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Prolog
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Kullmann jagt einen Polizistenmörder
Kullmann-Reihe 2
Originaltitel:
Kullmanns letzter Fall
Kullmann
jagt
einen
Polizistenmörder
Kullmann-Reihe 2
Elke Schwab
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© Elke Schwab, 2019
Covergestaltung: Elke Schwab
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
Der Winter kündigte sich regnerisch an. Wie schon seit Wochen blieb auch heute der Himmel hinter schweren, grauen Wolken versteckt, die das wenige Tageslicht in sich aufsogen. Der Feierabend konnte erst nach Einbruch der Dämmerung beginnen. Wenn man danach etwas zu erledigen hatte oder nach Hause kam, war es schon nächtlich dunkel.
Walter Nimmsgern konnte seine Freude kaum zügeln, weil er schon seit Monaten an dem Fall Luise Spengler gearbeitet hatte. Zäh hatte er seine Idee verfolgt, der Weg zur Lösung lag ihm klar vor Augen, es hatte bisher nur dieses eine Ergebnis gefehlt. Das letzte Mosaiksteinchen, das seine Mühen krönte. Nimmsgern ärgerte sich jedoch darüber, dass ausgerechnet heute Kullmann nicht im Büro gewesen war. Deshalb musste er den Bericht mit nach Hause nehmen. Nur dort war er gut aufgehoben. Er wusste, dass er ausschließlich Kullmann seine Beweise vorlegen durfte, um ihm damit unmissverständlich klar zu machen, wem die Lösung des Falles zu verdanken war. Nimmsgern stellte sich die Szene vor, wie er vor seinem Chef mit diesem letzten Beweisstück auftauchte, nach dem der lange verzweifelt gesucht hatte. Nimmsgern war dessen nervöser Eifer von Anfang an nicht entgangen; er vermutete, dass persönliche Gründe in diesem Fall mitspielten. Was würde sein Chef für Augen machen. Eine kindliche Vorfreude traf Nimmsgern mit der Gewissheit, dass dann endlich gesehen würde, wie erfolgreich er arbeitete.
Auf dem schwach beleuchteten Innenhof stieg er in seinen Wagen und ließ sich in die abgewetzten Polster sinken. Eine fast schmerzhafte Müdigkeit überfiel ihn; die letzten Tage hatten ihn sehr gefordert, er konnte nur mit äußerster Mühe seinen baldigen Triumph hinter einer freundlichen Fassade verbergen. Jetzt erst mal richtig ausschlafen…
Seinen Wagen steuerte er bedächtig auf den Heimweg. Verstohlen erlaubte er sich einen gelegentlichen Blick auf den Beifahrersitz, auf dem der graue Umschlag lag. Er kannte das Verbot, dienstliche Dokumente aus der Dienststelle zu entfernen. Aber er vertraute nicht mehr auf die Sicherheit der amtlichen Schreibtischschlösser. Eine bittere Erfahrung hatte sogar Kullmann vor einiger Zeit machen müssen, aus dessen Schreibtisch in einer Nacht- und Nebelaktion die wichtigsten Unterlagen kurz vor dem Abschluss eines Falls gestohlen worden waren. Außerdem saß Hübner in den Startlöchern, um sich für den ersten Platz der anstehenden Beförderung zu empfehlen. Hübner war so karrieregeil, dass er das entscheidende Ergebnis bestimmt als seinen Verdienst darstellen würde. Er hatte keinerlei Skrupel, sich auf den Lorbeeren anderer auszuruhen. Auch seinem Teamkollegen Horst Esche traute er nicht über den Weg, wenn es ans Eingemachte ging. Er riss ähnlich wie Hübner alles an sich, weil er immer im Mittelpunkt stehen musste. Nimmsgern verachtete diese eitlen und rücksichtslosen Selbstdarsteller, die den Namen Kollegen nicht verdient hatten. Heute fühlte er sich endlich sicher, dass nur er die Beförderung verdient hatte. Jetzt hatte er die große Chance. Mit dem Ergebnis der Fingerabdrücke wollte er allein die Ernte einfahren. Mit dieser Trumpfkarte musste Kullmann ihm die Türen für seine Beförderung öffnen. Dann wäre er nicht mehr fünftes Rad am Wagen, niemand würde ihn mehr unterschätzen. Und der aufkommende Neid seiner abgehängten Konkurrenten wäre ihm Beweis für seine Tüchtigkeit und seinen Triumph.
Nach den letzten Häusern mündete der Rotenbühler Weg in eine asphaltierte Straße, die durch ein Waldstück führte, das er wie seine Westentasche kannte. Diese Strecke war für den Durchgangsverkehr nicht erlaubt. Aber Nimmsgern kannte den Förster des Stadtwaldes am Schwarzenberg und hatte sich mit ihm geeinigt, weil er auf die Abkürzung zu seinem Wohnhaus in Dudweiler nicht gerne verzichten wollte. Als er dort einbog, begann sein Auto plötzlich zu stottern. Tuckernd fuhr er noch einige Meter, bis der Motor völlig erstarb und das Auto liegen blieb. Verärgert versuchte er, neu zu starten, aber der Motor wollte nicht mehr anspringen. Nimmsgern schaute sich um und musste widerstrebend feststellen, dass alles stockdunkel um ihn herum war. Er befand sich ganz tief im Wald – weit und breit keine Zivilisation.
Nach einigem Zögern steckte er seine SigSauer 9mm in die Jackentasche, man konnte ja nie wissen. Den Bericht der Spurensicherung steckte er in die andere Tasche. Er stieg aus und schob seinen Wagen an den Seitenrand.
Es war so dunkel, dass er die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Langsam setzte er sich in Bewegung, wobei er auf seine Schritte achten musste, denn der Straßenrand war schadhaft und unbefestigt. Manchmal geriet er mit seiner Leibesfülle ins Stolpern, konnte sich aber fangen.
Vielleicht gehörte diese letzte Anstrengung mit zu diesem Tag, als Spiegel seiner vergangenen Mühen, die er ganz alleine und gegen die schwierigsten Hindernisse bewältigt hatte. Er glaubte das Knistern des Papiers zu hören, das unter seiner Jacke gut verwahrt war. Das ermunterte ihn, gegen seine Müdigkeit anzugehen, diese dümmliche Panne zu meistern. Das Papier war das Sprungbrett für seinen bevorstehenden Erfolg.
Plötzlich hörte er ein Knacken hinter sich. Erschrocken drehte sich Nimmsgern um, konnte aber nichts erkennen.
»Ist da jemand?«, rief er.
Statt einer Antwort hörte er wieder das Knacken von Ästen. Rehe konnten das keine sein. Das Knacken war so laut, dass es ein schwerer Körper sein musste, der auf die Äste trat. Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn er hier mitten im Dunklen verharrte, gäbe er ein leichtes Opfer ab. Durch diese Erkenntnis angespornt, beeilte Nimmsgern sich, dort wegzukommen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, dass ihm sein Übergewicht zum Nachteil werden konnte. Es ging verdammt schnell, schon bekam er keine Luft mehr. Aber er wollte sein Tempo nicht verringern. Seine Beine packten ihn nicht mehr und er begann ständig zu stolpern. Sein Kopf dröhnte, trotzdem hörte er in aller Deutlichkeit, dass das Knacken der Äste ihm im gleichen Abstand folgte. Sein Verfolger hatte mit ihm ein leichtes Spiel.
Endlich gelangte er an eine Lichtung. Der Mond kam hinter den Wolken hervor. Nimmsgern konnte etwas sehen. Er zog seine SigSauer aus der Jackentasche, hielt sie mit beiden Händen fest, nach Vorschrift ganz dicht am Körper, jederzeit zum Einsatz bereit. Hastig drehte er sich um und zielte. Aber das Einzige, was er sah, war ein Schatten, der in einem Dickicht verschwand.
»Polizei! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße.«
Hinter dem Dickicht bewegte sich nichts mehr. So verzweifelt Nimmsgern auch versuchte, dort etwas zu erkennen, fand er nichts. Angestrengt starrte er weiter in die Richtung, wo er den Schatten gesehen hatte. Vergebens. Nichts zu hören, nichts zu erkennen. Sein Kopf bewegte sich ruckartig hin und her, um das Blickfeld zu weiten. Seine Augen blieben endlich an einem dicken Baumstamm hängen. Bewegte der sich nicht, wölbte der sich nicht zur Seite, mal links, mal rechts? Der Stamm schien sich schattenhaft zu verformen.
»Legen Sie die Hände hinter den Kopf und kommen Sie langsam hinter dem Baum hervor.«
Nichts bewirkte diese Aufforderung. Nimmsgern wollte soeben seinen Befehl wiederholen, da löste sich der Schatten von dem Baumstamm und verschwand in ein tiefschwarzes Dickicht. Nimmsgern konnte unmöglich von seiner Waffe Gebrauch machen. Niemand bedrängte ihn unmittelbar, dass er sich auf Notwehr berufen könnte. Er jagte möglicherweise einem Phantom hinterher.
Als wenn sein unsichtbarer Gegner seine Gedanken lesen könnte, vernahm Nimmsgern von weitem ein leises Kichern.
Gänsehaut kroch ihm über den Nacken. Mit wem hatte er es zu tun? Die Liste seiner Verwandten und Bekannten raste blitzschnell an ihm vorbei. Gab es einen Streit, der Rache forderte, ein Kriegsbeil, das ausgegraben werden musste? Niemand fiel ihm ein, der ihm Böses antun wollte. Und diejenigen, die nicht sehr glücklich über seine Ergebnisse sein würden, konnten unmöglich Wind von seinen Recherchen bekommen haben. Bald würde eine Bombe einschlagen. Dann würden die Karten neu gemischt. Er würde sich ein unvergessliches Denkmal setzen können. Also, wer blieb da noch?
Sabotage, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das war doch unmöglich. Wie hätte jemand sein Auto so manipulieren können, dass es ausgerechnet an dieser Stelle stehen blieb?
Angestrengt versuchte Nimmsgern eine Bewegung hinter der Dornenhecke auszumachen, aber wieder nichts. Sein Verfolger trieb ein makaberes Spiel mit ihm und war ihm haushoch überlegen.
Plötzlich erblickte er eine Gestalt, die sich blitzschnell in Bewegung setzte. Ein mühsam herausgepresstes »Halt! Stehen bleiben!«, konnte den anderen nicht aufhalten. Er holzte durch das Gestrüpp, wobei er gelegentlich tierische Schreie ausstieß. Nimmsgern wagte kaum, zu atmen. Staunend lauschte er dem Treiben hinterher, bis es abebbte. Die alte Stille umfing ihn wieder wie eine klamme Rüstung. Sollte das das Ende des Spuks sein? Erleichterung überkam ihn. Er sog tiefer die kalte Luft ein, wie um verlorene Kraft aufzutanken.
Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort. Erleichtert steckte er seine Waffe in seine Jackentasche zurück.
Aber es dauerte nicht lange, da tauchte im Schein einer Straßenlaterne ein Mann vor ihm auf. Nimmsgern zuckte zusammen, weil er sich schon in Sicherheit geglaubt hatte. Als er das Lachen des Mannes hörte, erkannte er ihn. Wütend über die Frechheit dieses Kerls, ihn in der Stunde größter Lebensgefahr auch noch auszulachen, schimpfte er: »Was tust du hier? Willst du dich an meinen Angstzuständen weiden?«
Sein Gegenüber lachte einfach weiter.
»Um mir zu helfen, bist du doch bestimmt nicht hier.«
Der andere lachte leise weiter, kaum hörbar, trat ohne Hast auf ihn zu und tat etwas völlig Unvorhergesehenes. Plötzlich, ohne dass Nimmsgern verstand, wie das überhaupt möglich war, schaute er in den Lauf seiner eigenen Waffe.