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Kapitel 2

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Am nächsten Morgen kam Anke zum ersten Mal zu spät zur Arbeit. Die Schmerzen im Genick und in der Schulter hatten sie fast die ganze Nacht wach gehalten. Außerdem spürte sie einen äußerst ungewohnten und quälenden Schmerz in ihrer Brustmuskulatur. Eine Erinnerung an die kurzzeitige Verkrampfung, als sie um Luft ringen musste. Erst am Morgen war sie eingeschlafen, aber nach zwei Stunden hatte gnadenlos der Wecker gerappelt. Der Schmerz war so schlimm, dass sie alle Mühe hatte, aus dem Bett aufzustehen. Völlig übernächtigt fühlte sie sich, als sie durch den langen Flur in ihr Büro schlurfte. Sogar Beine und Gesäß schmerzten bei jedem Schritt. Dabei hatte sie doch tatsächlich gedacht, dass diese Phase endlich vorüber sei, als sie nach jeder Reitstunde sämtliche Muskeln spürte, von deren Existenz sie früher niemals auch nur das Geringste geahnt hatte.

Hübner hatte ihre schlechte Verfassung sofort bemerkt und eilte ihr mit höhnischen Kommentaren hinterher. Anke wunderte sich über sein Verhalten. Inzwischen waren sie seit zwei Jahren getrennt. Ihre Beziehung war nur noch freundschaftlicher und kollegialer Natur, trotz Hübners steter Hoffnung, sie würden wieder ein Paar. Aber mit diesen abfälligen Bemerkungen über ihre Schmerzen nach dem Sturz vom Pferd verbaute er sich jede noch so kleine Chance. Dessen müsste er sich doch bewusst sein.

Anke hinderte ihn daran, in ihren Dienstraum einzutreten, indem sie ihm heftig die Tür vor der Nase zuschlug. Sie hatte keine Lust, mit ihm zu reden, wenn er in dieser Stimmung war. Als erstes kochte sie Kaffee, worauf Kullmann mit Sicherheit schon sehnsüchtig wartete. Während die schwarze Brühe knatternd durch den Filter lief, überlegte sie, welchen schmerzenden Körperteil sie zuerst massieren sollte. Aber sie entschloss stattdessen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, weil nur dann der Schmerz nachließ.

Mit einer Tasse Kaffee in der zitternden Hand betrat sie nach einer Weile Kullmanns Büro.

Als Kullmann aufsah, wollte er lächeln, aber als er Anke sah, fragte er erschrocken: »Was ist passiert?«

»Ich bin gestern vom Pferd gefallen«, erklärte Anke abwinkend, womit sie Kullmann zum Lachen bringen konnte.

»Sie kennen meine Überzeugung: Sport ist Mord.« Kullmann wirkte erleichtert. »Ich bin ja froh, dass Sie sich nicht verletzt haben. Schließlich sind Sie hier der Sonnenschein in diesen grauen Büroräumen. Was wäre ich nur ohne Sie?«

»Sie sind gut«, tadelte Anke gespielt und ließ sich umständlich auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch sinken, »Sie verlassen uns in einem halben Jahr. Und was bin ich dann ohne Sie?«

»Ich gehe in Pension, das heißt aber nicht, dass ich nicht mehr da sein werde«, versicherte Kullmann.

»Ja, das weiß ich, trotzdem werden Sie mir sehr fehlen«, bekannte Anke.

»Zuerst müssen wir den Fall Luise Spengler zum Abschluss bringen. Vorher werde ich nicht zur Ruhe kommen.«

Nachdenklich verließ Anke das Zimmer und begab sich an ihren Platz. Sie konnte Kullmanns Sorgen gut verstehen, da sie selbst am besten wusste, wie schwer es war, im Fall Spengler weiterzukommen. Diese zähe Arbeit vermischte sich mit ihren Zweifeln, warum Kullmann so verbissen an seiner Überzeugung festhielt, dass Luise Spengler ermordet worden war. Diese Beharrlichkeit gab ihr das unbestimmte Gefühl, dass für ihren Chef mehr dahinter steckte als nur ein Fall, der bearbeitet werden musste. Aber mit dieser Vermutung hielt sie sich bedeckt, weil sie befürchtete, Kullmann damit zu verärgern.

Zunächst machte sie sich an die Arbeit, die auf ihrem Schreibtisch lag. Der Berg Akten wartete ohnehin schon lange darauf, von ihr bearbeitet zu werden. Wann war die Zeit günstiger als gerade jetzt. Ihre Verfassung fesselte sie regelrecht an den Stuhl, und deshalb wollte sie die Gelegenheit nutzen.

»Na, du flottes Reitermäuschen«, betrat Esche ihr Büro und schenkte sich ohne zu fragen Kaffee ein.

»Spar dir deine blöden Kommentare«, konterte Anke böse.

Heute trug Esche einen Anzug, dessen Marke Anke nicht kannte, weil sie sich bei den Edelklamotten nicht so gut auskannte. Tadellos erschien sein Aussehen. Er sparte nicht an protzigen Zutaten, trug auch heute wieder seine Goldkette, die Anke trotz ihres offensichtlichen Wertes nicht gefiel. Er sah aus wie ein Zuhälter. Und wenn sie gleichzeitig Esches Verhalten beobachtete, empfand sie diesen Vergleich gar nicht mal so unmöglich. Dieses modische Gehabe hatte er am Anfang seiner Dienstzeit noch nicht gezeigt, das wusste Anke genau. Erst in der letzten Zeit legte er immer mehr Wert auf seine äußere Erscheinung, wobei es schon verwunderlich war, wie er sich diesen Designerkram leisten konnte. Wenn er jedoch glaubte, damit seine Chancen bei ihr aufzubessern, dann täuschte er sich. Trotz seines guten Aussehens blieb sein Auftreten unverändert vulgär. Sie war seine geschmacklosen Annäherungsversuche leid, ja sie fürchtete sich davor. Wenn er nur im gleichen Raum war wie sie, spürte sie, wie sie sich verkrampfte und sich am liebsten unsichtbar machen würde, weil sie von ihm nicht gesehen werden wollte. Er hatte einen Blick, als könnte er durch ihre Kleider hindurch sehen – in seiner Gegenwart fühlte sie sich ständig nackt.

»Gibt es Neues in Sachen Luise Spengler?«, fragte Esche wie so oft, und Anke verneinte wie so oft.

Seit Nimmsgerns Tod arbeitete Esche auf eigenen Wunsch mit Hübner zusammen an dem Fall des ermordeten Kollegen. Sein Interesse an ihren Fortschritten im Fall Spengler erstaunte sie daher, weil er nicht zu seiner Arbeit gehörte. Sie hegte den Verdacht, er wollte kontrollieren, dass sie nicht mehr erreichte als er. Schließlich ging es um eine Beförderung, und da lagen alle auf der Lauer. Leider ließen ausgerechnet jetzt die Ergebnisse auf sich warten.

Bevor Esche das Büro verließ, meinte er noch: »Du wirkst angeschlagen. Bist du vom Pferd gefallen?«

Über diese Frage ärgerte Anke sich, weil die Ironie nicht zu überhören war. Warum bereitete es den Kollegen so große Freude, wenn sie Schmerzen hatte?

»Die einen fallen vielleicht vom Pferd, andere fallen nur blöd auf. Verschwinde jetzt! Ich muss meine Arbeit machen.«

Darüber konnte Esche nur lachen. Belustigt fügte er an: »Deine Entscheidung für den Reitsport war wirklich eine glänzende Idee. Seitdem musst du Probleme lösen, die du vorher nicht hattest.«

Wutschnaubend warf Anke eine Akte nach ihm, doch er hatte die Tür schnell genug zugeschlagen, so dass der Papierstapel dagegen prallte.

*

Nach Feierabend beschloss Anke kurzerhand, in den Stall zu fahren. Sie hoffte, Robert wieder zu sehen. Seit sie den gutaussehenden Mann kennengelernt hatte, wollte er nicht mehr aus ihrem Kopf. Schon lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gekannt, das Kribbeln im Bauch, als seien dort tausend Schmetterlinge zum Leben erwacht.

Als sie auf den Stall zuging, hörte sie Stimmen. Mit jedem Schritt, den sie näher an das Gebäude herantrat, wurden die Stimmen lauter. Neugierig schlich Anke sich die letzten Meter heran, damit sie etwas verstehen konnte.

»Ich weiß zufällig, wie es in Altenheimen zugeht. Du brauchst nicht zu glauben, du könntest mich für dumm verkaufen. Die Alte hat dir das Erbe versprochen und ein paar Tage später ist sie tot. Das ist kein Zufall, und ich werde dir das beweisen«, schrie gerade Peter Biehler. Unüberhörbarer Hass schwang in seiner Stimme mit, der Anke frösteln ließ.

»Ich weiß nicht, was dich das angeht, aber wenn du dir die Finger verbrennen willst, bitte schön.« Anke erschrak, denn die andere Stimme gehörte eindeutig zu Robert.

»Wer sich hier die Finger verbrennt, werden wir ja noch sehen«, konterte Biehler.

»Weißt du, was mir an der Sache am meisten Spaß macht: Du kommst um vor Neid. Dir ist dein Geld schon lange hoch zu Kopfe gestiegen. Noch nie in deinem Leben hast du einen Gedanken daran verschwenden müssen, wie wichtig es ist, die eigene Existenz zu sichern, weil dir alles in den Schoß gefallen ist«, ließ Robert sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Mein Geld steht mir zu, das geht dich nichts an«, stellte Biehler klar.

»Du bist vom Geld so verdorben, dass du unfähig bist, anderen etwas zu gönnen«, überging Robert einfach Biehlers Kommentar.

»Ich werde dafür sorgen, dass jeder erfährt, wie du zu deinem Geld gekommen bist – nämlich über den Tod deiner Tante«, wurde Biehler immer lauter.

»Wie denn? Du bist Verkehrspolizist und hast gar keine Befugnisse, außerhalb deiner verantwortlichen Zuständigkeit zu recherchieren, wo es nichts zu recherchieren gibt.«

Anke sah, wie die beiden mit verzerrten Gesichtern sich dicht gegenüberstanden. Bei dieser Szene fiel ihr wieder ein, wie gehässig und öffentlich Peter ihn am Vortag noch »Erbschleicher« genannt hatte. Nun begann sie zu verstehen, was er damit gemeint hatte. Aber warum wollte er das Erbe anfechten? War es nur Neid oder steckte mehr dahinter?

Nachdenklich verließ Anke diese Ecke der Stallgasse wieder, wo sie fast von Peters Frau Sybille, die einen großen Fuchswallach neben sich herführte, überrannt wurde.

»Kannst du dich nicht ankündigen, bevor du die Leute umrennst?«, schimpfte Anke, doch Sybille würdigte sie nicht eines Blickes.

Kopfschüttelnd ging Anke hinaus in den sonnigen Hof.

»Anke, wie schön, dich heute hier zu sehen«, kam Robert auf sie zu. Mit seinen himmelblauen Augen strahlte er sie an, dass Anke sofort ihre Zweifel in weite Ferne schob. Welch eine Ausstrahlung er doch hatte, staunte sie. Er trug Reithosen, die seine sportliche Figur betonten, und ein blaues Hemd, das sein ebenmäßiges Gesicht noch freundlicher wirken ließ. Er weiß sich zu kleiden, dachte Anke und kam sich neben ihm so gewöhnlich vor. Wie immer trug sie eine verwaschene Jeans und ein weites T-Shirt. Vielleicht sollte sie an ihrer Garderobe etwas ändern.

Biehler kam mit seinem Fuchswallach aus dem Stall, von dem Anke vor wenigen Minuten fast umgerannt worden wäre. Er stieg auf das große Pferd auf und ritt auf den Außenplatz, der voller Hindernisse stand.

»Ich gestehe dir, dass ich eben etwas von eurem Gespräch mitbekommen habe«, meinte Anke, während sie nach draußen blickte.

»Das möchte ich dir erklären.«

Verwundert über die Ernsthaftigkeit, mit der Robert plötzlich sprach, schaute Anke ihn an.

»Es ist ganz einfach: ich habe viel Geld von meiner Tante Katharina geerbt. Sie war Patientin in dem Altenheim, in dem ich als Altenpfleger arbeite. Sie hat keine Familie. Was spricht also dagegen, dass sie ihren einzigen Neffen beerbt?«

»Nichts. Nur was stört Peter Biehler daran? Hat er auch einen Anspruch auf das Geld?«

»Nein, er hat von einer früheren Freundin den Floh ins Ohr gesetzt bekommen, dass es kein Zufall ist, dass die Tante wenige Tage, nachdem sie das Testament aufgesetzt hatte, gestorben ist.«

»Biehler meint also, du hättest nachgeholfen?«, staunte Anke über die grausame Bedeutung dieser Unterstellung.

Robert nickte.

»Wie kann diese frühere Freundin so etwas behaupten? Arbeitet sie auch in dem Altenheim?«

»Nein, ich kenne diese Frau nicht. Angeblich hatte sie einen Verwandten in unserem Altenheim, der dort ebenfalls plötzlich verstorben ist. Das Problem ist, dass alte Menschen sterben, nur wollen die Angehörigen das nicht einsehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in unserem Haus Sterbehilfe geleistet wird.«

»In letzter Zeit sind in Deutschland einige Fälle von Sterbehilfe in Altenheimen aufgedeckt worden. Da wird die Polizei gleich hellhörig, wenn ein älterer Patient unter verdächtigen Umständen stirbt. Kein normal denkender Altenpfleger würde dieses Risiko eingehen«, stimmte Anke zu.

Als sie sich dem Reitplatz näherten, hörten sie ein lautes Streitgespräch zwischen Peter Biehler und Nadja Basten. Gemeinsam mit einem anderen Reiter war Nadja damit beschäftigt, die Hindernisse zu einem Parcours umzubauen, der in der Springstunde trainiert werden sollte. Sie warf die Stangen eines Oxers auf den Boden und stellte die Ständer an einen anderen Platz, als Biehler sie laut anschrie: »Stell das Hindernis gefälligst wieder so hin, wie es gestanden hat. Was meinst du, warum ich mir das so aufbaue?«

Ein kleiner braun-weiß gescheckter Hund sprang immer zwischen Nadja und Biehler hin und her und bellte den Reiter unentwegt an.

Nadja schaute Biehler böse an und giftete zurück: »Jeder hier weiß, dass heute Springstunde ist, und jeder weiß, dass man dafür einen Parcours aufbauen muss. Nur du nicht. Wenn du springen willst, dann mach das an einem anderen Tag.«

Aber Biehler wollte nicht nachgeben. Unwirsch blaffte er zurück: »Dann bau doch wenigstens etwas auf, das man springen kann, und wirf nicht alles durcheinander.«

Immer noch bellte der kleine Hund dazwischen, dass Anke Mühe hatte, alles zu verstehen.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich hier Hindernisse aufbaue, während du ohne Rücksicht darüber springst.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie Biehler außer sich.

Aber für Nadja war das Thema erledigt. Gerade zum Trotz ließ sie alle Stangen kreuz und quer auf dem Boden liegen, damit Biehler gar keine Möglichkeit zum Springen bekam. Ihm blieb nichts anderes übrig, als um den Stangensalat herumzureiten. Nur der kleine Hund hatte eine Riesenfreude an dem Wirrwarr. Munter sprang er von allen Seiten darüber und freute sich über das Lob, das er von Nadja dafür bekam.

Nadja wollte gerade den Reitplatz verlassen, als Biehler ganz dicht an ihr vorbei ritt, sodass sie schon befürchtete, er wollte sie umreiten.

»Du wirst mich noch kennen lernen, Fräuleinchen«, rief er ihr drohend zu.

»Wenn du mich umreitest, dann ist aber was los hier«, konterte Nadja nicht minder böse.

»Halt bloß die Schnauze!«, schrie Biehler ungehalten. »Wenn hier was los ist, wirst du das schon merken.«

»Ich lass mir von dir nicht sagen, dass ich die Schnauze halten soll.«

Mit diesen Worten verließ Nadja den Platz.

Anke hatte genug gesehen und verließ den Reitstall.

*

Es wurde ein Tag, wie er schöner nicht sein konnte. Die Vögel zwitscherten zum Tagesanbruch so laut, dass Anke davon geweckt wurde. Froh gelaunt stand sie auf und stellte mit Entzücken fest, dass ihr Muskelkater und die Prellungen im Schulterbereich und im Genick fast überhaupt nicht mehr schmerzten. Beschwingt hüpfte sie von ihrem Schlafzimmer in die Küche und frühstückte am offenen Fenster, das zur Quienstraße zeigte, um diesem herrlichen Frühlingstag ganz nahe zu sein.

Alles war ruhig zu dieser frühen Stunde. Aber Anke wollte nicht länger schlafen, weil sie Angst hatte, zu viel von diesem schönen Tag zu verpassen. Als Robert in seinen Luxusgeländewagen vorfuhr, wartete sie schon ganz ungeduldig, weil sie es kaum noch erwarten konnte, mit ihm zum Turnier zu fahren.

Die Reitanlage lag mitten im Stadtteil St. Arnual so versteckt, dass man von der Straße aus gar nicht erkennen konnte, was sich wirklich hinter diesen Mauern verbarg. Leider war der Platz für die Pferde eng bemessen. Drei Außenplätze waren um den Stall herum angelegt, auf denen mit den Pferden gearbeitet werden konnte, aber Koppeln fehlten. Außerdem gab es keine Möglichkeit, von diesem Stall aus in den Wald zu reiten, weil der Weg durch den verkehrsreichen Stadtteil St. Arnual führte. Anke stellte fest, dass der Reitstall in Gersweiler günstiger lag. Von dort gelangte man problemlos in den Wald am Schanzenberg, ohne eine Hauptstraße überqueren zu müssen.

Schon in der Frühe herrschte viel Betrieb auf den verschiedenen Reitplätzen. Turnierreiter in ihren vorgeschriebenen Reitkleidern aus schwarzer Turnierjacke, weißer Reithose, weißem Hemd oder weißer Bluse, schwarzem Helm und schwarzen Stiefeln, bereiteten auf einem kleinen Reitplatz ihre Pferde für das bevorstehende Springen vor. Andere fuhren mit ihren Pferdehängern vor und begannen auszuladen, während die Richter über die Sprechanlagen ihre nächsten Prüfungen ankündigten und die Reiter nach einer bestimmten Reihenfolge aufriefen.

Gemeinsam begaben sich Robert und Anke an eine Kaffeetheke, die direkt neben dem Parcours aufgebaut worden war, und bestellten sich Kaffee und Kuchen. Interessiert schauten sie den Springreitern zu, die sich bemühten, die Hindernisse fehlerfrei zu springen. Direkt neben dem Eingang, der vom Abreitplatz zum Parcours führte, befand sich eine mannshohe Hecke, an der sich die Leute aufhielten, die als Parcoursdienst tätig waren.

»Das ist ein Springen der A-Klasse«, erklärte Robert, »das bedeutet, dass die Hindernisse eine Höhe von einem Meter bis einem Meter zehn haben. Die Klassen der jeweiligen Springen sind nach der Höhe der Hindernisse eingestuft und die Reihenfolge ist E, dann kommt A, dann L, dann M und zum Schluss S.«

»Dann heißt A-Springen, dass der Reiter noch ziemlich am Anfang steht?«, überlegte Anke, obwohl sie die Höhe der Hindernisse schon als schwindelerregend empfand.

»Gut, aber die meisten Reiter, die Amateurreiter, die das Reiten als Hobby betreiben, reiten in den A- und L-Klassen. In den M- und S-Klassen findet man schon viele Berufsreiter, die auch entsprechende Pferde dafür haben.«

Kaum hatte Robert ausgesprochen, kam ein auffällig großer Truck vorgefahren, auf dem unübersehbar mit Leuchtbuchstaben »Peter Biehler – Turnierpferde« geschrieben stand.

Anke staunte nicht schlecht, als sie das sah. Robert lachte: »Mit seinem Material überbietet er wirklich alle hier, weil er einfach Geld hat. Aber sogar im Reitsport ist Geld nicht alles, wie Biehler bisher bestens bewiesen hat.«

Sie beobachteten, wie seine Frau Sybille und das Mädchen, das immer bei ihnen war, die beiden Pferde ausluden und sattelten. Peter Biehler ging, ohne zu helfen, zum Abreitplatz und wartete. Es dauerte nicht lange, da kam das Mädchen mit dem Schimmel, der in der Reihenfolge zuerst starten sollte. Wortlos schwang er sich auf den Rücken des Pferdes, seine Frau ritt den Fuchswallach. Beide Pferde wirkten völlig unbeeindruckt von dem Turniergeschehen, was bedeutete, dass sie es bestens kannten. Das Mädchen wurde damit beauftragt, die Stangen auf dem Abreitplatz in die von Biehler gewünschte Höhe zu bringen, damit er mit dem Aufwärmtraining beginnen konnte.

»Wer ist dieses Mädchen?«, fragte Anke, die beobachtet hatte, dass das Mädchen immer in Biehlers Nähe war. »Mir ist nämlich nicht bekannt, dass Peter Biehler eine Tochter hat.«

»Das Mädchen arbeitet für ihn, sie macht alle Arbeiten, die im Reitsport anfallen, damit er sich nicht selbst darum kümmern muss. Als er in unseren Stall kam, hat er sie mitgebracht«, erklärte Robert.

Es dauerte nicht lange, da wurde Peter Biehler aufgerufen.

Als die Klingel ertönte, das Zeichen dafür, dass der Parcours für den Start frei war, machte Biehler jedoch etwas völlig Unerwartetes. Anstatt auf die Richterbank zuzureiten und zu grüßen, galoppierte er in vollem Tempo los, allerdings in die falsche Richtung. Der Schimmel rannte wie von einer Tarantel gestochen um die grüne Hecke herum, wo auch die Leute des Parcoursdienstes standen. Vor Schreck sprangen die überraschten Helfer in die Hecke hinein, weil das Pferd immer schneller das Gebüsch umkreiste. Biehler saß völlig hilflos auf dem großen Pferd und versuchte mit allen Mitteln, durchzuparieren, aber vergebens. Der Schimmel rannte unbeirrbar weiter.

»Herr Biehler, hier ist die Richterbank«, ertönte eine leicht amüsierte Stimme durchs Mikrofon.

Der Schimmel blieb unbeeindruckt und setzte seine Runden um die Hecke weiterhin fort. Alle Bemühungen von Biehler, das Pferd unter Kontrolle zu bringen, scheiterten, bis eine zweite Klingel ertönte.

»Herr Biehler, dieser Busch gehört nicht zum Parcours. Oder wollen Sie unter die Buschreiter gehen?«, ertönte die vor Ironie triefende Stimme durchs Mikrofon.

Die Zuschauer lachten.

Verwirrt fragte Anke: »Was ist ein Buschreiter?«

»Vielseitigkeitsreiter nennt man auch Buschreiter. Eine Vielseitigkeitsprüfung besteht aus einer Dressurprüfung, einer Geländespringprüfung, wo es nur feststehende Naturhindernisse gibt, und aus einer Springprüfung im Parcours«, erklärte Robert.

Wieder verging eine Weile, bis die Stimme durchs Mikrofon sich erneut meldete: »Herr Biehler, Ihre Zeit ist um. Gerne hätte ich Ihnen noch ein Weilchen zugesehen, aber Sie sind ausgeschieden.«

Lautes Gelächter ertönte aus den Zuschauerreihen. Auch Anke konnte sich nicht mehr halten vor Lachen und meinte zu Robert, der ebenfalls sehr belustigt wirkte: »Ich würde mich an Biehlers Stelle in Grund und Boden schämen.«

Aber Robert winkte nur ab und meinte: »Das lässt ihn eiskalt.«

Trotz des Richterspruchs und durch das Gelächter der Zuschauer umrundete Biehler weiterhin die Hecke, bis er in seiner Hilflosigkeit sich einfach vom Pferd fallen ließ und sich an den Zügeln festhielt. Damit brachte er das Pferd tatsächlich zum Stillstand. Um dem Hohn noch die Krone aufzusetzen, erhielt er für seine Zirkusnummer einen jubelnden Applaus der Zuschauer.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht führte er den Schimmel zu Sybille und ließ sich von ihr die Schulter reiben. Anke und Robert begaben sich in ihre Nähe, weil sie neugierig waren, was er zu sagen hatte. Während Sybille ihm die Schulter massierte, meinte er zu den anderen Reitern, die ihn fragend musterten: »Ich habe mir beim Einreiten in den Parcours die Schulter ausgerenkt. Deshalb konnte ich das Pferd einfach nicht mehr durchparieren.«

Sybille bedauerte ihn tüchtig, während er seine Geschichte erzählte, wodurch er sich noch mehr bestätigt fühlte. Als die anderen Reiter sich wieder entfernten, stieß er seine Frau weg und meinte in einem sehr unfreundlichen Ton: »Es reicht jetzt. Stell das Pferd weg!«

Amüsiert über das abwechslungsreiche Programm, zu dem Biehler erheblich beigetragen hatte, spazierten Anke und Robert über den Turnierplatz, der sich mit Besuchern und Reitern füllte. Anke blickte sich um, aber sie kannte niemanden, während Robert ständig von Bekannten angesprochen wurde. Sie ritt erst seit wenigen Monaten, überlegte sie sich, da war es nur verständlich, dass sie noch fremd war in dieser Gesellschaft. Aber das wollte sie ändern. Sie wollte sich Freunde suchen, mit denen sie ihre Interessen teilen konnte. Sie war es leid, ihr Leben nur aus Arbeit bestehen zu lassen. Kullmann hatte völlig Recht, als ihr immer wieder geraten hatte, sie solle auch lernen, ihr Privatleben zu genießen; schließlich sei man nur einmal jung. Nun wollte sie damit beginnen. Mit Robert würde ihr dieser Start gut gelingen.

Sie war in diesen Gedanken versunken, als ein Sanitäter auf Robert zukam: »Guten Tag, Herr Spengler. Was treibt Sie denn auf ein Reitturnier?«

Schlagartig wurde Anke ganz heiß zumute. Spengler! Mein Gott, dieser Name. Wie konnte das möglich sein? Gab es wirklich solche Zufälle, dass Robert mit Luise Spengler etwas zu tun hatte? Verzweifelt grübelte sie, ob der Name Robert Spengler in den Akten aufgetaucht war. Tatsächlich. Sie konnte sich erinnern, dass Luise einen Sohn hatte, der Robert Spengler hieß.

Als Robert sich zu ihr umdrehte, erschrak er.

»Mein Gott, Anke. Was ist passiert? Du siehst ja aus, als sei dir der Leibhaftige begegnet.«

Tröstend wollte er sie in den Arm nehmen, aber Anke wich geschickt aus und fragte: »Kann es wirklich sein, dass du Robert Spengler bist? Der Sohn von Kurt und Luise Spengler?«

Verblüfft schaute Robert Anke an und meinte: »Ja. Was ist daran so verwerflich?«

Nun musste Anke sich setzen. Die Welt war klein, gestand sie sich ein. Endlich lernte sie einen Mann kennen, der ihr gut gefiel und ihr Leben wieder in Schwung bringen könnte. Da musste es ausgerechnet jemand sein, der in einen Fall verwickelt war, an dem sie arbeitete. Im Grunde genommen müsste sie entweder den Fall abgeben oder den Kontakt zu Robert abbrechen. Aber sie wollte weder das eine noch das andere. Den Fall abzugeben, würde für sie bedeuten, Kullmann in seiner misslichen Lage im Stich zu lassen; und Robert aufzugeben sprach gegen ihre Gefühle.

»Anke, ich habe dich etwas gefragt«, drängte Robert nun.

Anke zögerte lange; sie zog Robert etwas auf die Seite: »Zufällig bin ich Kriminalbeamtin und arbeite an dem Fall Luise Spengler.«

»Oh«, reagierte Robert überrascht. »Was gibt es daran zu arbeiten? Meine Mutter ist tödlich verunglückt.«

»Das ist noch nicht eindeutig bewiesen«, widersprach Anke.

»Was macht dich so sicher, dass es kein Unfall war?«, fragte er unwirsch.

»Was macht dich so sicher, dass es ein Unfall war?«, entgegnete sie genauso ungehalten.

Als wenn bei strahlendem Sonnenschein ein Blitz ein furchtbares Unwetter ankündigte, so düster und eisig war es plötzlich zwischen ihnen geworden.

»Die Umstände, wie es passiert ist. Meine Eltern hatten seit Jahren getrennte Schlafzimmer; niemals ist jemand in das Zimmer des anderen gegangen, weil sie ihre Privatsphären respektierten. Meine Mutter hatte eben Pech, dass sie das Gleichgewicht verloren hat, als sie gerade am Fenster stand.«

Nun konnte Anke nicht mehr zurück. Die Polizistin hatte sich mächtig in ihr Privatleben geschoben. Sie überhörte nicht die Gleichgültigkeit, mit der er über den Tod seiner eigenen Mutter sprach, was sie ihm auch verdeutlichte.

Entschuldigend erklärte Robert: »Meine Mutter und ich standen uns nicht sehr nahe. Das bedeutet allerdings nicht, dass mir ihr Tod egal ist.«

»Aber das erklärt mir immer noch nicht, was dich so sicher macht, dass es wirklich nur ein Unfall war«, blieb Anke beharrlich.

»Sie litt schon sehr lange unter Kreislaufstörungen und Schwächeanfällen. Da ist es doch nicht auszuschließen, dass sie einen solchen Schwächeanfall bekommen hat, als sie gerade am Fenster stand.«

»Da muss ich dir grundsätzlich recht geben. Weißt du denn, dass sie genau in dem Augenblick, als sie aus dem Fenster stürzte, einen solchen Schwächeanfall hatte?«, hakte Anke nach.

»Genau weiß ich es natürlich nicht, weil ich zu der Zeit am Bodensee war. Ich weiß sogar den Namen des Hotels. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich schon einmal von der Polizei verhört worden bin. Nun, deine Kollegen haben sich damit zufrieden gegeben. Es wäre schade, wenn du das nicht könntest. Lass doch die Polizistin einfach zu Hause und genieße mit mir den schönen Tag.«

Anke schwankte zwischen Anspannung und Scham. Sie hätte gern mehr erfahren von der frühen Entfremdung zwischen Mutter und Sohn. Was hatte die beiden entzweit? Robert machte einen so netten und freundlichen Eindruck. Es schien Anke unmöglich, sich mit ihm zu verkrachen. Andererseits hatte Robert ihren wunden Punkt getroffen. Es tat ihr Leid, dass sie ihre Funktion als Polizistin sogar in Roberts Anwesenheit, die ihr so viel bedeutete, nicht ablegen konnte. Dabei hatte sie sich so sehr vorgenommen, auf Kullmanns Rat zu hören und endlich ihr Privatleben zu genießen. Leicht fiel ihr das nicht, wie sie nun merkte, aber sie wollte es trotzdem versuchen, weil die Verlockung auf einen sonnigen Tag mit Robert auf dem Turnier zu groß war.

*

Sie beobachteten das nächste Springen, das als A-Springen mit Stechen angekündigt wurde. Sollten mehrere Reiter in dieser Springprüfung dieselbe Wertung erreichen, würde der Sieger durch ein anschließendes Stechen ermittelt werden. Unter den Startern erkannte Anke ihre Reitlehrerin Susanne, die mit sehr hohem Tempo und fehlerfrei durch den Parcours ritt. Das Mikrofon bestätigte, dass Susanne Werth im anschließenden Stechen starten sollte. Auch die nächste Reiterin kam Anke sehr bekannt vor. Sie kam ebenfalls aus der Reitanlage, in der Anke ritt. Aber begegnet waren die beiden sich noch nicht, weil diese Frau zusammen mit den Turnierreitern trainierte, die Anke nur selten zu sehen bekam.

»Wie heißt die Reiterin?«, fragte Anke Robert, der ihr ganz fasziniert zuschaute.

»Das ist Doris Sattler. Sie reitet inzwischen A- und L-Springen, nur leider nicht sehr erfolgreich. Ihr Pferd ist gesundheitlich nicht auf der Höhe und fällt ständig aus«, erklärte Robert.

Anke wunderte sich darüber, wie mitfühlend Robert dabei klang.

Der Nachmittag wurde sehr schön und unbeschwert. Es folgte eine Springprüfung nach der anderen. In den Pausen vertrieben sie sich die Zeit damit, sich um das leibliche Wohl zu kümmern.

Erst sehr viel später fiel Anke noch eine Frage ein, die sie auch sofort loswerden musste: »Wie ist es möglich, dass wir uns auf der Dienststelle nie gesehen haben? Schließlich bist du doch zu einer Aussage zu uns gekommen.«

»Als ich bei euch war, sprach ich mit zwei Männern«, erklärte Robert.

Anke fiel ein, dass Nimmsgern und Esche an dem Fall gearbeitet hatten, während sie damit beschäftigt war, in der Vergangenheit von Kurt und Luise Spengler nach einem möglichen Motiv zu suchen. Kullmann hatte diese fixe Idee, dass der Ehemann schuld an Luises Tod war. Nur hatten ihm die Beweise gefehlt.

»Deshalb sind wir uns nicht begegnet«, meinte Anke nur kopfschüttelnd.

»Hat dieser Zusammenhang nun Auswirkungen auf unsere Freundschaft?«, fragte Robert unsicher.

Daran, wie er diese Frage stellte, glaubte Anke herauszuhören, dass ihm viel daran lag, ihre Freundschaft nicht zu belasten. Erleichtert schüttelte sie den Kopf, obwohl sie genau wusste, dass sie das wider besseres Wissen tat. Im Grunde ihres Herzens glaubte sie, Zweifel zu spüren, Zweifel darüber, wie sie ihre Gefühle gegenüber Robert mit der Professionalität ihrer Arbeit in Einklang bringen könnte. Aber auf diese innere Stimme wollte sie einfach nicht hören. Lieber lenkte sie sich mit einer Begründung ab, die in ihren Ohren ebenfalls sehr überzeugend klang. Niemand konnte es ihr zum Vorwurf machen, mit Robert, dem Sohn einer vermeintlich Ermordeten, Kontakt zu halten. Schließlich hatten sie sich erst sehr lange nach diesem schrecklichen Ereignis kennengelernt. Außerdem hatte Robert ein bombensicheres Alibi.

»Ich glaube, ich besorge uns ein Bier auf diesen Schreck, was meinst du, Agatha Christie? Oder wie soll ich dich nennen?«

»Bleiben wir lieber bei Anke Deister. Wer weiß, vielleicht werde ich mal genauso berühmt wie Agatha Christie, dann brauche ich nicht den Namen einer anderen anzunehmen, oder?«

Robert lachte.

Anke beobachtete ihn, wie er zum Bierstand ging und spürte wieder dieses Prickeln im Bauch. Dieser Mann gefiel ihr wirklich gut - so gut, dass sie grundlegende Prinzipien, auf die sie sich nach der Bruchlandung mit Hübner eingeschworen hatte, einfach über Bord warf. Verträumt beobachtete sie, wie er am Bierstand auf seine Bestellung wartete, und genoss das Gefühl des Verliebtseins.

In dem Moment tauchte Doris Sattler auf und lächelte ihn so verführerisch an, dass in Anke sofort Eifersucht aufstieg. Doris hatte lange braune Haare und eine aufregende Figur, was durch die enge Turnierkleidung noch mehr betont wurde. Ihre Reize wusste sie bestens einzusetzen. Eine Weile unterhielten sich die beiden. Robert genoss es offensichtlich, von dieser hübschen Frau umschwärmt zu werden. Anke stand abseits am Parcoursrand. Nach einer kurzen Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich von ihr ab und kam mit zwei Bierhumpen zurück. Mit keinem Wort erwähnte er das Gespräch mit Doris, Anke wollte auch nicht darüber reden. Viel zu peinlich wäre es ihr, ihm ihre Eifersucht zu zeigen.

»Ich habe Nepomuk heute Morgen auf die Koppel gebracht und muss ihn nachher noch in die Box stellen«, bemerkte Robert, während sie beide das nächste Springen beobachteten. »Kommst du mit?«

»Gerne!«

Inzwischen startete die S-Klasse und wieder erkannte Anke einen der Reiter. Es war Helmut Keller. Er ritt einen riesengroßen schwarzen Wallach, den Anke noch nie gesehen hatte. Robert staunte auch, als er das Pferd sah und meinte: »Dieses Pferd kenne ich nicht. Sollte er sich vor seinem großen Start in Warendorf einen Neuen gekauft haben?«

Sein Ritt war fehlerfrei und er bekam den bisher größten Applaus aller Reiter. Einige Mädchen jubelten ihm vor Begeisterung laut zu, worüber Anke sich amüsierte. Die jungen Mädchen bewunderten die erfolgreichen Turnierreiter wie Stars.

»Was heißt Start in Warendorf?«, wollte Anke wissen.

»In Warendorf befindet sich das Bundesleistungszentrum des Reitsports, die Deutsche Reiterliche Vereinigung. Helmut Keller ist zurzeit der einzige aus dem Saarland, der zum A-Kader nach Warendorf berufen worden ist«, erklärte Robert.

»Das hört sich ja nach einer starken Leistung an. Wie hat er das geschafft?«

»Ganz einfach, er hat so viele Erfolge gehabt, dass die Deutsche Reiterliche Vereinigung auf ihn aufmerksam geworden ist. In Warendorf kann er sich für die Deutschen Meisterschaften qualifizieren mit der Chance, in der deutschen Olympiamannschaft zu reiten. Das ist der Traum eines jeden großen Turnierreiters. Helmut Keller hat es geschafft.«

»Er reitet wirklich gut«, stellte Anke schlau fest, als hätte sie viel Ahnung davon.

»Sonst wäre er nicht so weit gekommen«, lachte Robert.

»Wie viel Pferde hat Helmut Keller?«

»Zwei Braune. Ob ihm dieser Rappe auch gehört, weiß ich nicht. Das Pferd habe ich noch nie gesehen. Aber bei den großen Turnierreitern kann man nie wissen«, meinte Robert schulterzuckend.

Gemeinsam verließen sie den Turnierplatz und fuhren in Roberts komfortablem Geländewagen zur Reitanlage.

»Bist du mit Nepomuk auch schon Turniere geritten?«, fragte sie, als sie angekommen waren.

»Ja, ich reite gelegentlich ein A-Springen. Manchmal auch ein L-Springen, je nachdem, wie ich gerade Lust habe. Nepomuk ist sehr zuverlässig und hat mir schon einige Erfolge eingebracht.«

Als sie sich den Koppeln näherten, wieherte der braune Wallach freudig und galoppierte auf den Ausgang der Koppel zu, als sei er froh darüber, wieder in den Stall zu kommen.

»Warum nur ab und zu?«, bohrte Anke weiter.

»Ich arbeite in Schichten und habe nicht die Zeit, so konsequent zu trainieren, wie das dafür eben nötig wäre. Vielleicht gebe ich Nepomuk mal Doris zum Springen, wenn ihr Pferd wieder einmal ausfällt. Sie kann mir richtig leidtun, weil sie unbedingt Turniere reiten will, aber nicht das richtige Pferd dafür hat.«

Anke gefiel dieses Arrangement überhaupt nicht.

»Warum gerade Doris? Sie hat ein eigenes Pferd. Wäre es nicht angebrachter, dein Pferd jemandem anzuvertrauen, der kein Pferd hat?«, murrte sie.

»Denkst du dabei an dich?«, hakte Robert schmunzelnd nach.

»Zum Beispiel.«

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«

Robert führte Nepomuk zum Stall.

Peter Biehlers Truck war dort inzwischen eingetroffen. Robert stellte den großen Wallach in seine Box, während Anke zu Rondo ging und ihm über die Nüstern streichelte. Nach einer Weile wollte sie sich auf die Suche nach Robert machen, als sie schon wieder ein lautes Wortgefecht hörte.

»Morgen wirst du filmreif mit Handschellen aus dem Altenheim abgeführt, das verspreche ich dir. Dann haben deine Macho-Auftritte endlich ein Ende, weil dein Spiel entlarvt ist«, sprach Peter Biehler so laut, dass Anke alles verstehen konnte.

»Wie willst du das anstellen? Willst du mir ein Verkehrsdelikt anhängen? Mehr darfst du kleiner Wichtigtuer doch gar nicht.« Das war Roberts Stimme.

»Du wirst dich wundern. Ich habe einen guten Freund, der für Tötungsdelikte zuständig ist. Er ist über alles informiert. Glaub mir, der nimmt diesen Hinweis sehr ernst, weil es seine Arbeit ist. Außerdem muss ich hinzufügen, dass meine alte Freundin, von der ich den Tipp bekommen habe, ebenfalls bei der Polizei arbeitet. Also unterschätz mich lieber nicht«, lachte Biehler verächtlich.

»Und du solltest mich nicht unterschätzen. Wenn du wirklich meinst, mir Schwierigkeiten machen zu müssen, dann wirst du mich mal kennen lernen.«

»Willst du mir drohen?«

»Nein, dich nur warnen. Lass einfach die Finger davon oder es wird dir noch leidtun.«

Höhnisch lachend verließ Biehler den Stall durch den anderen Ausgang. Schnell stahl Anke sich davon, damit Robert nicht bemerkte, dass sie gelauscht hatte. Dieses Gespräch hatte sie erschreckt, aber darauf wollte sie Robert auf gar keinen Fall ansprechen. Für diesen Tag hatte sie seine Geduld schon zur Genüge auf die Folter gespannt, als sie über den Tod seiner Mutter gesprochen hatten. Noch ein Gespräch, das sich wie ein Verhör anhörte, wollte sie nicht riskieren, dafür war ihr die Freundschaft zu wichtig. Gelassen schlenderte sie durch den Hof und beobachtete das Mädchen, das wieder fleißig damit beschäftigt war, alle Turnierutensilien zu reinigen und wegzuräumen. Zum Abschied winkte sie Anke zu und fuhr mit ihrem Fahrrad davon.

Gleichzeitig heulte ein Automotor auf, mit einem Kavaliersstart fuhr Biehler los; Sand, Steine und Staub wirbelten durch die Luft. Erschrocken schaute Anke zu ihm herüber, aber er fuhr so schnell davon, dass sie ihn bald aus den Augen verlor.

Plötzlich nahm Robert sie von hinten in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: »Was hältst du davon, mit mir essen zu gehen? Ich kenne ein wunderschönes Restaurant mit Terrasse, wo wir im Sonnenuntergang sitzen und den Tag ausklingen lassen können.«

Diesem Vorschlag konnte Anke nicht widerstehen. Gemeinsam verließen sie den Hof.

Da begegnete ihnen Sybille. Kopfschüttelnd ging sie auf dem Parkplatz hin und her; sie wirkte völlig orientierungslos. »Das gibt es doch nicht, das kann doch nicht sein«, stammelte sie fassungslos vor sich hin.

Robert beobachtete sie nur belustigt, während Anke fragte: »Was gibt’s?«

Verwirrt schaute sie Anke an und meinte: »Peter ist einfach weggefahren, er ist einfach ohne mich weggefahren.«

»Na ja, vielleicht merkt er ja noch, dass er dich vergessen hat«, spottete Robert und schob Anke energisch zu seinem Auto. Er wollte den Rest des Abends ungestört mit ihr verbringen.

Das Restaurant, von dem Robert gesprochen hatte, befand sich auf dem Saarbrücker Schlossplatz. Die Terrasse bot ihnen eine wunderschöne Aussicht über die ganze Stadt und über die Saar, in der sich das rot werdende Licht der untergehenden Sonne spiegelte. Lange saßen sie unter freiem Himmel bei einem Glas Wein und plauderten, bis die Kellner sie höflich daran erinnerten, dass das Restaurant schließen wollte.

Anke lachte vergnügt, als sie von Robert wieder nach Hause gebracht wurde. Inzwischen war Mitternacht vorbei, aber sie hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Von den Ereignissen des Tages war sie noch viel zu aufgeregt, so dass sie lange nicht einschlafen konnte. Deshalb wollte sie in Erinnerungen schwelgen und ihr Glück genießen. Aber so einfach war das nicht. Ständig tauchte Doris Sattlers Gesicht auf. Immer wieder, wenn sie sich selig vor Glück glaubte und langsam in ihren wohlverdienten Schlaf sank, wurde sie durch die Bilder, die Robert und Doris bei ihr hinterlassen hatten, wieder geweckt. Dadurch dauerte es lange, bis sie endlich einschlafen konnte. Nur leider sollte es kein erholsamer Schlaf werden.

Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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