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Kapitel 2

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Was gab es Schlimmeres, als Montagmorgen und Regen? Ein Montagmorgen mit Regen und der Aussicht auf ein Gespräch unter vier Augen mit dem Chef.

Mit diesen Gedanken schleppte sich Britta Ballhaus ins Büro.

Den Sonntag hatte sie fast komplett verschlafen. Cindy, ihre Freundin ebenfalls. Da konnte Britta noch von Glück reden, dass der Dienststellenleiter Urban Wallbrod selbst nicht zu den Hyperaktiven gehörte, der sich für einen Toten den Sonntag vermiesen ließ. Für Wallbrod galt zuerst das eigene Wohl. Nur leider hatte er diese Priorität zu spät erkannt, nämlich erst, als seine Frau ihn verlassen hatte. Seitdem wurde seine Laune von Tag zu Tag schlechter.

Vom Workaholic zum Choleriker.

Für Britta war das eine so schlimm wie das andere. Urban Wallbrods Anfälle im Büro waren inzwischen legendär. Die älteren Kollegen machten sich schon lange nichts mehr daraus. Nur Britta konnte trotz ihrer drei Jahre in dieser Abteilung immer noch nicht zwischen einem harmlosen und einem gefährlichen Anfall unterscheiden.

Mit diesen entmutigenden Gedanken betrat sie das monströse Gebäude, das einmal eine Verheißung für sie gewesen war. Inzwischen empfand sie es nur noch als Vorsehung. Im Aufzug atmete sie noch einmal tief durch. Dann betrat sie das Büro.

Schlagartig setzten alle Geräusche aus. Kein Klappern der Tastatur, kein Gemurmel unter Kollegen, kein Klirren von Kaffeetassen – nur Stille. Alle Blicke hafteten auf Britta, wie sie ihren Schreibtisch inmitten der vielen Tische ansteuerte. Das hatte sie schon kommen sehen. Inzwischen wusste jeder, was ihr am Wochenende widerfahren war. Es hatte groß und breit in der Zeitung gestanden. Direkt auf der ersten Seite. Mit Bild. Pietro Pardi hatte kein Detail ausgelassen – ob es der Wahrheit entsprach oder nicht, war ihm egal. Hauptsache Schlagzeile.

Sie durchwühlte die Schublade, in der Hoffnung ihre Kaffeetasse zu finden, als sie Wallbrods Fistelstimme hörte: „Britta Ballhaus. Bitte in mein Büro.“

Erschrocken ließ sie alles aus ihren Händen fallen und folgte dem Ruf des Chefs. Kaum war die Tür hinter dem kleinen, übergewichtigen Mann geschlossen, vernahm Britta gedämpftes Gemurmel der Kollegen. Auch glaubte sie, wieder das vertraute Klappern von flinken Fingern auf Tastaturen zu hören.

„Zählen wir die Ereignisse des Wochenendes auf“, begann Wallbrod mit bedrohlich leiser Stimme zu sprechen, „Markus Gronski wird entlassen. Wir alle in der Abteilung wissen von dem Mord an Ernst Gerlach, den er begangen hat. Auch wenn wir damals noch nicht alle im Polizeidienst waren.“

Britta nickte.

„Einen Tag nach Gronskis Entlassung wird der Sohn des damals Ermordeten ebenfalls getötet. Und Sie stolpern zufällig über seine Leiche. Und das zufällig in der Wohnung Ihrer Freundin, die behauptet, zufällig bei diesem Mann zu arbeiten. Ein bisschen viel Zufall, finden Sie nicht auch?“

Britta fühlte sich wie versteinert. Jetzt nur nichts Falsches sagen, ermahnte sie sich. Also legte sie eine dümmliche Miene auf, was ihr glänzend gelang, wie sie der nächsten Bemerkung ihres Chefs entnahm. „Dumm gucken können Sie schon mal. Jetzt will ich endlich sehen, dass Sie als Frau tatsächlich für die Arbeit in einer Mordkommission taugen. Ich werde Sie nämlich diesen Fall bearbeiten lassen.“

Brittas Augen bekamen ein Strahlen. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit.

„Aber freuen Sie sich nicht zu früh.“ Der Dämpfer musste ja kommen. „Ich werde Sie keinen Schritt alleine machen lassen. Sollten Sie nämlich versuchen, Ihre Freundin zu schützen, werden wir das herausfinden. Norbert Böker wird Sie auf Schritt und Tritt begleiten.“

Britta spürte, wie ihre anfängliche Euphorie schrumpfte. Aber - wenn sie es sich richtig überlegte - hätte es schlimmer kommen können. Norbert Böker war ein Schwätzer und Schwerenöter. Aber harmlos. Den steckte sie zehnmal in die Tasche.

„Sie werden jetzt zusammen mit Böker zur Rechtsmedizin fahren. Soweit ich weiß, wartet der Arzt schon auf Sie, damit er endlich beginnen kann, den Toten aufzuschneiden.

Der Rechtsmediziner erwies sich als Frau. Den weiblichen Begriff für bestimmte Berufe oder Ämter wandte Wallbrod grundsätzlich nicht an, weil er diese Formulierungen strikt ablehnte. Hinzu kam, dass Britta diese Rechtsmedizinerin besonders gut gefiel. Sie war einen Meter achtzig groß, fast genauso breit und galt als Urgestein in der medizinischen Forensik. Außerdem hatte sie Gefallen an Britta gefunden.

Norbert Böker wirkte neben dieser dominanten Frau blass und eingeschüchtert. Kein ordinärer Witz kam über seine Lippen, keine anzüglichen Bemerkungen. Sogar Britta ließ er in Ruhe, wenn Dr. Hilde Gesser in der Nähe war. Allein diese Tatsache genügte ihr, eine Autopsie positiv zu betrachten. So musste sie sich zwar Innereien von Ermordeten anschauen, brauchte sich aber nicht ständig gegen Bökers Annäherungsversuche zu wehren. In diesem Räumen war Böker kaum wahrzunehmen.

„Erst der Vater – dann der Sohn“, lautete die Begrüßung.

„Kanntest du den Fall Ernst Gerlach?“, fragte Britta überrascht.

„Oh ja. Das war mein erster Fall in meiner Assistenzzeit. So etwas vergisst man nicht.“ Angenehm vibrierte die dunkle Stimme der Ärztin durch die gekachelten Räume. Ihr Körper war bereits in grüne Kittel gehüllt, die vermutlich Zeltgröße hatten, um auch die gesamte Fülle abdecken zu können.

Britta und Norbert bekamen ebenfalls ihre Schutzkleidung gereicht. Sie traten auf den Stahltisch zu, auf dem Thomas Gerlach lag.

Britta erschrak.

Nackt und tot wirkte Thomas Gerlach hilflos und unscheinbar. Nichts war mehr von seiner Schönheit, seiner Ausstrahlung und seinem Charisma zu sehen. Er war einfach nur noch eine Hülle, die jetzt aufgeschnitten werden musste.

Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, weil sie Thomas gekannt hatte. Aber nicht nur sie. Auch Norbert und die Rechtsmedizinerin hatten mit diesem Mann zu tun gehabt. Als Anwalt für Strafrecht war er ihnen jederzeit in die Quere gekommen.

Britta schaute sich verstohlen um. Niemand außer ihr schien das so zu empfinden. Dr. Gesser sprach in geschäftigem Tonfall in ihr Diktiergerät, Norbert suchte sich einen Platz, der weit genug entfernt war, damit ihm die Gerüche nicht unmittelbar in die Nase stiegen. Assistenten legten Skalpelle, Scheren, Oszillationssägen und sonstige Utensilien bereit.

Die Arbeit ging los.

„Nach der äußeren Untersuchung kann ich bereits eine Stichwunde in der Herzgegend feststellen. Den Stichkanal habe ich ausgefüllt, um die Waffenart und den Stichverlauf bestimmen zu können. Die Waffe ist ein Messer mit zweischneidiger Klinge. Der Wundkanal zeigt an, dass auf der rechten Seite des Herzens die Arteria coronaria dextra verletzt wurde. Durch diese Verletzung ist ein hoher Blutverlust entstanden, weil es sich um eine Koronararterie handelt. Das ist ein Blutgefäß im Herzen, das ständig sauerstoffreiches Blut in die Hinterwand und die rechte Herzkammer pumpt. Jetzt gilt es für mich festzustellen, ob er verblutet oder an einem Infarkt gestorben ist. Fakt ist jedoch, dass diese Stichwunde indirekt tödlich war.“

„Heißt das, er hat noch gelebt, als ihm das Messer wieder aus der Brust herausgezogen worden ist?“, fragte Britta erschrocken.

„Ja. Ich weiß aber nicht, wie sein Bewusstseinszustand war – also ob er noch mitbekommen hat, was mit ihm passiert ist.“

„Die Todesursache wissen wir also schon“, mischte sich Norbert in das Gespräch ein. „Dann können wir wieder zurückfahren.“

„Ich bin mit meinen Untersuchungen noch nicht fertig“, stellte die korpulente Frau klar. „Noch können wir keine abschließenden Schlussfolgerungen ziehen.“

Norbert gab sich geschlagen.

Als die Oszillationssäge angeworfen wurde, um die Hirnschale zu öffnen, konnten Britta und Dr. Gesser den jungen Mann nur noch von hinten sehen, wie er den Sezierraum fluchtartig verließ.

„Und so was arbeitet bei der Polizei“, murmelte Hilde Gesser, während sie ihre Arbeit fortsetzte.

Britta gab sich Mühe, standhaft zu bleiben, obwohl ihr Magen auch schon rebellierte. Aber sie wollte sich keine Blöße geben. Weder vor Dr. Gesser noch vor den Kollegen.

Zum Abschluss ihrer Untersuchungen sagte die Ärztin: „Die Todesursache ist der hohe Blutverlust durch Herzstich. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr.“

Britta schrieb mit.

„Die einzige Überraschung, die ich finden konnte, ist die Vasektomie. Warum lässt ein junger, aufstrebender Anwalt einen solchen Eingriff an sich vornehmen.“

„Vasektomie?“, hakte Britta nach.

„Sterilisation. Oder genauer gesagt, Durchtrennung der Samenleiter im Hodensack.“

„Heißt das, Thomas Gerlach war nicht mehr zeugungsfähig?“

„Genau das.“

„Und der Eingriff konnte nur mit seiner Einwilligung gemacht werden?“

Dr. Gesser nickte.

Britta bedankte sich bei der Rechtsmedizinerin und verließ den Sektionsraum. Der Anblick ihres leichenblassen Kollegen auf dem Besucherstuhl ließ sie schmunzeln.

„Na. Heute schon gekotzt?“

„Jedenfalls kotze ich nicht vom Saufen“, murrte Norbert.

„Ich auch nicht“, gab Britta schlagfertig zurück. „Dafür ist das Zeug viel zu teuer.“

„Und wer hat Freitagnacht die Toilette in Cindy Grafs Wohnung vollgekotzt?“

Britta sah überhaupt keine Veranlassung, drauf zu antworten.

Cindys Aufregung wuchs. Sie würde endlich Brittas Arbeitsplatz sehen. Und die Kollegen ihrer Freundin kennenlernen, von denen Britta immer sprach, als seien sie alle aus dem Gruselkabinett entflohen. Sie stand vor dem Spiegel und sah, dass ihr Gesicht gerötet war. Sie war total stolz auf ihre Freundin, die einen anspruchsvollen und wichtigen Job machte. Dafür hatte Britta auch viel investiert, wenn Cindy darüber nachdachte. Sie hatte ihre Freizeit mit Lernen verbracht, während Cindy durch die Saarbrücker Altstadt gezogen war. Sie liebte schon immer das Abenteuer, die Überraschungen im Leben. Je unvorhergesehener, desto spannender. Damit hatte sie sich auch schon manchen Ärger eingehandelt. Und Britta hatte ihr oftmals aus dem Schlamassel raus geholfen.

Bis zu jenem Tag.

Da war Cindy zur Stelle gewesen, als Britta mal Hilfe gebraucht hatte. Aber was war daraus geworden?

Heute sollte Cindy zur Polizei, um einige Fragen zu beantworten. Fragen, die gefährlich nahe an die Ereignisse von damals herankommen konnten. Sie nahm sich fest vor, gut aufzupassen, was sie sagte. Keine unbedachten Reaktionen zu zeigen, nichts, was Britta in noch größere Schwierigkeiten bringen könnte. Sollte herauskommen, welche Rolle sie beide damals gespielt hatten, als Ernst Gerlach getötet worden war, könnte Brittas Arbeitsplatz gefährdet sein. Und das war das Letzte, was Cindy wollte.

Sie stand vor dem Kleiderschrank ihrer Freundin und begutachtete mit enttäuschter Miene die Auswahl an Schuhen, die Britta dort sortiert hatte. Da sie beide die gleiche Schuhgröße hatten, war Cindy der glänzende Einfall gekommen, sich für ihren Besuch bei der Kriminalpolizei ein Paar von Britta auszuleihen. Ihre eigenen lagen in ihrer Wohnung in Burbach, die sie seit Samstag nicht mehr betreten hatte – nicht betreten durfte, weil dort Spuren gesichert wurden.

Damit kam Cindy klar.

Diese Wohnung war für sie ohnehin tabu geworden. So ein Ereignis zerstörte ihr jeglichen Wohnkomfort. Aber ihre Klamotten und Schuhe wollte sie wiederhaben. So schnell wie möglich. Denn mit flachen Turnschuhen fühlte sie sich nicht wohl. Sie brauchte ihre Individualität, die sie gern mit dem demonstrierte, was sie trug.

Doch was entdeckte sie da? Schwarze Stilettos lagen achtlos in der hintersten Reihe. Sie könnte Britta knutschen. Die zog sie an. Sofort fühlte sie sich bereit für das bevorstehende Abenteuer. Mit einem Taxi ließ sie sich in die Mainzer Straße in Saarbrücken fahren. Am Eingang zu dem großen Gelände, auf dem das Gebäude des Landespolizeipräsidiums stand, wurde Cindy angehalten. Ihre Angaben wurden überprüft. Ein Polizeibeamter trat herbei, um sie in das Gebäude zu begleiten. Cindy fühlte sich wie eine Verbrecherin.

Kaum hatte sie das Großraumbüro betreten, gingen die Unannehmlichkeiten weiter. Alle starrten sie an.

Normalerweise liebte sie es, wenn man ihr bewundernde Blicke zuwarf. Doch diese Blicke wirkten abschätzend, so als wollten die Polizisten an ihrem bloßen Äußeren erkennen, ob sie schuldig war oder nicht.

Als ihre Freundin ihr entgegenkam, konnte sie endlich wieder durchatmen.

„Da bist du ja“, rief Britta. „Ich werde bei der Befragung dabei sein.“

„Das ist aber auch das Mindeste, was du für mich tun kannst“, stellte Cindy mürrisch klar.

„So einfach ist das nicht. Wenn du meinen Chef kennengelernt hast, weißt du, was ich meine.“

„Mach es nicht noch schlimmer als es schon ist.“

Die beiden Frauen betraten das Chefbüro. Der Mann, der dort auf dem Schreibtisch saß, sah wie ein entflohener Häftling aus. Unrasiert, ungepflegt, mit hässlichen Schweißrändern unter den Achselhöhlen. Das Hemd hing aus seiner Hose, der dicke Bauch wölbte sich darüber. In einer Hand hielt er eine Akte. Mit der anderen machte er ein Zeichen, dass sie sich setzen sollten.

Cindy bekam vor Schreck ganz große Augen. Als Britta ihr einen Stoß in die Seite gab, ließ sie sich schnell auf den freien Stuhl sinken.

„Wie gut haben Sie Thomas Gerlach gekannt?“, lautete seine erste Frage, nachdem die Personalien geklärt waren.

„Er war mein zukünftiger Chef.“

„Mehr nicht?“

„Auch mein Ex-Chef. Ich hatte schon mal bei ihm gearbeitet.“

„Und weiter?“

„Nichts weiter.“

„Jetzt wird es peinlich.“ Wallbrod grinste böse. „In Ihrem Bett wurden Spermaspuren und Spuren anderer Körperflüssigkeiten gefunden, als habe dort Geschlechtsverkehr stattgefunden.“

„Wir haben hinterher miteinander geschlafen, weil wir uns so gefreut haben, dass ich bald wieder bei ihm arbeiten werde“, gab Cindy zu.

„So haben wir geklärt, wessen Spuren in dem Bett sind. Ist der Sex freiwillig geschehen?“

„Natürlich“, bestätigte Cindy. „Oder wollen Sie mir unterstellen, ich hätte Thomas getötet, weil er mich zu etwas gezwungen hat? So blöd bin ich nicht. Ich säge doch nicht den Ast ab, auf dem ich sitze.“

„Welcher Ast?“

„Dass ich bei Thomas ab Montag wieder als Rechtsanwaltsgehilfin in seiner Kanzlei arbeiten sollte.“

„Schläft man heute mit dem zukünftigen Chef, wenn man eine neue Arbeitsstelle haben will?“ Wallbods Grinsen wurde breiter.

„Thomas und ich kennen uns schon lange. Wir haben uns über den Vertragsabschluss gefreut und so ergab es sich eben. Ist doch nichts dabei.“

Ist doch nichts dabei“, äffte Wallbrod die letzten Worte nach. „Ist doch nichts dabei.“

Britta und Cindy schauten sich nur vielsagend an.

„Natürlich ist etwas dabei“, tobte Wallbrod plötzlich los. „Vor allen Dingen, wenn der Mann verheiratet ist und hinterher erstochen in der Wohnung seiner Geliebten aufgefunden wird. Also sagen Sie mir nicht, wie ich Ihre Situation beurteilen soll.“

Eine Welle schlechten Geruchs wehte über Cindy. Aus Wut über den unhöflichen Mann fächelte sie demonstrativ den Gestank von sich.

„Wir haben immer noch Zweifel an Ihrer Darstellung des Abends“, sprach Wallbrod weiter. „Sie behaupten, Thomas Gerlach habe mit Ihnen gemeinsam Ihre Wohnung verlassen.“

Cindy nickte.

„Wissen wir inzwischen den Todeszeitpunkt?“ Mit der Frage wandte sich Wallbrod an Britta, die erschrocken ihren Notizblock heraus kramte, nachschaute und antwortete: „Zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr.“

„Und wann haben Sie gemeinsam mit Thomas Gerlach die Wohnung verlassen?“

„Kurz vor acht. Ich fange um acht Uhr im Basilisk an zu arbeiten. Mein Weg dorthin dauert höchstens eine Viertelstunde.“

„Knapp“, stellte Wallbrod grimmig fest.

„Aber es reicht für ein Alibi“, hielt Britta dagegen, wofür sie einen bösen Blick erntete.

„Hat Thomas Gerlach einen Zweitschlüssel zu Ihrer Wohnung?“, fragte Wallbrod weiter.

„Nein. Er war höchstens zweimal bei mir zuhause. Ich hatte gar keinen Grund, ihm einen Zweitschlüssel zu geben.“

„Dann verraten Sie mir bitte, wie er in Ihre Wohnung zurückkehren konnte.“

Cindy zuckte mit den Schultern.

„Ihren Vermieter haben wir in dieser Angelegenheit auch schon gesprochen. Er hat einen Schlüssel, der für alle Wohnungen in diesem Haus passt. Aber ihn hat niemand nach Ihrem Wohnungsschlüssel gefragt.“

Cindy überlegte eine Weile, bis sie sagte: „Ich habe einen Ersatzschlüssel. Der hängt immer am Schlüsselbrett neben der Haustür. Vielleicht hat er sich den genommen, als ich gerade nicht aufgepasst habe.“

Das feiste Grinsen in Wallbrods Gesicht wuchs sich zu einer hämischen Grimasse aus. Langsam griff er in die Akte und zog ein Foto in DIN-A4-Größe heraus. Darauf war in aller Deutlichkeit das besagte Schlüsselbrett zu sehen. Drei Schlüssel hingen daran.

„Fehlt dort etwas?“, fragte er in schneidendem Tonfall.

Cindy schaute auf das Foto und konnte nicht anders. Ihre Augen wurden ganz groß, dann zornig, als sie brüllte: „Dann hat er ihn wieder zurückgehängt, damit ich nicht merken soll, dass er nach unserem Date in meine Wohnung zurückgegangen ist.“

„Zu schade, dass wir ihn nicht mehr fragen können, was?“

Britta nahm das Foto und fragte: „Hat die Spurensicherung diese Schlüssel nach Fingerabdrücken abgesucht?“

„Sagen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll!“, stellte Wallbrod bissig klar.

„Wenn Thomas Gerlach diesen Schlüssel an sich genommen hat, weil er die Absicht hatte, heimlich in Cindys Wohnung zurückzukehren, sobald sie weg war, hat er mit Sicherheit keine Handschuhe getragen. Er hatte bestimmt nicht die Absicht gehabt, sich ermorden zu lassen.“

Das ließ sich Wallbrod durch den Kopf gehen. Ohne Worte griff er nach seinem Handy und rief tatsächlich bei der Spurensicherung an. Nach dem er das Gespräch beendet hatte, murmelte er: „Sie nehmen sich die Schlüssel vor.“

Britta fühlte sich erleichtert. Sie ahnte, dass dort die Auflösung lag, nämlich dass Thomas tatsächlich diesen Schlüssel an sich genommen hatte. Damit wäre Cindy entlastet.

„Wie lange kennen Sie Thomas Gerlach schon?“ Mit dieser Frage setzte Wallbrod seine Vernehmung fort.

„Lange. Wir sind alle in Saarbrücken-Burbach aufgewachsen.“

„Sie auch?“, wandte er sich an Britta.

Britta bestätigte mit einem Nicken.

„Kannten Sie auch seinen Vater?“ Wallbrod richtete sich wieder an Cindy.

„Ich weiß nur, was dem Alten passiert ist. Aber zu Ernst Gerlach hatte ich keinen Kontakt. Und zu Thomas damals auch nicht. Erst als er nach dem Studium zurückkam und die Kanzlei seines Vaters übernommen hat.“

„Und Sie?“

„Kann es sein, dass ich jetzt auch vernommen werde?“, fragte Britta ungehalten zurück.

„Das kann durchaus sein“, antwortete Wallbrod gereizt. „Sie stecken bis zum Hals in dem Fall.“

Britta riss den Mund weit auf vor Schreck.

„Sie beide wissen, was mit Ernst Gerlach passiert ist?“

„Er wurde ermordet“, antwortete Cindy. Dabei tat sie gelassen, obwohl sie sich innerlich wie aufgespießt fühlte. Was wollte der stinkende Fettsack? Er stellte Fragen, mit denen Cindy nicht gerechnet hatte. Warum blieb er nicht einfach beim Thema, nämlich dem Mord an Thomas Gerlach? Und schlimmer noch: Warum zog er Britta mit hinein?

„Ernst Gerlach ist im Burbacher Weiher ertrunken.“

„Ertrunken?“, fragten Cindy und Britta wie aus einem Mund.

„Genauer gesagt, ertränkt worden“, präzisierte Wallbrod. „Markus Gronski wurde dabei erwischt. Jede Hilfe kam für Ernst Gerlach zu spät.“

Cindy fühlte sich wie elektrisiert. Sie versuchte, Brittas Blick aufzufangen, doch die Freundin wich ihr aus. Stattdessen hörte sie wieder die helle, bohrende Stimme dieses grässlichen Bullen, wie er herablassend sagte: „Aber, um wieder auf unseren aktuellen Fall zurückzukommen, Frau Graf. Trotz all Ihrer Beteuerungen habe ich Zweifel an Ihrer Darstellung der Ereignisse. Wir waren nämlich heute Morgen in Thomas Gerlachs Kanzlei. Dort arbeiten zwei junge Damen als Rechtsanwaltsgehilfinnen. Wussten Sie das?“

Cindy zuckte mit den Achseln.

„Die beiden wussten nichts von einem Arbeitsvertrag zwischen Ihnen und Rechtsanwalt Gerlach. Einen Engpass beim Personal hat es angeblich nicht gegeben.“

„Die kapieren sowieso nichts“, konterte Cindy.

„Aber Sie?“

Darauf gab Cindy lieber keine Antwort. Die Fratze dieses Mannes drückte nur Verachtung aus.

„Kennen Sie Thomas Gerlachs Frau Andrea?“

„Ich weiß, wer sie ist.“

„Und wer ist sie?“

„Eine Langweilerin.“

„Aha! Rivalin, wie ich sehe.“ Wallbrod lachte böse. „War es nicht zufällig so, dass Sie in Thomas Gerlach verliebt waren und ihm ein Ultimatum gestellt haben, er solle sich von seiner Frau trennen, damit er frei für Sie ist?“

„So ein Blödsinn. Einen Mann wie Thomas wollte ich niemals ganz für mich haben.“

„Warum nicht?“

„Weil Thomas alles vernascht, was nicht schnell genug auf dem Baum ist. Seine Ehe war ihm egal.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht die Einzige waren, mit der er seine Frau betrogen hat?“

„Genau das.“

„Und das hat Sie nicht gestört?“

„Nein. Ich habe bestimmt nicht ans Heiraten gedacht, wenn ich mit Thomas zusammen war.“

„Dafür denken Sie daran, den Verdacht auf andere zu lenken.“ Wallbrod grinste, wobei kleine, spitze Zähne zum Vorschein kamen. „Aber das klappt nicht. Denn wir haben Thomas Gerlachs Kanzlei komplett durchsucht. Die Angestellten waren so nett und haben nicht auf einen Durchsuchungsbeschluss bestanden. Wir fanden nirgendwo einen Arbeitsvertrag zwischen Ihnen und Thomas Gerlach. Er hat sie verarscht.“

„Das hat er nicht. Sie haben nicht überall gesucht.“

„Wo sollten wir noch suchen?“

„Tja. Das hat Ihnen wohl niemand gesagt, was?“ Cindy feixte.

„Sagen Sie schon, was Sie wissen!“, drängte Wallbrod, dessen Gesicht grimmige Züge annahm.

„Thomas hat eine Wohnung in der Stadt gemietet, nur um sich mit seinen Frauen zu treffen. Fickstübchen hat er die Bude genannt.“

Fickstübchen?“ Wallbrod verschluckte sich fast. Dann brach er in ein grelles Lachen aus, dass es Cindy und Britta in den Ohren schmerzte.

„Wo ist dieses Fickstübchen?“, fragte Wallbrod, als er sich wieder beruhigt hatte.

„Ganz in der Nähe – in der Mainzer Straße.“

„Dann werden wir uns das Fickstübchen mal genauer anschauen. Ich stelle fest, man lernt nie aus.“

Die Befragung war beendet. Cindy durfte gehen.

„Was redet der Fettsack über Ernst Gerlach?“, fragte sie, kaum, dass sie im Flur angekommen waren, wo sie auf den Fahrstuhl warteten.

„Psst. Es könnte uns jemand hören“, bremste Britta den Redefluss ihrer Freundin.

Im Flüsterton sprach Cindy weiter: „Ernst Gerlach ist doch nicht ertrunken.“

„Ich werde die Rechtsmedizinerin fragen“, schlug Britta vor. „Hilde Gesser wird mir die gewünschte Auskunft geben ohne gleich Verdacht zu schöpfen.“

„Ja, tu das.“

Cindy drückte auf den Fahrstuhlknopf. An der Beleuchtung sahen sie, dass die Kabine gerade ganz unten war.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich über diese Sache von damals ausgefragt werde“, schimpfte sie, während sie auf den Fahrstuhl wartete. „Wie kommt der Bulle dazu?“

„Das hat eindeutig mit deinem Verhältnis mit Thomas Gerlach zu tun“, spekulierte Britta. „Musstest du dir ausgerechnet ihn für deine amourösen Abenteuer aussuchen?“

„Du weißt warum ...“

„Und heute – zwanzig Jahre später – kommt der alte Mist wie ein Bumerang auf uns zurück.“

Endlich!

Die heiße Cindy verließ das Polizeigebäude.

Pietro Pardi hatte schon befürchtet, sie sei verhaftet worden. Damit hätte der Fettsack Wallbrod sicherlich keinen Fehler gemacht, wie er inzwischen aus zuverlässiger Quelle wusste. Aber er hätte ihm jede Chance gestohlen, weitere reißerische Aufmacher für die Zeitung zu schreiben.

Pietro verfügte über ein gutes Gespür für Menschen, die Dreck am Stecken hatten. Und Cindy Graf gehörte dazu. Ebenso ihre Freundin Britta. Schon damals, als Ernst Gerlach ermordet worden war, hatte er diese Frauen nicht weit vom Tatort entfernt gesehen. Gelaufen waren sie. Wie von der Tarantel gestochen. So rannte man nur, wenn man vor etwas davonlief.

Nie hatte er herausfinden können, wovor Cindy, Britta - und noch eine dritte, deren Name ihm nicht mehr einfiel - damals geflüchtet waren. Seine Bemühungen, dem Mord an Ernst Gerlach etwas Geheimnisvolles zu entlocken, waren gescheitert. Über sein eigenes Drogendelikt war er gestolpert und für diese Dummheit einige Jahre im Knast gelandet. Seitdem strampelte er mühsam, um seinen alten Ruf als Fuchs unter den Journalisten wieder herzustellen. Der Mord an Thomas Gerlach war die absolute Chance. Zuviel hing daran.

Es war kein Zufall, dass Thomas Gerlach der Sohn des vor zwanzig Jahren ermordeten Ernst Gerlach war. Erst recht nicht für Pardi, der dieses Ereignis für einen neuen Karriereschub hielt. Kaum war er wieder auf der Bildfläche aufgetaucht, hatte sich auch schon ein Informant bei ihm gemeldet und ihm genau das angeboten, wonach Pardi schon lange lechzte. Aus dem Mordfall Ernst Gerlach nach zwanzig Jahren eine erneute Sensation zu machen.

Der Mord an dessen Sohn war das Tüpfelchen auf dem i.

Und ausgerechnet in Cindy Grafs Wohnung wurde er ermordet.

Für Pietro stand fest: Diese Weiber hatten schon seit zwanzig Jahren etwas zu verbergen. Er war auf der richtigen Spur.

Ein Taxi kam vorgefahren. Cindy stieg ein. Ganz schön luxuriös für eine arbeitslose Rechtsanwaltsgehilfin. Das sah ebenfalls vielversprechend aus.

Die Fahrt konnte losgehen.

Pietro Pardi startete seinen alten Ford-Escort, ein Relikt aus seiner Zeit, bevor er im Knast gelandet war. Er hing an dem alten Stück, auch wenn die Geräusche inzwischen mehr als bedenklich waren. Aber die alte Karre erinnerte ihn an bessere Zeiten – an Zeiten, die er wieder erleben wollte. Also hütete er sie, pflegte sie, tankte auch bereitwillig den teuersten Sprit – nur um nicht zugeben zu müssen, dass das Geld für ein neues Auto nicht reichte.

Doch was sah er da?

Cindy fuhr nicht zurück in Britta Ballhaus’ Wohnung in der Lebacher Straße. Auch nicht ins Basilisk zu Gerd Bode, dem Trottel, der immer herhalten musste, wenn Cindy Mist gebaut hatte. Sie steuerte den Triller an, eine Wohngegend am Rand von Saarbrücken. Die Straßen wurden immer enger und steiler. Pardi musste aufpassen, dass er nicht gesehen wurde. Er ließ sich zurückfallen. Plötzlich war das Taxi verschwunden. Verdammt. Diese verwinkelten Straßen waren wie verhext. Wo steckte Cindy nur? Er schaute sich nach allen Seiten um, bis er gerade noch das Hinterteil des Taxis erkennen konnte, das rechts abbog.

Was hatte er doch ein Glück. Er schlug die gleiche Richtung ein. Der Anstieg wurde noch steiler. Sein Auto stieß eine schwarze Rußwolke durch den Auspuff. Hoffentlich verreckte ihm die Karre nicht.

Zum Glück wurde es bald wieder eben.

Es folgte ein kleiner Park, der von schicken Bungalows flankiert wurde. Deutlich konnte er sehen, vor welchem Haus das Taxi stehenblieb. Pardi stieß vor Staunen die angehaltene Luft aus. Das war Thomas Gerlachs Haus. Was hatte Cindy dort zu suchen? Er stellte seine Rostlaube hinter der nächsten Kurve ab, kramte sein Mikrofon aus der Tasche, seine neueste Errungenschaft - in der Hoffnung, dass er nah genug herankam, um etwas mitzuhören.

Er schaute sich um. Die Gegend wurde durch viel Natur geprägt – Zypressen, Weißdornsträucher und Kirschlorbeer konnte er erkennen. Das war der geeignete Schutz für Pardi.

Er sah Cindy an der Haustür stehen. Hastig huschte er hinter das Gestrüpp. Die Haustür wurde geöffnet. Sofort konnte er laute Frauenstimmen hören. Andrea Gerlach – Thomas Gerlachs Witwe – schien nicht besonders erfreut über den Besuch von Cindy zu sein.

Stopp! Was war das?

Andrea Gerlach hatte einen dicken Bauch. Die Gute war schwanger. Das könnte eine kleine Herz-Schmerz-Geschichte am Rande geben. Pardi beglückwünschte sich zu seinem schlauen Schachzug.

Er hielt das Mikrofon in Richtung der streitenden Frauen. Worte wie: „Schlampe“ „Diebin“ „Mörderin“ fielen. Doch leider war das Streitgespräch damit schon wieder beendet. Andrea Gerlach schlug die Tür vor Cindys Nase zu.

Pardi verharrte in seinem Versteck. Was würde nun passieren? Am liebsten wäre ihm, Cindy würde an die verschlossene Tür hämmern und ihre Vorwürfe laut und gut hörbar hinausschreien. Aber diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Stattdessen kehrte sie zum Taxi zurück und ließ sich zu Brittas Wohnung fahren.

Pardi schaute sich auf dem Display seiner digitalen Kamera die Fotos an, die er von den beiden Frauen geschossen hatte.

Er grinste. Auch wenn er nicht viel von dem Streit verstanden hatte, so wusste er jetzt schon, wie der nächste Aufmacher seiner Zeitung aussehen würde.

Fickstübchen“, trällerte Oberkommissar Norbert Böker, während Britta den Dienstwagen langsam durch die stark befahrene Mainzer Straße steuerte. Sie suchten nach der Zweitwohnung, die Thomas Gerlach für amouröse Zwecke gemietet hatte.

„Geld muss man haben“, sinnierte Böker weiter und fuhr sich durch seine blonden Haare. „So ein Anwalt kann sich eine extra Bude mieten, nur um die vielen Mäuschen zu vernaschen. Und ich?“

„Du bist nicht verheiratet. Für dich es doch egal, wo du mit ihnen hingehst.“

„Aber die Frauen, die ich vernasche, sind es meistens. Da wäre ein Fickstübchen doch viel sicherer.“

„Das ist wieder typisch für dich.“

„Leck mich!“

„Nein Danke! Ich verzichte.“

Das Gespräch zwischen den beiden war beendet. Zum Glück fanden sie das Haus sofort. So entstand kein peinliches Schweigen. Von außen sah es unscheinbar aus, passte sich den anderen in dieser Reihe perfekt an, was es anonym wirken ließ. Sie stiegen aus und gingen durch die kalte Herbstluft auf die Haustür zu. Das Klingelschild verriet nichts – gar nichts. Es stand kein einziger Name dran. Die Haustür war nur angelehnt. Die beiden Polizeibeamten schauten überrascht auf das Schloss und erkannten sofort, dass es verrostet war und vermutlich schon lange keinen Nutzen mehr brachte. Sie stießen die Tür auf und traten in einen langen, dunklen Flur. An den Wänden hingen dutzende von Briefkästen ohne Namen.

„Wie sieht der Briefträger, wo er was einwerfen muss?“, fragte Böker überrascht.

„Schau mal genau hin“, forderte Britta auf. „Ich sehe keine Post. Nur Werbung.“

„Ein perfektes Ambiente für ein Fickstübchen“, sinnierte Böker.

Sie gingen weiter.

Am Ende des Flurs stand die Nummer fünf auf der Tür. Das musste Gerlachs Wohnung sein. Böker probierte den Schlüssel. Er passte. Sie traten ein. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Erschrocken wichen sie zurück.

„Meine Güte. Es riecht, als habe hier ein Schwein gehaust“, stöhnte Böker. Er hielt sich seinen Jackenärmel vor die Nase und trat ein. Britta folgte ihm widerwillig. Nun erst erkannten sie, dass alles durcheinander lag.

„Das sieht nicht gut aus“, stellte Britta fest. „Hier war schon einer vor uns.“

Böker stellte sich ans Fenster. Der Blick fiel dort auf die Rückseite hoher Bürokomplexe und moderner Versicherungsgebäude, die von alten, vernachlässigten Häusern flankiert wurden. Dazu Hinterhöfe, die verlassen aussahen, und verrostete Container. Die vereinzelten Bäume wirkten innerhalb der farblosen Umgebung durch ihr buntes Laub wie Farbtupfer. Keine Menschenseele war dort zu sehen. Alles verharrte in Stille. Sogar der Wind gelangte nicht in diese Ecke. Stillleben, fiel Böker dazu ein. Wie ein Gemälde. Der Anblick könnte ihm gefallen.

Er drehte sich um und besah sich das Chaos im Wohnzimmer genauer. Papiere, Zeitungen, Fotos lagen auf dem Boden. Aber keine Schranktür stand offen, keine Schublade war herausgerissen. Weiter entdeckte er Geburtstagskarten und Liebesbriefe. Auch die Regale wirkten unberührt.

Ein Poltern drang an sein Ohr, begleitet von einem Rascheln. Erschrocken drehte sich Norbert Böker im Kreis. Er war allein. Und doch fühlte er sich beobachtet.

Vorsichtig näherte er sich dem Schrank, dessen Front aus Lamellen bestand. Da glaubte er, einen warmen Hauch zu spüren. Gänsehaut kroch ihm blitzartig über den Nacken. Erschrocken wich er zurück, wollte nach Britta rufen, als sie ihm zuvorkam: „Rühr nichts ohne Handschuhe an.“

„Für wie blöd hältst du mich?“, brüllte Böker, um seine Nervosität zu kaschieren.

„Dazu sage ich lieber nichts.“

„Hast du deine Tage oder was?“

„Ich rufe die Kollegen der Spurensicherung an, damit die sich die Bude vornehmen“, rief Britta anstelle einer Antwort

Wieder schaute Böker auf die Schranktür. Mit einem Ruck riss er sie auf. Leer.

Britta schaute ihm vom Flur aus zu und schüttelte verständnislos den Kopf.

Beschämt schloss Böker sie wieder und schaute sich weiter um. Sein Blick fiel auf eine Tür am Ende des Raums. Schon wieder überkam ihn dieses beklemmende Gefühl. Hastig steuerte er darauf zu und öffnete sie. Dahinter fiel sein Blick auf ein riesengroßes Bett mit zerwühlten Laken. Eine leere Sektflasche stand auf dem einzigen Nachttisch. Aber eine Möglichkeit, sich in diesem Zimmer zu verstecken, gab es nicht.

Litt er an Verfolgungswahn?

„So sieht also das Herz eines Fickstübchens aus“, rief er betont lässig. Trotzdem gelang es ihm nicht, seine innere Anspannung loszuwerden.

Keine Antwort. War vielleicht auch besser so. Britta ging ihm ohnehin auf die Nerven. Er schloss die Schlafzimmertür wieder und wollte sich auf den Weg ins Badezimmer machen. Da vernahm er schon wieder ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Dieses Mal klang es wie ein leises Quietschen. Er schaute nach den Fensterrahmen. Die saßen alle fest und die Fenster waren verschlossen.

„Britta?“

Keine Antwort.

„Wo steckst du?“

Immer noch keine Antwort.

Böker wurde mulmig zumute.

Nervös machte er sich auf die Suche nach ihr und fand sie in der Küche. Sie inspizierte gerade den Kühlschrank.

„Was hoffst du dort zu finden?“, fragte er mürrisch.

„Hinweise darauf, wann zum letzten Mal jemand in dieser Wohnung war.“

„Und?“

„Nur Sektflaschen. Die können schon lange hier sein.“

Gerade wollte sich Böker dem Kühlschrank nähern, als sich der Flur verdunkelte.

Sein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe.

Rasch drehte er sich um seine eigene Achse und sah einen Schatten, der um die Ecke verschwand.

„Hast du das auch gesehen?“

Britta schaute mit weit aufgerissenen Augen auf Böker und nickte.

Da hörten sie es. Die Wohnungstür schlug zu.

„Verdammte Scheiße! Hier war wirklich einer. Ich hatte die ganze Zeit so ein komisches Gefühl.“

Böker rannte in den Flur und warf einen Blick in Richtung Wohnzimmer. Dort sah er eine weit geöffnete Schranktür. Vor wenigen Minuten war sie noch verschlossen gewesen. In diesem Schrank hatte er also gesteckt. Böker hatte einfach nur das falsche Möbelstück inspiziert. Aber sein Eindruck hatte in ihn nicht getäuscht.

„Sollte das der Mörder gewesen sein?“, hörte er Britta fragen.

Natürlich!

Die ganze Zeit war er mit einem Mörder allein in diesem Zimmer gewesen. Ihn schauderte.

Er durfte ihn nicht entkommen lassen.

Sofort rannte er los. Mit seinen langen Beinen war er mit nur wenigen Schritten an der Wohnungstür und riss sie auf. Im Korridor war niemand zu sehen. Lediglich die Haustür fiel vor seinen Augen langsam zu. Er sprintete hinterher, sprang auf den Bürgersteig und schaute nach rechts – dann nach links. Doch es war aussichtslos, eine einzelne Person auszumachen.

Alles war voller Passanten.

Tief unter Wasser

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