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Kapitel 4
ОглавлениеNahe an der Grenze zu Frankreich im Waldgebiet des Warndt liegt der Ort Dorf im Warndt. Kurz vor dem ersten Weltkrieg als Kleinsiedlung gegründet war der Ort durch neue Bauabschnitte immer weiter vergrößert worden. Erst in den sechziger Jahren war die Werkssiedlung der Saarbergwerke entstanden. Ein Wohngebiet, das sich durch seine praktische Bauweise hervortat, weil auf engem Raum sehr viele Wohnungen untergebracht waren. Einige Bäume zierten die Siedlung, deren Laub die Rasenflächen zwischen den einzelnen Häuserblocks bedeckten. An der ersten Kreuzung, die Jürgen Schnur und Andrea Westrich passierten, prangten eine weiß getünchte Walze einer Schrämmaschine und ein Kohlewagen. Diese beiden Exponate ließen keinen Zweifel daran, dass sie richtig waren.
Schnur bog in die Barbara-Straße ein und ließ den Wagen langsam rollen, damit er die Hausnummern ablesen konnte. Am Haus mit der Nummer 12 bremste er ab.
»Hier ist es!«
Sie stiegen aus und steuerten die Tür an, an deren Seite eine ganze Reihe von Klingeln mit Namen angebracht war. Peter Demplers Wohnung lag im Erdgeschoss.
Andrea drückte auf den Klingelknopf. Schon nach wenigen Sekunden ertönte der Summer.
Sie traten ein.
In der Wohnungstür direkt neben dem Hauseingang stand eine Frau, deren Gesicht eingefallen wirkte. Auch ihre Augen waren geschwollen, als habe sie geweint.
»Wer sind Sie?«
Schnur stellte sich und seine Kollegin vor, woraufhin die Augen der Frau sofort aufblitzten, als sie fragte: »Sie wollen mir doch nicht sagen, dass mein Peter ermordet wurde?«
»Wir wollen nur sichergehen«, meinte Schnur und überreichte der Witwe den Inhalt aus den Kleiderkörben ihres Mannes.
»Niemals!«, schrie die Frau fassungslos. »Wer sollte so etwas tun?« Sie beachtete den Karton nicht, sondern ließ ihn einfach auf den Boden fallen. Andrea hob ihn schnell wieder auf.
Aus der Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite trat eine ältere Frau mit einem neugierigen Gesicht heraus.
»Wollen wir uns nicht lieber in Ihrer Wohnung unterhalten?«, fragte Schnur.
Frau Dempler nickte und ließ die beiden Polizeibeamten eintreten. Was sie nun zu sehen bekamen, erstaunte sie. Alles war in der Farbe Orange gehalten. Die Tapeten schimmerten in dieser aufdringlichen Farbe, die Gardinen ließen das Tageslicht in orangenen Tönen herein. Tischdecken, Geschirr, Blumenvasen, Kerzen und Wandschmuck – einfach alles.
Schnur verkniff sich eine Bemerkung, doch die Frau erkannte, was in ihm vorging.
»Mein Mann und ich lieben diese Farbe«, sagte sie. »Das Schwarz durch seine Arbeit bringt er sogar mit nach Hause. Das ist so trostlos, deshalb wollten wir uns etwas gönnen, was genau das Gegenteil davon ist.«
Ein überdimensional vergrößertes Foto, das die halbe Wand der Essecke einnahm, zeigte die Tagesanlage der Grube Warndt. Lange verweilte Schnurs Blick darauf. Frau Dempler machte keinerlei Anstalten, den beiden Besuchern einen Platz anzubieten. Also ließen sie sich nach einer Weile unaufgefordert am großen Tisch nieder, der in der Mitte des Raums stand. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. Dort sahen sie eine Küchenzeile, die aus einzelnen alten Geräten bestand. Die Hängeschränke darüber waren weiß und wirkten ebenfalls altmodisch.
»Das Bergamt hat uns im Fall Ihres Mannes um Amtshilfe gebeten. Deshalb wollen wir uns absichern, dass wirklich nichts übersehen worden ist«, erklärte Andrea.
Die Witwe ließ sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches sinken und begann zu weinen. Schnur und Andrea warteten geduldig, bis sie endlich den Kopf hob, die Nase geräuschvoll hochzog und bestimmte: »Ich will ihn sehen!«
»Schon bald«, versprach Schnur, »denn Sie müssen ihn identifizieren. Aber den Termin vereinbaren Sie am besten mit dem Gerichtsmediziner.«
»Warum das denn?«, fragte die Frau pikiert.
»Sie dürfen nur in die Gerichtsmedizin, wenn der Chefpathologe selbst anwesend ist.«, erklärte Schnur, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen.
Frau Dempler schaute auf die Beamten. Nach einer Weile nickte sie. Tränen liefen über ihre Wangen.
Die Küchenuhr im Nebenzimmer tickte so laut, dass jeder die Sekunden mitzählen konnte. Genau eine halbe Minute dauerte es, bis Frau Dempler sagte: »Verunglückt ist er auf keinen Fall.« Dabei schob sie ihr Kinn vor, als wollte sie damit ihre Aussage unterstreichen. »Wie ich gehört habe, wurde er bis zur Seilscheibe hochgezogen. Wie soll er denn an dieses Stahlseil gekommen sein?«
»Er könnte im Schacht gewesen sein, um die Leiter hochzuklettern, als der Korb hochgezogen wurde.«
»Niemals! Er wusste, dass man nicht einfach so in den Schacht geht, um die Leiter hochzusteigen. Peter arbeitet schon jahrelang unter Tage. Da weiß man, worauf man achten muss.«
»Wir haben gehört, er sei krank gewesen und trotzdem nach unten gefahren. Kann es nicht sein, dass er in einem Zustand von Unkonzentriertheit diesen Fehler gemacht hat?«
»Peter war kerngesund.«
Das deckte sich auch mit der Überprüfung des Kleiderkorbs. Nirgends hatten sie einen Hinweis darauf finden könnten, dass Dempler Medikamente einnahm oder sonst etwas für seine Gesundheit tun musste. Die beiden schauten sich fragend an, worauf Frau Dempler sofort reagierte und schrie: »Was geht hier vor? Warum sollte Schorsch so etwas behaupten?«
»Wie kommen Sie darauf, dass diese Behauptung von Herrn Remmark stammt?«
»Er ist der Steiger«, entgegnete Frau Dempler. »Nur er weiß, wer krank ist, wer Urlaub macht oder wer stubbt.«
»Stubbt?«
»Blau macht oder krankfeiert.«
»Stimmt. Von Remmark kommt die Behauptung, dass Ihr Mann krank gewesen sei. Und deshalb sind wir hier. Wir wollen uns von Ihnen bestätigen lassen, ob Ihr Mann wirklich krank war, als er gestern zur Arbeit ging, und was ihm genau fehlte.«
»Ihm fehlte nichts. Er war so gesund wie immer.«
Eine Weile sagte keiner der drei etwas.
Kindergeschrei drang durch das Fenster. Die Bäume rauschten und bogen sich im Wind. Ein Automotor wurde lauter und lauter, bis er ausgeschaltet wurde. Das Schlagen von Autotüren und laute Stimmen ertönten.
»Ich kann Ihnen sagen, wer sein Hausarzt ist«, kam es leise von Frau Dempler, während sie stoisch auf die Bodenvase blickte, in der eine orangefarbene künstliche Blume stand. »Der bestätigt Ihnen, dass Peter kerngesund war.«
Andrea notierte sich die Angaben.
»Also glauben Sie nicht an einen Unfall?«, hakte Schnur nach.
»Niemals.« Sie schaute dem Kommissar direkt in die Augen, doch dann wich sie seinem Blick hastig aus und starrte wieder auf die Bodenvase.
Schnur spürte Misstrauen in sich aufsteigen. Die Entschlossenheit dieser Frau, den Tod ihres Mannes lieber als Mord denn als Unfall zu akzeptieren, war merkwürdig. Auch ihr Verhalten machte ihn stutzig. Sie benahm sich wie eine Schuldige, dabei wirkte ihre Trauer echt. Sie verheimlichte ihm etwas. Etwas, das mit dem Tod ihres Mannes im Zusammenhang stehen könnte. Aber er übte sich in Geduld und sprach seine Zweifel nicht laut aus. Er ließ etwas Zeit verstreichen, bis er sagte: »Kann es sein, dass Sie uns noch etwas sagen wollen, bevor wir gehen?«
Frau Dempler atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
Schnur resignierte und erhob sich von seinem Platz. Mit Erstaunen sah er, dass Andrea noch sitzen blieb. Er beobachtete die Kollegin, deren Blick fest auf der Witwe haftete, als sie mit ihrer sanften Stimme sagte: »Sie wissen, dass jedes noch so kleine Detail für uns wichtig sein kann.«
Frau Demplers Gesichtsausdruck veränderte sich. Schnur sah plötzlich darin eine Bereitschaft zu reden.
»Das aber nicht«, wehrte sie leise ab.
»Sie können es uns ruhig anvertrauen und wir sagen Ihnen, ob es hilfreich ist oder nicht.«
Schnur staunte, wie gefühlvoll Andrea mit dieser Frau umging.
Frau Dempler schnaubte und murmelte dann: »Bei uns ist eingebrochen worden.«
»Oh!« Andrea staunte und warf einen Blick auf Schnur.
Der fragte: »Wann?«
»Vorgestern Abend.«
»Wo waren Sie, als es passierte?«
»Wir waren bei Nachbarn, einige Häuser weiter, zum Abendessen eingeladen.«
»Haben Sie den Einbruch angezeigt?«
»Noch nicht«
»Warum nicht?«
»Es ist nichts gestohlen worden.«
»Das ist aber kein Grund, einen Einbruch nicht anzuzeigen«, sagte Schnur und fügte an: »Wir müssen die Kollegen der Spurensicherung herbestellen. Vielleicht können sie etwas Verwertbares finden.«
»Von mir aus«, stimmte die Witwe zu.
*
Anton Grewe fühlte sich so schlecht wie lange nicht mehr. Wut und Angst stauten sich gleichzeitig in ihm an. Seit er in der Abteilung für Tötungsdelikte arbeitete, hatte er dieses miese Gefühl nicht mehr erlebt. Zuerst war Norbert Kullmann sein Dienststellenleiter gewesen – ein Vorgesetzter, wie man ihn sich nicht besser wünschen könnte. Dann kam dessen Nachfolger, Dieter Forseti – ein herber Rückschlag. Aber nichtsdestotrotz hatten alle Kollegen das Beste daraus gemacht. Sie hatten zusammengehalten, bis sich Forseti allein in seiner neuen Position wiederfand. Bis er auf der Karriereleiter weiter nach oben gefallen war und Jürgen Schnur seinen Posten übernahm. Schnur war einfach nur klasse. Viel zu menschlich, um wirklich ein Chef sein zu können. Und viel zu korrekt. Und doch eine Führungspersönlichkeit.
Grewe liebte seinen Job, seit er in dieser Abteilung arbeitete, mit jedem Tag mehr. Er liebte die Kollegen, die für ihn wie eine Familie geworden waren.
Und nun fühlte er sich wie am Pranger.
Ausgerechnet Bonhoff war hierhergekommen, um seine Bedenken loszuwerden. Und Grewe sollte nicht an Zufälle glauben. Bonhoff war der Kamerad, mit dem Grewe die meiste Zeit unter Tage verbracht hatte.
Bonhoff, der der Auslöser dafür war, dass Grewe letztendlich den Beruf als Bergmann aufgegeben hatte.
Nie hatte er sicher wissen können, ob Bonhoff es ehrlich mit ihm meinte oder ob er ein Spiel mit ihm trieb. Bonhoff hatte mit seiner androgynen Art kokettiert, sodass Grewe fast explodiert wäre. Und diese Unsicherheit wurde begleitet von der Angst, von den Kameraden durchschaut zu werden. Dabei war es sein größter Wunsch gewesen, so akzeptiert zu werden, wie er war.
Sein Rufname unter den Kameraden, Tony, sprach dafür, dass sie einen anderen in ihm sahen, als er war. Es war ihm damals nicht gelungen, offen zu seinen Neigungen zu stehen. Am Ende hatte er sich für Flucht entschieden.
Und nun stand ausgerechnet Bonhoff vor ihm und seiner gesamten Abteilung und offenbarte eine Wahrheit, die Grewe bisher vor Schnur verschwiegen hatte.
Einerseits hätte Schnur seinen Lebenslauf in seiner Personalakte nachlesen können, meinte Grewe, als suche er nach einer Entschuldigung für sein Fehlverhalten. Aber andererseits war ihm klar, dass er einen Vertrauensbruch begangen hatte. Schnurs Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Grewe noch nie an ihm gesehen hatte.
Er schalt sich selbst einen Vollidioten. Die Wut richtete er gegen sich selbst. Doch im gleichen Atemzug spürte er Angst. Angst vor dem, was nun auf ihn zukäme. Wenn Schnur ihn aus den Ermittlungen ausschloss, würde Grewe zugrunde gehen. Wenn Schnur von ihm verlangte, mit ihm in den Stollen zu fahren, wäre das für Grewe eine zweite Chance. Auch wenn es eine schwere Aufgabe für ihn wäre. Denn der Gedanke, wieder in diese raue Welt unter Tage zu fahren und sich den ehemaligen Kameraden zu stellen, ließ ihn frustriert in seinem Bürostuhl zusammensinken.
Doch am meisten fürchtete sich Grewe davor, wieder mit Michael Bonhoff in Kontakt zu treten. Er ahnte, dass damit alte Wunden aufgerissen wurden. Schließlich hatte sich Grewe nicht gerade mit Ruhm bekleckert, als er hatte einsehen müssen, dass Bonhoff für ihn unerreicht bleiben würde.
Er fuhr sich mit seinen Fingern durch seine dichten schwarzen Haare, als könnte er damit ungeschehen machen, was damals passiert war. Dabei fiel sein Blick auf die Akte.
Rasch besann er sich. Er musste sich detailliert über den Fall informieren, damit er seinem Vorgesetzten bei den Ermittlungen nützlich sein konnte. Das war die Chance, seinen Fehler wiedergutzumachen. Und gleich stieß er auf eine Frage, die für die Entscheidung, ob Unfall oder Mord vorlag, von großer Bedeutung sein könnte. Er konnte sie beantworten – er musste sie beantworten, damit Schnur nicht von falschen Voraussetzungen ausging. Und vielleicht konnte er sich damit als als guter Ermittler beweisen. Hoffnung keimte in ihm auf.
*
Während Andrea Westrich das Steuer des Wagens übernahm, bediente Schnur sein Handy, um mit der Dienststelle Kontakt aufzunehmen.
»Wen rufst du an?«, fragte Andrea.
»Ich will, dass Erik nach weiteren Einbrüchen in der Gegend im Warndt sucht.«
»Warum? Ist das für uns wichtig?«
»Ja«, meinte Schnur. »Sollte das der einzige Einbruch gewesen sein, könnte ein Zusammenhang mit Demplers Tod bestehen.«
Andrea reichte ihm ihren Notizzettel und meinte: »Das ist der Hausarzt von Peter Dempler. Die Kollegen können ihn fragen, ob er wirklich krank war oder nicht.«
»Danke! Was wäre ich nur ohne dich?«, fragte Schnur und gab die Anweisungen an seine Mitarbeiter im Büro weiter.
Kurze Zeit später steuerte die Polizeibeamtin das Grubengelände Warndt an. Sie parkten den Wagen auf dem großen Platz vor der Kantine, stiegen aus und schauten sich um. Das Foto aus Demplers Wohnung kam ihnen wieder in den Sinn. Die detailgetreue Abbildung sahen sie nun in echt vor ihren Augen. Das große Gelände wurde durch den weithin sichtbaren und markanten Förderturm dominiert, der mit Glas, Stahl und Beton eingefußt war. Ebenso die ihn umgebenden Gebäude, in denen sich Waschkaue, Lampenkaue, Zechensaal und Versammlungsraum befanden. Direkt am Eingang lag das Pförtnerhaus.
Es dauerte nicht lange, schon sahen sie aus einer der vielen Hallen, die sich unter dem hohen Förderturm duckten, einige Männer auf den Platz treten. Sie erkannten Georg Remmark, der allen voran auf sie zukam.
»Was wollen Sie schon wieder hier?«, fragte er unfreundlich. »Ich dachte, wir wären uns einig, dass unser Kamerad verunglückt ist.«
»Sie sind sich vielleicht einig. Wir nicht!«, gab Schnur zurück. »Und da wir dafür bezahlt werden, Klarheit zu schaffen, werden wir wohl noch öfter hier aufkreuzen.«
»Das wird Ihnen nicht viel nützen.«
»Heißt das, dass Sie vorhaben unsere Arbeit zu behindern?«
Remmarks Gesicht wurde schlagartig blass. Etwas leiser und unsicherer als zuvor stammelte er: »So war das nicht gemeint.«
»Wie denn?«
»Ich meinte, dass Sie nichts finden werden, was auf einen Mord schließen lässt. Den müsste einer von uns begangen haben. Aber wir tun so etwas nicht.«
»Das Hohelied der Kameradschaft unter den Bergleuten«, mischte sich Andrea in das Gespräch ein. »Euer Berufsethos, nicht wahr?«
»Genauso ist es«, bestätigte Remmark mit einem Blitzen in den Augen. »Wir helfen uns gegenseitig und bringen uns nicht um. Sowas ist Ihnen wohl fremd, was?
»Nein, ich frage mich nur, welchen Grund Sie hatten, uns anzulügen, als Sie behauptet haben, Peter Dempler sei krank gewesen und trotzdem mit Ihnen unter Tage gefahren.«
»Wer sagt, ich hätte gelogen?«, fragte Remmark fassungslos.
»Das sagt niemand«, bekannte Schnur. »Nur hat Demplers Frau Ihre Behauptung nicht bestätigt. Laut ihrer Aussage war ihr Mann kerngesund.«
Gemurmel entstand unter den Bergleuten.
»Wissen Sie«, begann Remmark, »die Frauen sind nicht immer so genau über ihre Männer informiert. Pitt wollte nicht, dass jeder mitbekommt, was mit ihm los war.«
»Vor den Kameraden könnte ich so ein Verhalten verstehen. Aber nicht vor der eigenen Frau«, widersprach Schnur.
»So sind wir Bergleute halt.«
Die anderen Männer brummten zustimmend.
»Hat er Ihnen gegenüber den Einbruch in sein Haus erwähnt?«, fragte Schnur weiter.
Remmark rang mit sich, bis er zugab: »Ja. Weil nichts gestohlen wurde, wollte er den Einbruch nicht melden.«
Plötzlich kam Schnur ein Gedanke. Er erinnerte sich an einen alten Fall. Dort war ebenfalls ein Einbruch nicht gemeldet worden. Sofort sprudelte es aus ihm heraus: »Oder der Einbrecher hat Diebesgut gefunden, das eigentlich nicht in Peter Demplers Haus gehört.«
Remmark kratzte sich an seinem Haarkranz und murrte: »Ich habe ihm gesagt, er soll den Einbruch melden. Aber dazu kam es nicht mehr, da war er schon tot. Mehr kann ich Ihnen nicht dazu sagen.« Er drehte sich um und fragte die Kameraden: »Weiß jemand von euch, was in Pitts Haus gestohlen wurde?«
Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. Das gab Schnur zumindest die Gewissheit, dass alle von dem Einbruch wussten. Aber genauso erkannte er, dass er hier nicht weiterkam. Er ahnte, dass diese Männer sich bereits abgesprochen hatten, was sie der Polizei sagen wollten und was nicht.
*
Kaum waren sie im dritten Stock der Kriminalpolizeiinspektion angekommen, eilte ihnen Erik entgegen und berichtete: »Ich habe mit dem Hausarzt gesprochen. Peter Dempler war nach seinen Angaben wirklich kerngesund. Er kam regelmäßig zur Nachuntersuchung und es hat nie Befunde gegeben.«
Schnur nickte.
»Und was habt ihr über die Einbrüche herausgefunden?«
»Einbrüche ist ein bisschen viel gesagt«, meinte Erik. »Wir haben alles durchgecheckt und nur von einem einzigen Einbruch im Dorf im Warndt erfahren.«
»Wann war das und bei wem?«
Erik las von seinem Notizblock ab: »Uwe Bendrup! Im Jahr 2006. Uwe Bendrup war Bergmann.«
»War?«
»Er ist im gleichen Jahr tödlich verunglückt.«
Schnur rieb sich über das Kinn, während er mit großen Schritten durch den Flur hastete und sein Büro ansteuerte. Dabei rief er: »Das ist nicht das, was ich erwartet habe.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Irgendetwas, das uns einen Hinweis darauf gibt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Einbruch bei Peter Dempler und seinem gewaltsamen Tod gibt. Etwas, das uns die Gewissheit gibt, dass hier kein Unfall vorliegt.«
»Ich glaube, da kann ich weiterhelfen«, ertönte es plötzlich hinter ihnen.
Schnur drehte sich um. Im Türrahmen seines Büros sah er Anton Grewe. Seine Haare waren zerzaust, als wäre er in einem heftigen Sturm geraten. Sein Gesicht so blass, dass Schnur schon einen Kreislaufkollaps befürchten musste.
»Und wie?«
»Ich habe gerade die Akte gelesen«, begann Grewe zögerlich. »Dort steht, dass die Frage geklärt werden muss, ob es noch andere Zugänge zum Schacht gibt außer den Schachttüren.«
»Und?«
»Der Schacht ist durchgehend gemauert. Außerdem ist er gut gesichert, weil die Körbe dort mit großer Geschwindigkeit bewegt werden. Deshalb gibt es keinen Schlupfwinkel, durch den man unbemerkt in den Schacht klettern kann. Jedes Mal, wenn die Schachttür geöffnet wird, bekommt der Maschinist ein Signal. Das dient der Sicherheit, dass er den Korb nicht fährt, während sich möglicherweise jemand im Schacht aufhält.«
»Von dem Signal haben wir bereits gehört«, sagte Schnur.
Grewe nickte und meinte dazu: »Es steht in der Akte, dass kein Signal gegeben wurde. Also ist der Mann nicht auf gewöhnlichem Weg dorthin gelangt.«
»Aber, wie ist er dorthin gelangt?« Schnur wurde ungeduldig.
»Es gibt nur die Möglichkeit, die Sicherung an der Schachttür zu überlisten.«
»Du kennst diese Möglichkeit?«
Alle starrten gespannt auf Grewe. Die Erkenntnis, dass dieser elegante und feingliedrige Mann mal als Bergmann unter Tage gearbeitet hatte, war schon auf großes Staunen gestoßen. Welche Überraschung würde er ihnen jetzt enthüllen?
»Ja.« Jetzt leuchtete sein Gesicht puterrot. »Ich weiß, wie man diese Türen öffnen kann, ohne den Alarm auszulösen.«
»Und wie?«
»Am oberen Ende befindet sich ein Kontaktschalter. Sobald die Tür aufgeht, wird der Kontakt unterbrochen und der Alarm ausgelöst. Man muss einfach nur die Sicherung für kurze Zeit abschalten, die Tür öffnen, wieder schließen und hinterher schaltet man die Sicherung wieder ein.«
Schnur stieß einen Pfiff aus. »Das spricht für eine akribische Planung dieser Tat. Ich muss die Spusis nochmal runter schicken, damit sie diese Sicherung nach Fingerabdrücken untersuchen.«
»Das wäre endlich ein konkreter Hinweis«, stellte Erik euphorisch fest.
»Wirklich konkret wird es erst, wenn wir das Ergebnis unseres Gerichtsmediziners haben«, widersprach Schnur.
*
Die Fahrt über die stark befahrene Autobahn Richtung Homburg zog sich endlos in die Länge. Nieselregen benetzte die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer quietschten leise. Das Radio plärrte Werbung für alle möglichen Artikel von Babynahrung bis zum Stromanbieter, während Ann-Kathrin bei geöffnetem Fenster rauchte und versuchte, die Luft im engen Innenraum dabei nicht zu verpesten.
»Kannst du mir mal erklären, warum ausgerechnet wir beide zu einer Autopsie fahren müssen, bei der uns das Schlimmste erwartet?«, fragte die Staatsanwältin nach einer Weile. »Als Dienststellenleiter musst du doch in der Lage sein, solche Aufgaben an andere weiterzugeben. Das weißt du doch? Oder hat dir das noch keiner gesagt?«
Schnur überholte einen LKW, bevor er antwortete: »Ich will mit dir reden.«
»Hätten wir das nicht auch in einem gemütlichen Café nach Dienstschluss machen können?«
»Nein.«
Ann-Kathrin ließ den Zigarettenstummel fallen und schloss die Fensterscheibe. Fragend schaute sie Schnur an, der anfügte: »Ich werde heute Abend nach Dienstschluss nach Hause fahren. Zu meiner Frau.«
»Ach! Willst du mir erzählen, dass du deine Ehe retten willst?«
»Genau das.« Schnur spürte, wie er ins Schwitzen kam. Er hatte sich dieses Gespräch leichter vorgestellt. »Wir sind fast dreißig Jahre verheiratet. Das wirft man nicht einfach so weg.«
»Das wusstest du aber schon, als wir uns kennengelernt haben.«
Schnur sagte nichts dazu.
»Erklär mir doch bitte deinen Sinneswandel«, forderte die Staatsanwältin auf. »Ich habe nämlich das Gefühl, dass mir etwas entgangen ist.«
»Dir ist nichts entgangen.« Schnur wand sich, musste sich weiter auf das Autofahren konzentrieren. »Meine Frau hat herausbekommen, was ich treibe.«
»Was ist daran falsch? Sie kann es doch ruhig wissen.«
»Eben nicht!«
»Wenn du meinst, dass ich deine Launen einfach so hinnehme, hast du dich getäuscht. Ich bin kein Spielball, den man wegwirft, wenn man genug davon hat.«
Schnur spürte, wie seine Hände am Lenkrad feucht wurden.
»Das hat doch mit Wegwerfen nichts zu tun.«
»Was ist passiert, dass du plötzlich auf Ehemann machen willst?«
»Nicht plötzlich«, wehrte sich Schnur. »Es ist nur so, dass meine Frau mich vor ein Ultimatum stellt.«
»Besser geht es doch nicht.«
Schnur schaute zerknirscht auf die Autobahn, während er versuchte, die richtigen Worte zu finden: »Ich kenne meine Frau schon seit der Schulzeit. Ich will sie nicht verlieren.«
»Und was ist mit mir? Was hast du für mich vorgesehen?«
Nervös rieb sich Schnur über sein Kinn. Erst jetzt erkannte er, dass er wirklich nicht wusste, was er wollte.
»Überleg dir gut, was du tust«, kam es drohend von Ann-Kathrin. »Ich werde mich nicht einfach so abservieren lassen. Für solche Spielchen hast du dir mit mir die falsche Frau ausgesucht.«
*
Das Gebäude der Rechtsmedizin war ein alter, zweigeschossiger Bau mitten auf dem Universitätsgelände in Homburg. Schnur parkte den Wagen direkt davor. Sie stiegen aus und eilten durch den stärker werdenden Regen hinein. Nach wenigen Stufen steuerten sie durch einen kleinen Flur auf ein Büro zu, in dem sie sich anmeldeten. Dort wurden ihnen blaue Plastikschürzen, Kappen und Mundschutz gereicht, die sie sich schweigend überzogen. Erst dann durften sie den Sezierraum betreten.
Dr. Thomas Wolbert stand an einem hohen stählernen Tisch, der übersät war mit Stücken in unterschiedlichen Größen, deren Anblick an ein Schlachthaus erinnerte. In der Mitte des Tisches verlief eine Mulde, durch die das Wasser ablief, mit dem die Körperteile gereinigt wurden. Die Flüssigkeit war rot und dominierte den stählernen Tisch. Erst bei genauem Hinsehen konnte Schnur einen Arm mit einer unversehrten Hand erkennen. Auch einen Kopf, der jedoch nur zur oberen Hälfte unbeschadet war. Dort, wo dunkle Haare ein wachsweißes Gesicht einrahmten.
Wolbert hielt in seiner behandschuhten Hand ein Skalpell, das er anhob, um den beiden Besuchern damit zuzuwinken, die gerade eintraten.
»Ihr wollt euch das wirklich zumuten?«, fragte er durch den Mundschutz.
Schnur beschloss, lieber nichts zu sagen. Er ahnte, dass es nicht leicht werden würde. Die Staatsanwältin meinte nur: »Wir lieben die Herausforderung.« Dabei warf sie einen vielsagenden Seitenblick auf den Kriminalkommissar.
Der Pathologe widmete sich wieder den menschlichen Überresten, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Erst beim zweiten Hinsehen konnte Schnur erkennen, dass die Teile so angeordnet waren, dass sie den Mann an einem Stück darstellten.
»Was kannst du uns schon sagen?«, fragte er hastig, um sich von dem Anblick abzulenken. »Ist der Mann durch die Quetschung gestorben oder war er schon tot, als er hochgezogen wurde?«
»Nur langsam«, bremste Wolbert den Eifer des Polizeibeamten.
»Wir haben nicht ewig Zeit«, drängte Schnur. »Von dieser kleinen Kleinigkeit hängt es nämlich ab, ob wir den Fall überhaupt bearbeiten müssen oder nicht.«
»Trotzdem muss ich mich zuerst absichern! Erst dann werde ich dir das Ergebnis sagen. Keine Sorge. Es dauert nicht mehr lange.«
»Was kannst du uns sagen?«
»Organisch kann ich nicht mehr viel feststellen, weil die Organe alle zerquetscht worden sind – außer einer Niere und die war gesund. Sein Kopf ist am Unterkiefer zertrümmert.«
»Wie das?«
»Vielleicht durch ein seitliches Herabhängen«, überlegte Wolbert laut. »Dadurch ist leider auch die Halswirbelsäule zerstört – ebenso die Haut, das Gewebe und die Kapillaren an dieser Stelle.«
»Wäre das von Bedeutung gewesen?«
»Durch Würgen kann ein Mensch ohnmächtig werden, das ist aber nicht mehr festzustellen«, antwortete Wolbert. »Und so, wie er an dem Seil hing, als er hochgezogen wurde, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder er war bewusstlos oder tot.«
»Und das würde ich gerne wissen.«
»Seine beiden Arme sind unversehrt«, sprach der Mediziner ohne Pause weiter. »An der linken Hand hing noch der Handschuh. Dort war nichts zu finden. Rechts fanden wir einiges unter den Fingernägeln. Das ist bereits nebenan im Labor zur Untersuchung.«
Schnur nickte.
»Ich werde jetzt die Wundränder der einzelnen Teile untersuchen«, sprach Dr. Wolbert weiter. »Nur dort kann ich sehen, ob der Mann noch gelebt hat, als er eingequetscht wurde.«
»Warum hast du das noch nicht gemacht?«, murrte Schnur.
»Weil ich zuerst einmal Gewebeproben und Blutproben für die toxikologische Untersuchung entnommen habe. Außerdem mussten wir zuerst einmal untersuchen, welche Teile von unserem Opfer fehlen. Er ist – soweit das möglich war – komplett. Bis auf das, was direkt unter das Seil gekommen ist.«
»Also kannst du auch an den Körperteilen feststellen, ob er mit Gewalt an das Seil gefesselt wurde?«
»Kann ich … vielleicht … Ich fange jetzt sofort an und zähle jedes Ergebnis auf. Wenn du mir keine weitere Fragen mehr stellst, sind wir umso schneller fertig.«
Schnur lehne sich an die gekachelte Wand und schloss die Augen. Die Kühle an seinem Rücken tat ihm gut, denn die Bilder, die sich in seine Gedanken gefressen hatten, waren grausig.
»Also«, sagte Dr. Wolbert so laut, dass Schnur erschrocken zusammenzuckte. »Ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass der Mann noch gelebt hat, als er zwischen Stahlseil und Seilscheibe geriet.«
»Woran erkennst du das?«
»Es gibt prämortale Schürfwunden an beiden Unterarmen.« Der Gerichtsmediziner zeigte auf die Kratzer, die dunkelrot schimmerten. »Weiterhin kann ich Gewebseinblutungen an den Wundrändern feststellen, was eine Vitalfunktion voraussetzt. Also hat der Mann noch gelebt. Weiterhin habe ich Stahlstifte aus dem Unterleib gezogen. Ob die nun postmortal oder prämortal dorthin gelangt sind, ist schwer feststellbar. Es könnte sein, dass diese Verletzungen zum Todeszeitpunkt entstanden sind.«
»Also doch ein Unfall.«, Ann-Kathrin staunte.
»Wir müssen noch die toxikologischen Befunde abwarten«, bremste Dr. Wolbert sie. »Es könnte sein, dass er durch ein Beruhigungsmittel sediert wurde.«
»Wann wissen wir das genau?«, fragte Schnur ungeduldig.
»Wenn ich meinen endgültigen Bericht fertigstelle«, antwortete Wolbert genauso ungehalten.
»Und wann bekomme ich den?«
»Mit den Ergebnissen der Toxikologie und weiteren mikroskopischen Untersuchungen, die ich jetzt gleich an den Proben vornehmen werde, kann ich dir morgen früh den Bericht zuschicken.«
*
Die Tür ging auf und ein Mann mit Cowboy-Stiefeln, Lederjacke, langen grauen Haaren und einem Schnauzer, der zu beiden Seiten den Mund einrahmte, betrat Schnurs Büro am frühen Morgen.
Verwundert schaute der Kriminalbeamte auf den Kalender, um sich zu vergewissern, dass heute nicht der 11.11. war – der Beginn der närrischen Zeit. Aber nein. Es war Donnerstag, der 7. Oktober. Was hatte diese Maskerade also zu bedeuten?
»Hello«, begrüßte ihn der Mann auch noch in einem grässlichen Akzent, der amerikanisch klingen sollte. »How are you?«
»Wer sind Sie?«, fragte Schnur unhöflich.
»My name ist Robert Ollig«, stellte sich der Mann vor.
»Ich habe viele Jahre bei der Crime Scene Investigation in Greenville gearbeitet. Und jetzt bin ich der neue Leiter der Spurensicherung der Kriminalpolizei in Saarbrücken.«
Schnur stieß die angehaltene Luft aus und reichte dem Mann die Hand.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg geht, kommt eben der Berg zum Prophet«, sprach der Mann weiter und lachte.
»Sie haben die deutsche Sprache also nicht verlernt«, meinte Schnur dazu nur, ohne in das Lachen seines Gegenübers einzustimmen.
»So what! My German is perfect.«
»Gut zu wissen. Also, was führt den Berg zum Propheten?«
»My analysis.«
»Auf Deutsch bitte!«
Schnur gab sich Mühe, nicht die Nerven zu verlieren. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass dieser Cowboy ab sofort die Arbeit übernehmen sollte, die dreißig Jahre lang Theo Barthels gemacht hatte. Diese Vorstellung kam ihm fast unwirklich vor.
»All right!« Der Mann fuhr sich über seinen viel zu langen Schnauzer und sprach weiter: »Hier habe ich den Bericht über die Einbruchsspuren im Haus der Eheleute Dempler. Der Einbrecher hatte Handschuhe getragen. Jedoch konnte ich das Werkzeug anhand der Spuren an der Tür identifizieren. Es gehört zum sogenannten Gezähe, das ist eine Rohrpumpenzange, wie ein Bergmann sie benutzt.«
Schnur spürte, wie sein Adrenalinpegel anstieg. Das klang tatsächlich nach einem Zusammenhang. Nun blieb zu hoffen, dass sie auch unter Tage einen entscheidenden Hinweis gefunden hatten. Doch was er in dieser Sache zu hören bekam, gefiel ihm gar nicht.
»Wir durften nicht mehr hinunterfahren. Das Bergamt will sich selbst um die Spuren an der Schachttür kümmern.«
Schnur stöhnte. Fast achtundvierzig Stunden waren seit Peter Demplers Tod vergangen und sie wussten immer noch nicht, ob ein Unfall oder ein Verbrechen vorlag.
»Good bye!«, rief der große, dürre Mann noch beim Hinausgehen und warf die Tür schwungvoll hinter sich zu.
Schnur wollte gerade die Kollegen in sein Büro rufen, als das Telefon auf seinem Tisch klingelte. Es war der Gerichtsmediziner. Ihn hatte er vergessen, was er wohl dem sonderbaren Auftritt des Teamleiters der Spurensicherung zu verdanken hatte.
»Hast du noch etwas herausfinden können?«, fragte er ohne große Hoffnung.
»Allerdings. Das habe ich. Aber nicht bei der toxikologischen Untersuchung. Dort war alles normal. Peter Dempler wurde nicht durch ein Beruhigungsmittel außer Gefecht gesetzt.«
»Sondern?«
»Ich habe mir die Nackenpartie des Mannes noch mal unter dem Mikroskop genau angesehen und dort etwas festgestellt«, begann Dr. Wolbert. »Peter Dempler hat vor seinem Ableben einen heftigen Schlag ins Genick bekommen.«
»Was bewirkt so ein Schlag ins Genick genau?«
»Damit kann man einen Menschen bewusstlos schlagen, wenn nicht sogar tot. Aber in unserem Fall hat der Mann noch gelebt, also hatte ihn der Schlag nicht getötet, sondern nur betäubt.«
»Ganz sicher?«
»Ich konnte an noch übriggebliebenen Haut- und Knochenresten eindeutige Einblutungen erkennen, die auf den Beginn eines Hämatoms hindeuten. Und wie du selbst weißt, bilden sich Hämatome nur bei Lebenden, weil dabei Blut aus den verletzten Blutgefäßen austritt und sich im Körpergewebe unter der Haut ansammelt. Dafür sind Vitalfunktionen notwendig.«
»Könnte das Hämatom nicht auch schon viel früher bei einer Schlägerei entstanden sein?«
»Nein. Dafür war der Austritt des Blutes noch nicht weit genug vorangeschritten. Dieses Hämatom war gerade dabei, sich zu bilden – also noch ganz frisch.«
Schnur bedankte sich und beendete das Gespräch. Das war mehr als er sich erhofft hatte. Er wollte gerade die Kollegen zur Besprechung rufen, als die Tür aufging und Anton Grewe seine Nase hereinstreckte.
»Konnte Buffalo Bill uns weiterhelfen?«, fragte er.
Im Hintergrund hörte Schnur ein leises Kichern. Also rief er: »Kommt alle rein und lungert nicht vor meiner Bürotür herum. Ich nehme an, mit Buffalo Bill ist unser neuer Spusi-Chef gemeint.«
Lachend kamen Andrea und Erik hinter der Tür hervor und setzten sich dem Dienststellenleiter in dessen Büro gegenüber, damit die Besprechung beginnen konnte.
»Also«, begann Schnur. »Endlich wissen wir ganz sicher, dass wir es mit einem Mord zu tun haben.«
Er wiederholte, was ihm der Pathologe am Telefon gesagt hatte. Auch das Ergebnis der Spurensicherung über den Einbruch erwähnte er.
Anschließend stellte Erik die Frage, die alle beschäftigte: »Und wie gehen wir jetzt vor?«
»Wir greifen zu Plan B«, erklärte Schnur.
»Gab es überhaupt einen Plan A?«, fragte Erik.
»Plan A wäre die klassische Ermittlungsarbeit gewesen«, antwortete der Vorgesetzte. »Doch da wir wissen, dass wir nicht mehr unter Tage ermitteln dürfen, müssen wir sie austricksen.«
»Und wie willst du das machen?«
»Ich habe mich mit der Personalabteilung der Grube in Verbindung gesetzt und dort erfahren, dass sie in der Partie von Remmark einen Nachfolger für den verstorbenen Peter Dempler suchen. Also werden wir Anton Grewe als verdeckten Ermittler runter schicken.«