstellt, dass es Mord war und jemand der Bergleute im Verdacht steht, dort unten seine Kollegen umzubringen. Hinzu kommt die Angst vor Umschulung oder Versetzung ins Ruhrgebiet. Die Männer sind alle nicht mehr die Jüngsten.«
»Das bringt uns nicht weiter«, stöhnte Schnur.
»Nun erzähl mal, was du in tausend Metern Tiefe herausgefunden hast«, drängte Erik.
Schnur verzog freudlos sein Gesicht bei der Erinnerung an seine Exkursion und berichtete: »Der Steiger Remmark hat uns nach langem Zögern eine Stelle gezeigt, an der das Opfer tatsächlich an das Stahlseil gelangen konnte.«
Erstaunt horchten alle auf.
»Es ist der Zugang zum Personenförderkorb auf der fünften Sohle.«
»Mehr nicht?«
»Doch. Diese Tür ist gesichert. Immer wenn sie geöffnet wird – geplant oder ungeplant, ob mit Korb oder ohne – bekommt der Maschinist oben ein Signal. Wir haben ihn nach der genauen Zeit gefragt, als der Mann verunglückte, und zu dieser Zeit kam kein Signal oben an.«
»Was heißt das für uns?«
»Dass wir herausfinden müssen, wie man diese Tür öffnen kann, ohne dass es der Maschinist mitbekommt.«
»Also doch Mord?«
»Stark anzunehmen.« Schnur rieb sich über sein Kinn. »Es ist fast unmöglich, sich an diesem Seil aus Versehen festzuhaken und bis nach oben gezogen zu werden.«
»Und wie hat Remmark den Sachverhalt erklärt?«
»Er behauptet, Dempler sei schon am frühen Morgen mit Kreislaufbeschwerden zur Arbeit angetreten. Gegen Remmarks Rat sei er mit eingefahren, um zu arbeiten. Er hält es für möglich, dass Peter Dempler aus irgendeinem Grund über die Schachtleiter nach oben wollte. Dann wurde ihm schlecht oder er verlor das Bewusstsein und stürzte von der Leiter. In seiner Not wollte er sich am Seil festhalten. Dabei könnten sich die vielen Werkzeuge an seinem Gürtel an dem Seil verhakt haben.«
»Klingt weit hergeholt«, brummte Erik.
»Wenn wir nichts Besseres finden, wird die Staatsanwältin den Todesfall als Unfall erklären«, sagte Schnur genervt. »Also erzählt mir nichts, was ich schon weiß.«
»Was sagt sie denn dazu?«, fragte Andrea, um Schnur zu bremsen.
»Sie will die Ergebnisse sämtlicher Befragungen abwarten, bevor sie sich entscheidet.«
»Das kann ja lustig werden. Die Jungs sagen nicht die Wahrheit«, sagte Erik.
Schnur seufzte und meinte: »Genau da liegt der Hund begraben. Es wird so oder so nicht lustig.«
»Was meinst du damit?«
»Stellt euch mal vor, dieser Fall wird von der Staatsanwaltschaft als Mord eingestuft. Wie sollen wir dort unten ermitteln? Zum einen haben wir dann das Bergamt im Nacken. Und zum anderen machen die Bergleute sofort dicht, wenn wir mit unseren Fragen kommen.«