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Kapitel 3

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Cindys gute Laune war verflogen. Seit sie das Polizeipräsidium verlassen hatte, fühlte sie sich verfolgt. Aber wenn sie sich umschaute, konnte sie niemanden entdecken. Das beunruhigte sie. Vielleicht lag es ja an den Zeitungsartikeln über sie. Sie fühlte sich durchleuchtet, durchschaut – ja sogar paranoid. In jedem Blick, den sie einfing, glaubte sie ein Wiedererkennen zu sehen. Und noch viel mehr: eine Verurteilung.

Sie schüttelte sich.

Nun saß sie an der Theke des Basilisks als ihr eigener Gast und bekam von Bode die frohe Kunde, dass sie zunächst die Frühschicht übernehmen musste, weil er für abends eine Bedienung eingestellt hatte. Das kam davon, wenn sich der zukünftige Chef ermorden ließ. Aber das genügte nicht. Es hatte ausgerechnet in ihrer Wohnung passieren müssen. Cindy stöhnte.

Schlechte Zeiten brachen für sie an. Das konnte sie gar nicht gebrauchen. Sie trauerte um Thomas. Wenn er auch ein gefühlloser Mensch war - ein guter Liebhaber war er auf jeden Fall. Allerdings ärgerte sie die Tatsache, dass er in ihre Wohnung zurückgegangen war. Was hatte Thomas bei ihr zu suchen, wenn sie nicht dabei war? Mit Sicherheit wollte er sie nicht mit seiner Anwesenheit beglücken, wenn sie von ihrem Kneipendienst heimkam. Soviel Edelmut traute sie ihm nicht zu. Also blieb nur ein hinterhältiger Grund.

Ganz bestimmt war es kein Zufall, dass Thomas sich ausgerechnet diesen Tag ausgesucht hatte, um sich mit ihr in ihrer Wohnung zu vergnügen.

Cindy riss die Augen auf.

Na klar. Markus Gronski war einen Tag davor entlassen worden – der Mörder seines Vaters. Und am Freitagmorgen hatte es jeder gewusst, weil es in der Zeitung gestanden hatte. Vermutlich hatte Thomas wissen wollen, ob es in ihrer Wohnung etwas gab, was mit seinem Alten zusammenhing.

Cindy überlegte, wo Thomas damals gesteckt hatte, als der Mord an seinem Vater passiert war. Er hatte Semesterferien gehabt, soviel wusste sie noch. Sie erinnerte sich, ihn damals gelegentlich bei seinem Vater in der Kanzlei gesehen zu haben. Aber wo war er an dem verhängnisvollen Tag?

Sie konnte sich nicht daran erinnern.

Plötzlich fröstelte Cindy. Dabei war es viel zu warm im Basilisk. Sie schaute sich erschrocken um.

Der Obelisk stand an seinem obligatorischen Platz in der Ecke. Einige bekannte Gesichter hingen an der Theke und prosteten ihr zu. Die neue Bedienung hatte ihre Not, den vielen Bestellungen nachzukommen. Eigentlich war alles wie immer.

Ein Windhauch streifte Cindy. Sie drehte sich um und sah einen großen, hageren Mann, der sich neben sie setzte. Cindy hatte ihn noch nie hier gesehen.

„Darf ich dich einladen?“, fragte er.

Cindy staunte, nickte aber trotzdem. Ein kostenloses Bierchen würde sie niemals ablehnen.

Die neue Bedienung stellte ihnen zwei frisch Gezapfte auf die Theke. Aus dem hinteren Raum hörte Cindy lautes Rumoren. Der Chef musste ein neues Bierfass hereinrollen und anstechen. Das bedeutete Arbeit, was ihm nicht behagte. Kurze Zeit später tauchte er hinter der Theke auf. Sein Blick ging sofort prüfend über den neuen Gast.

„Alles klar?“, fragte er.

„Alles paletti, Papa.“ Cindy grinste frech.

Sie trank von ihrem Bier und wollte weiter ihren Gedanken nachhängen, als eine Frage an ihr Ohr drang: „Kannst du dich noch an Onkel Günni erinnern?“

Cindy schaute erschrocken auf das Gesicht des Mannes. Die Augen wirkten traurig, das Haar schütter, seine Haut welk. Nein, an diesen Mann konnte sie sich nicht erinnern. Die Traurigkeit, die er ausstrahlte, erschreckte sie. Sie schüttelte den Kopf.

„Du bist doch Cindy Graf, oder nicht?“

„Ja.“

„Ich habe dein Foto in der Zeitung gesehen“, sprach der Mann weiter. „Ich habe dich sofort wiedererkannt.“

Cindy fühlte sich nicht wohl.

„Und Britta Ballhaus kenne ich auch. Ihr seid damals mit meiner Tochter in dieselbe Schule gegangen – in die Füllengartenschule in Burbach.“

Was wollte dieser Mann von ihr? Cindy rutschte nervös auf ihrem Barhocker hin und her.

„Du warst auch ab und zu bei uns zuhause, wenn meine Tochter Geburtstag gefeiert hat. Sie heißt Daniela Bartholt. Erinnerst du dich?“

Cindy wusste nicht, von wem der Mann sprach. Also reagierte sie gar nicht auf die Frage.

„Und ich bin Danielas Vater Günter.“

Er schaute sie an, als müsste es jetzt bei ihr klingeln. Tat es aber nicht.

„Ich habe meine Tochter seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.“

Cindy lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Plötzlich tauchte Bode vor den beiden auf und murrte: „Ich beobachte Sie jetzt lange genug. Da ich nicht dulde, dass meine Gäste belästigt werden, dürfen Sie das Lokal verlassen. Das Bier geht aufs Haus.“

Der Mann schaute erschrocken auf. Hilflos sah sein Blick aus und gehetzt. Aber auf keinen Fall gefährlich. Resigniert legte er einen Schein auf die Theke und sagte zum Abschied: „Ich belästige niemanden und falle keinem zur Last.“

Dann ging er und hinterließ in Cindy noch größeres Unbehagen.

„Wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir schlafen“, schlug Bode vor, als er Cindys blasses Gesicht sah.

„Wie komme ich zu der Ehre?“

„Väterliche Gefühle vielleicht.“ Gerd verzog sein unrasiertes Gesicht zu einer Grimasse, was ein Grinsen sein sollte. „Ich mache mir Sorgen um dich. Die Zeitungsartikel haben dir zu viel Aufmerksamkeit eingebracht.“

„Ewig lockt das Weib!“

So lautete die Überschrift auf Seite 1 der Tageszeitung.

Britta hatte es nicht kommen sehen. Blind war sie am nächsten Morgen ins Büro gelaufen, um dort sofort von hämischen Blicken aufgespießt zu werden. Erst als Norbert Böker ihr ein Exemplar der aktuellen Zeitung vorlegte, verstand sie. Ein großes Bild in Farbe prangte ihr entgegen. Darauf waren Cindy Graf und Andrea Gerlach, die Witwe des Ermordeten zu sehen. Die Gesten der beiden Frauen ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich stritten.

Britta kochte innerlich. Cindy hatte ihr kein Wort davon gesagt – war letzte Nacht einfach nicht nach Hause gekommen. Welches Spiel trieb ihre Freundin? Wollte sie mit allen Mitteln erreichen, dass Britta ihren Job verlor?

„Aus Bad Girls werden Desperate Housewives“, ging der Text weiter.

Und es wurde noch schlimmer: „Cindy Grafs erster Gang nach ihrem Besuch bei der Polizei galt der trauernden Witwe des gerade erst ermordeten Thomas Gerlach. Doch dieser Besuch sollte kein Kondolenzbesuch sein, wie sich schnell herausstellte. Die beiden Frauen stritten sich in aller Öffentlichkeit. Spielt sich hier nur ein Eifersuchtsdrama ab? Oder liegt der Hass dieser beiden Frauen tiefer verwurzelt, nämlich in der Vergangenheit?“

Daraufhin folgte ein ausführlicher Artikel über den Mord an Ernst Gerlach, wobei der Artikel keinen Zweifel daran ließ, dass Cindy Graf nicht nur das Opfer Thomas Gerlach gekannt hatte, sondern auch dessen Vater.

Britta spürte, wie ihr beim Lesen schlecht wurde. „PP“ stand unter dem Bericht. Der Name dazu lautete: Pietro Pardi. Dieser Reporter hatte ihr und Cindy in der Mordnacht aufgelauert. Sie kannte ihn, wusste, dass er nicht eher lockerließ, bis er hatte, was er wollte.

Nachdem sie den Bericht inzwischen schon zum dritten Mal las, beschlich sie die böse Vorahnung, dass Pietro Pardi etwas wusste, was den Mord an Thomas Gerlach mit dem Mord an dessen Vater vor zwanzig Jahren in Verbindung brachte. Pietro Pardi war damals schon als Journalist tätig gewesen und hatte lange und ausführlich über den Mord an Ernst Gerlach berichtet.

Und nicht nur das.

Plötzlich fiel Britta etwas ein, was sie all die Jahre vergessen hatte: Pietro Pardi hatte Markus Gronski damals auf frischer Tat ertappt. Er hatte die Polizei gerufen und dafür gesorgt, dass Gronski ins Gefängnis kam. Also war er damals am Burbacher Weiher gewesen!

Ihr wurde schwindelig. Was wusste dieser Fuchs noch?

Sie stützte ihren Kopf in beide Hände, als sei er zu schwer geworden. Im gleichen Augenblick ertönte die gefürchtete Stimme ihres Chefs. Sie wurde aufgefordert, in sein Büro zu kommen. Britta hatte gehofft, der Dienstag würde besser beginnen als der Montag. Doch leider blieb der Wunsch der Vater des Gedankens. Lustlos folgte sie ihrem Chef.

Was sie sah, ließ sie zunächst erstaunen. Urban Wallbrod war rasiert, trug ein frisch gebügeltes Hemd und eine neue Hose. Es gelang ihm trotzdem nicht, zivilisiert auszusehen, denn seine roten Froschaugen hatten etwas Animalisches. Dafür roch er nach Rasierwasser, was es für Britta wesentlich erträglicher machte.

Was hatte diese Wandlung bewirkt?

Lange überlegen musste sie nicht, schon kam der Staatsanwalt Dr. Franz Rousselange herein. Er reichte Britta die Hand und sagte: „Sie werden verstehen, dass wir unsere Ermittlungen im Fall Thomas Gerlach auf Cindy Graf konzentrieren müssen.“

„Nein, das verstehe ich nicht“, gab Britta zur Antwort.

„In sogenanntem Fickstübchen wurde ebenfalls kein Arbeitsvertrag zwischen Cindy Graf und Thomas Gerlach gefunden.“

„Den kann jemand gestohlen oder vernichtet haben.“

„Jetzt geht mit Ihnen die Fantasie durch“, tadelte Rousselange.„Außerdem kommt noch Cindy Grafs verdächtiges Verhalten dazu. Sie ist nach ihrer Vernehmung umgehend zu Thomas Gerlachs Witwe gefahren und hat sich mit ihr gestritten. Dabei hat sie nicht bemerkt, dass sie von einem Zeitungsreporter beobachtet wurde.“

„Haben Sie sich das Foto in der Zeitung mal genauer angeschaut?“, erwiderte Britta.

Auf die verdutzten Gesichter der beiden Männer sprach sie weiter: „Andrea Gerlach ist eindeutig schwanger.“

„Das wissen wir. Das gibt der ganzen Sache noch mehr Dramatik“, antwortete Dr. Rousselange und rümpfte theatralisch seinen großen Zinken.

„Ja. Haben Sie noch nicht den Obduktionsbericht von Dr. Hilde Gesser gelesen?“, gab sie zurück.

„Doch. Aber, was hat das damit zu tun?“

„Das Kind kann nicht von Thomas Gerlach sein. Thomas Gerlach ist durch eine Operation zeugungsunfähig.“

Damit gelang es Britta endlich, die beiden Männer in Staunen zu versetzen.

„Andrea Gerlach ist im fünften Monat schwanger“, sprach Wallbrod, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. „Wann hat diese Operation stattgefunden?“

Zum Glück erinnerte sich Britta an die Daten, die in dem Bericht standen. Sie zitierte: „Laut dem behandelnden Hausarzt von Thomas Gerlach hat er sich diesem Eingriff vor zwei Jahren unterzogen.“

Wallbrod schnaufte: „Jetzt wird es interessant. Wir müssen herausfinden, wer der Vater des Kindes ist.“ An Britta gewandt murrte Wallbrod: „Sie können gehen.“

Der Anblick des weißhaarigen Mannes vor Brittas Schreibtisch ließ ihr Herz höher schlagen. Robert Bossi, der Leiter der Spurensicherung war höchstpersönlich vorbeigekommen, um das Ergebnis seiner Untersuchungen vorzutragen. Britta ahnte warum. Da störte sie noch nicht einmal die feuchte Kälte, die durch das Büro drang, weil das Fossil Martin Schelter wie üblich auf dem Sims des geöffneten Fensters saß und rauchte. Als Bossi sich umdrehte und ihr sein rundes Gesicht zuwandte, leuchteten seine Augen auf und sein breiter Mund verzog sich zu einem Lachen.

„Da steckst du ja“, rief er zur Begrüßung. „Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.“

„Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, erwiderte Britta, obwohl ihr bei seinen Worten ganz warm ums Herz wurde. „Unkraut vergeht nicht.“

„Aber du bist kein Unkraut“, rügte Bossi. „Also ist meine Sorge begründet. Seit du in der Zeitung erwähnt worden bist, habe ich mehrfach versucht, dich telefonisch zu erreichen. Wo treibst du dich immer herum?“

„Vermutlich da, wo mich Wallbrod hinschickt.“

„Wir haben Ergebnisse. Deshalb bin ich hier. Ich warte nur noch auf deinen Chef, dann berichte ich.“

Die Tür zu Wallbrods Büro ging auf. Der Dienststellenleiter trat auf die beiden zu, setzte sich auf Brittas Schreibtischkante und schaute den weißhaarigen Mann herausfordernd an.

„Zunächst einmal kann ich mit Sicherheit sagen, dass die Tatwaffe nicht in Cindy Grafs Wohnung aufzufinden war. Den Messerbestand ihrer Küche haben wir überprüft. Dort fehlt nichts. Nach dem Abdruck zu urteilen, den die Rechtsmedizinerin vom Stichkanal gemacht hat, ist es kein Küchenmesser, sondern ein Messer mit zweischneidiger Klinge – ein sogenannter Dolch. Die Klinge war lang und breit und nicht besonders scharf, was auf eine Vernachlässigung der Pflege des Messers hindeuten könnte.“

„Kommt man einfach so an einen Dolch ran?“, fragte Britta.

„Ja. Leider. Im Internet geht das noch einfacher, man muss sich dafür noch nicht einmal eintragen.“

„Jetzt hast du uns groß und breit erklärt, was du nicht gefunden hast“, murrte Wallbrod. „Nun wüsste ich gern, was du gefunden hast.“

„Gern! Kommen wir auf die Spuren zu sprechen, die wir gefunden haben.“ Bossi lachte. „In Cindy Grafs Wohnung gab es Fingerabdrücke von ihr selbst und von Thomas Gerlach, was keine Überraschung ist.“

„Hast du den Ersatzschlüssel an Cindys Schlüsselbrett neben der Wohnungstür untersucht?“ fragte Britta.

„Ja, haben wir.“ Bossi zögerte. „Daran fanden wir tatsächlich etwas Besonderes.“

Britta hielt die Spannung fast nicht mehr aus. Sie hielt die Luft an. Was würde jetzt kommen?

„Thomas Gerlachs Abdrücke sind klar und deutlich auf dem Wohnungsschlüssel.“

Am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt.

„Damit ist Cindy Graf aus dem Schneider“, sagte sie stattdessen in aller Ruhe.

„Immer sachte mit den jungen Pferden“, bremste Wallbrod den Eifer der Kommissarin, wofür Britta ihn am liebsten erwürgt hätte. „Jetzt stehen wir vor einer anderen Frage: Warum ist Thomas Gerlach in die Wohnung zurückgekehrt? War dieses Arrangement vielleicht sogar verabredet?“

Britta traute ihren Ohren nicht. Was wollte ihr Chef damit erreichen? Mit ihrer Beherrschung war es dahin, als sie zurückfragte: „Ist es nicht auch in Ihrem Sinn, den richtigen Mörder zu fassen?“

„Was soll diese Frage?“

„Ganz einfach: Cindy hat Thomas nicht getötet. Wie hätte sie das anstellen sollen? Sie war um acht Uhr im Basilisk. Dafür gibt es etliche Zeugen. Mich inbegriffen. Stattdessen sollten wir unsere Suche lieber auf interessantere Verdächtige konzentrieren.“

„Cindy Graf ist die interessanteste Verdächtige, weil sie den Toten schon gekannt hat, als sein Vater ermordet worden ist“, hielt Wallbrod dagegen. „Hinzu kommt ihre Lüge mit dem Arbeitsvertrag.“

„Das ist keine Lüge“, beharrte Britta . „Vielleicht hat der Mord gar nichts mit Ernst Gerlach zu tun, sondern nur damit, dass Thomas Gerlach Anwalt war. Er könnte einen Prozess verloren haben, was ihm der Mandant nicht verziehen hat.“

„Was glaubt gnädige Frau, was wir hier tun?“, zischte Wallbrod böse. „Sämtliche Mandanten werden überprüft.“

„Dann sollten wir den Vater von Andrea Gerlachs Kind nicht vergessen“, fügte Britta verbissen an. „Der Mann könnte auch von Interesse sein.“

Wallbrods Gesicht wurde immer roter.

Bossi grinste Britta verschwörerisch zu.

„Was soll das heißen?“, fragte Böker überrascht. „Warum ist der Vater von Andrea Gerlachs Kind von Interesse? Thomas Gerlach ist erst seit zwei Tagen tot.“

„Ich denke, Sie waren zusammen mit Kollegin Ballhaus bei der Autopsie“, schoss Wallbrods helle Stimme durch den Raum.

„Ja.“ Böker wirkte plötzlich kleinlaut.

„Dort wurde das Ergebnis bekannt gegeben.“

Britta grinste in sich hinein. Jetzt wurde es für den überheblichen Kollegen peinlich. Und das Beste daran war, er hatte sich selbst in den Schlamassel geritten.

„Also müssten Sie wissen, warum Thomas Gerlach nicht der Vater des Kindes sein kann. De facto gibt es noch einen Unbekannten, der für uns von besonderem Interesse ist.“

Böker ließ sich vor seinem Computer nieder und rief den Bericht der Gerichtsmedizinerin auf.

„Wir kommen nicht umhin: Wir werden mit der Witwe sprechen müssen“, gab Wallbrod endlich zu und wandte sich an Britta mit der Anweisung: „Das machen Sie!“

„Warum ich? Sie wird mich hinauswerfen, wenn ich mit der Frage komme.“

„Warum Sie nicht?“, hakte Wallbrod böse nach. „Sie kennen Andrea Gerlach schon lange. Da kommen alte Erinnerungen hoch.“

Die Kollegen murmelten, bis Bossi sich zu Wort meldete: „Urban. Du hast den Charme einer Klobürste. Warum gehst du mit diesem sensiblen Thema nicht selbst zu der geplagten Witwe? Dir nimmt sie es nicht übel, weil sie von dir nichts anderes erwartet.“

Alle starrten gebannt auf die beiden Männer. Was würde jetzt passieren? Ließ sich Wallbrod eine solche Beleidigung gefallen?

„Wenn ich mich richtig erinnere, gehörst du zum Team der Spurensicherung, Bossi. Warum mischst du dich hier ein?“, fragte Wallbrod stattdessen nur, womit er die Erwartungen seiner Mitarbeiter keineswegs erfüllte.

„Ich helfe immer gerne, wo ich kann.“

Wallbrod schaute in Bossis rundes Gesicht und sah darin nur Herzensgüte und Gelassenheit. Als sei dadurch seine Aggression verflogen, fragte er stattdessen: „Wie sieht es mit Spuren von Markus Gronski aus? Immerhin ist er wieder draußen. Über ihn als Täter haben wir noch gar nicht nachgedacht.“

„Ich habe durchaus an Markus Gronski gedacht“, hielt Bossi dagegen. „Aber von ihm haben wir weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke gefunden. Dafür haben wir welche gefunden, die wir niemandem zuordnen konnten. Auch im AFIS (Automatisiertes Fingerabdruck-Identifizierungs-System) waren sie nicht gespeichert, weshalb ein ehemaliger Zellenkumpel von Markus Gronski auch nicht in Frage kommt. Die gleichen Abdrücke fanden wir in Thomas Gerlachs Zweitwohnung – und zwar überall. Hauptsächlich im Schrankinneren. Derjenige, zu dem diese Fingerabdrücke gehören, zeigte nicht den geringsten Versuch, Spuren zu vermeiden.“

„Das ist unser Täter“, stellte Wallbrod sofort fest. „Wir müssen herausfinden, wer Andrea Gerlach geschwängert hat. Vielleicht haben wir damit den Fall gelöst.“

Dr. Hilde Gesser saß an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf den Abschlussbericht ihrer Obduktion zu konzentrieren. Aber das wollte ihr nicht gelingen. Der letzte Anruf machte ihr Sorgen.

Seit wann rief Kriminaloberkommissar Norbert Böker bei ihr an und stellte Fragen, die bei seinem letzten Besuch im Sektionssaal längst beantwortet worden sind?

Hinzu kam die fremde Nummer, die er mit seinem Handy erklärt hatte, weil in seinem Büro alle Telefone besetzt seien.

War es richtig gewesen, ihm die gewünschte Auskunft zu geben? Und was veranlasste Böker dazu, Fragen über den alten Fall Ernst Gerlach zu stellen?

Bisher war Hilde Gesser der junge Kommissar nicht gerade als übereifrig bekannt. Und schon gar nicht als Ermittler, der in der Lage gewesen wäre, Zusammenhänge zu erkennen. Sie spürte eine innere Unruhe, die sie nicht loslassen wollte. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm. Der Obduktionsbericht bestand gerade mal aus der Überschrift. Und den musste sie in wenigen Stunden abgeben. Das konnte ja heiter werden. Schnell begann sie mit ihrem Diktat.

Schon wieder klingelte das Telefon.

Entnervt hob sie ab. Dieses Mal war Britta Ballhaus am Apparat.

„Weiß bei euch die Rechte nicht, was die Linke tut?“, fragte Dr. Gesser unfreundlich.

„Meine Güte. Wie bist du denn drauf?“, kam es erschrocken zurück. Brittas Stimme klang gehetzt.

„Tut mir leid. Ich wundere mich nur, dass mich heute so viele von deiner Abteilung anrufen.“

Britta grummelte etwas, worauf Hilde Gesser drängte: „Also, Kindchen. Was hast du auf dem Herzen?“

„Ich habe gehört, Ernst Gerlach sei damals ertrunken“, begann Britta zu sprechen, wobei sich ihre Stimme merkwürdig anhörte.

Hilde Gesser rieb sich das Ohr. Vielleicht hatte sie einen Hörschaden. „Ja und?“

„Stimmt das?“

„Komisch“, bemerkte Hilde Gesser. „Norbert Böker wollte dasselbe wissen.“

„Hat der nicht nach der Vasektomie an Thomas Gerlach gefragt?“

„Nein. Er wollte wissen, ob Ernst Gerlach damals ertrunken oder an einem Schlag auf den Kopf gestorben ist.“

Brittas stieß die Luft so laut aus, dass die Rechtsmedizinerin fragte: „Was ist los mit dir?“

„Ach nichts. Es ist nur so, dass Urban Wallbrod und Dr. Rousselange so laut im Hintergrund diskutieren.“

„Ach so. Also, deine Frage kann ich leicht beantworten, ich habe die Akte von Ernst Gerlach nämlich vor mir liegen. Ernst Gerlach wurde ertränkt. Wir fanden an seinem Körper Spuren von großer Gewalteinwirkung, wie zum Beispiel gebrochene Rippen, was darauf hindeutet, dass er gewaltsam unter Wasser gedrückt wurde. Außerdem hatte er eine schwere Verletzung am Hinterkopf. Bei der Untersuchung des Burbacher Weihers fand man in Ufernähe große Steine, was wir als Erklärung für diese Kopfwunde genommen haben. Er wurde unter Wasser gedrückt und stieß sich dabei den Kopf. Das erklärt auch, warum so wenig Kampfspuren an der Leiche waren. Ernst Gerlach konnte sich nicht mehr wehren, er wies eine schwere Gehirnblutung auf. Demnach war er bewusstlos, als er ertränkt wurde.“

„Und warum wurde er mit solch einer rohen Gewalt unter Wasser gedrückt?“, fragte Britta. „Wenn er sich nicht mehr wehren konnte.“

„Dazu gibt es nur Vermutungen. Damals hieß es, der Täter wollte einfach nur sichergehen, weshalb er so viel Gewalt angewendet hatte. Heute nennt man das Overkill.“

„Danke Hilde. Du hast mir damit weitergeholfen.“

„Brauchst du eine Kopie des Berichts?“

„Das wäre super. Muss aber nicht jeder mitbekommen, dass ich in dem alten Fall ermittle“, meinte Britta zögerlich.

„Kein Problem. Ich lege die Akte ins Auto und bringe sie dir vorbei, sobald ich in Saarbrücken bin.“

Pietro Pardi hatte Mühe, am Kneipentisch nicht einzuschlafen. Der Schachzug sollte wohl nicht der Beste gewesen sein, Cindy Graf ins Basilisk zu folgen. Sein Stück vom Lyoner hatte vermutlich schon Stunden im Wasser gelegen, weshalb es wässrig war, der Kartoffelsalat schmeckte ranzig und die Gespräche gaben nichts her. Er beschloss, sein Bier auszutrinken und zu verschwinden.

Doch gerade als er aufstehen wollte, stürmte Britta Ballhaus mit hochrotem Gesicht herein. Pardi schaute auf die Uhr: kurz nach Zwölf. Jetzt könnte es doch noch interessant werden. Sofort überlegte er es sich anders, setzte die dunkle Brille wieder auf, zog die Schirmmütze tiefer ins Gesicht und bestellte sich noch ein Bier.

„Wie konntest du so dämlich sein und zu Thomas’ Witwe fahren?“, fragte Britta ohne jede Begrüßung.

„Mach mal langsam“, bremste Cindy. „Ich werde doch wohl noch tun und lassen dürfen, was ich will.“

„Solange die Sache mit diesem Mord nicht ausgestanden ist, darfst du das eben nicht. Durch dich habe ich heute wieder mal die Hölle ausgestanden. Ahnungslos bin ich ins Büro und wer empfängt mich?“

„Urban Wallbrod“, antwortete Cindy. Ihr Gesichtsausdruck sah plötzlich zerknirscht aus. „Das tut mir echt leid. Soweit habe ich nicht gedacht.“ Sie nahm Britta in die Arme und drückte sie an sich. „Ich handele oft ohne zu überlegen.“

Sofort wurde Brittas Tonfall versöhnlicher. „Ich wollte auch nicht so fies zu dir sein. Es ist nur so, dass ich es zurzeit nicht leicht bei der Arbeit habe.“

„Zurzeit?“, hakte Cindy nach. „Willst du mir damit sagen, dass Urban Wallbrod eigentlich ein ganz liebreizender Mensch ist?“

Brittas Antwort war eine Grimasse.

Gemeinsam setzten sie sich auf zwei Barhocker an der Theke.

Was war Pardi doch für ein Glückspilz. Sie saßen ganz in seiner Nähe. Er konnte jedes Wort verstehen. Er schaute tief in sein Glas in der Hoffnung, dass Britta ihn nicht erkannte. Trotz seiner Kopfbedeckung fühlte er sich auffallend – oder vielleicht gerade deswegen. Er war der Einzige hier mit so einem lästigen Ding auf dem Kopf. Und die Sonnenbrille war auch nicht gerade die geschickteste Wahl. Aber jetzt musste es funktionieren.

„Ich habe die Rechtsmedizinerin angerufen“, berichtete Britta gerade. „Sie hat bestätigt, dass der alte Gerlach ertrunken ist.“

Nanu. Pardi staunte. Was war das? Die beiden Frauen interessierten sich für den Mord, der vor zwanzig Jahren passiert war. Also hatte ihn sein Instinkt nicht betrogen. Diese Frauen hatten schon seit zwanzig Jahren etwas zu verbergen.

Er trank an seinem Bier, damit seine Lauschaktion nicht auffallen sollte.

„Sie macht eine Kopie des Berichts für uns. Das darf aber keiner wissen. Sie legt ihn ins Auto und bringt ihn mir vorbei, sobald sie wieder in Saarbrücken ist.“

Das klang interessant. Die Rechtsmedizinerin in geheimer Verschwörung mit der ermittelnden Beamtin. Pardi rieb sich gedanklich die Hände. Die Storys trudelten nur so bei ihm herein. Er würde wieder ganz nach oben kommen mit seinen Berichten.

Pardi spürte es in den Fingerspitzen.

Ein kleiner Blick zur Seite ließ ihm jedoch das Blut in den Adern gefrieren. Da stand ein Mann in der Ecke und starrte ihn an. Pardi erwiderte seinen Blick, doch diese finstere Gestalt zeigte nicht das geringste Anzeichen von Unsicherheit oder Flackern in seinen Augen. Pardi war derjenige, der wegschaute. Dabei suchte er nach den beiden Frauen, die immer noch unbedarft an der Theke saßen und plauderten. So ein Mist, jetzt hatte er nicht alles belauschen können, worüber sie sprachen.

„… Onkel Günni hat er sich genannt“, sprach gerade Cindy.

Wovon sprachen sie jetzt schon wieder?

„Kannst du dich an ihn erinnern?“

Britta brummelte vor sich hin, dann sagte sie: „Nein. Beim besten Willen nicht.“

„Sagt dir der Name Daniela Bartholt was?“, fragte Cindy weiter.

Sofort zückte Pardi seinen Notizblock und schrieb sich den Namen auf. Irgendwo in seinen Hirnwindungen klingelte es bei dem Namen. Aber er kam nicht drauf, wer diese Frau war.

Plötzlich funkte die Stimme des Wirts dazwischen. Böse brüllte er: „Habt ihr vergessen, wo ihr seid?“

„Was ist los, Gerd?“, fragte Cindy erschrocken.

„Ihr redet hier über Polizeifakten und über Namen in aller Öffentlichkeit. Dabei habe ich seit diesem Mord ständig Presseleute in meinem Laden. Nur Fremde. Schaut euch mal um. Ihr solltet lieber nach hinten verschwinden, wenn ihr über so heikle Themen redet. Oder wollt ihr morgen schon wieder in der Zeitung stehen?“

Pardi könnte diesen Wirt erschlagen. Gerade war es so interessant geworden. Nun konnte er nur noch beobachten, wie Britta und Cindy in den hinteren Raum verschwanden. Frustriert bezahlte er seine Rechnung, steckte den Block in seine Manteltasche und verließ das Lokal. Vor der Tür wurde er von heftigem Regen überrascht. Er zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht.

Er spürte ein Rempeln. Erschrocken schaute er sich um und sah den seltsamen Gast aus dem Basilisk neben der Tür. Im Tageslicht erschien ihm dieser Mann noch unheimlicher. Regungslos stand er da und starrte ihn nur an.

„Alles klar?“, rief ihm Pardi entgegen. Keine Antwort.

Verunsichert eilte er zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr davon. Im Rückspiegel konnte er den Mann noch lange sehen. Wie eine Statue stand er da und schaute Pardi nach. Erst als er um die nächste Kurve fuhr, verschwand er aus seinem Sichtfeld. Während der Fahrt tastete er seine Manteltasche ab. Der Notizblock war verschwunden. Er hatte es geahnt. Dieser Mann hatte ihn nicht zufällig angerempelt. Er hatte ihm seinen Notizblock gestohlen. Pardi fühlte sich verunsichert. Immer wieder schaute er in den Rückspiegel. Aber was wollte er dort sehen? Der ominöse Mann hatte vor dem Basilisk gestanden, als er weggefahren war. Er konnte ihm nicht gefolgt sein.

Frustriert steuerte er die Brauerstraße in Saarbrücken-St. Johann an, in der er wohnte. Die Wohngegend war das einzige, was er sich leisten konnte. Dort war es billig, weil niemand freiwillig in diese Ecke zog. Ein Drogenhilfezentrum bestimmte die Straße. Ursprünglich als humanitäres Hilfsprojekt geplant – heute durch die Russen-Mafia in einem kriminellen Sumpf geendet, der regelmäßig Polizei, Krankenwagen oder Leichenwagen auf den Plan rief. Nein, in so einer Gegend wohnte niemand gern. Außer Pietro Pardi – aber nur, weil er von der Anonymität profitierte. Er parkte seine Rostlaube vor der Haustür, die wie immer offenstand. Das war sein größtes Ärgernis, denn die Bewohner hatten im Gegensatz zu ihm nichts zu verlieren. Ihnen war es egal, wer sich in den Hausfluren herumtrieb. Meistens waren es Fixer, die kaum mitbekamen, dass sie noch lebten. Aber Pardi ahnte, dass auch die Russen gelegentlich hier herumschlichen. Das behagte ihm nicht. Er hatte schon den einen oder anderen Artikel über sie geschrieben und konnte sich vorstellen, dass seine Sicht der Dinge bei der Russen-Mafia nicht gerade auf Gegenliebe stieß. Blieb Pardi nur zu hoffen, dass sie keine deutschen Texte lesen konnten.

Er lief hinauf in den vierten Stock. Den Fahrstuhl benutzte er nicht, weil der nicht vertrauenerweckend aussah. Lieber ging Pardi zu Fuß, die einzige körperliche Ertüchtigung am Tag, die er seinem Körper zumuten wollte. Ansonsten zog er es vor, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Oben angekommen schnaufte er in den letzten Zügen. Rasch sperrte er seine Wohnungstür auf und tauchte in sein Reich ein. Vierzig Quadratmeter, die Küche, Wohnzimmer, Bad, Toilette und Schlafzimmer zusammenfassten. Wohnklo könnte er auch dazu sagen. Aber er wollte sich nicht beschweren. Dafür hatte er einen Internetanschluss. Und einen Rechner. Den schaltete er an.

Er hatte den Namen dieses Mädchen noch im Kopf. Dafür brauchte er seinen Notizblock nicht. Nur leider standen dort auch alle anderen Erkenntnisse drauf, die er in den letzten Tagen gewonnen hatte. Hoffentlich konnte dieser merkwürdige Mann nichts damit anfangen. Als der Computer startklar war und der Cursor blinkte, gab Pietro Pardi den Namen Daniela Bartholt ein.

Und was sah er? Er hatte sich nicht getäuscht.

Pardi überkam ein erhebendes Gefühl des Triumphs. Dieses Mädchen hing mit dem alten Fall zusammen.

Tief unter Wasser

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