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Kapitel 4

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Nach Feierabend fuhr Anke zum Reitstall. Als sie nach Rondo schauen wollte, war die Box leer.

Enttäuscht ging sie weiter.

Peter Biehler und Sybille hatten ihre beiden Pferde in der engen Stallgasse angebunden und waren damit beschäftigt, sie zu satteln und zu trensen. Es schien alles wieder völlig normal zwischen den beiden zu sein, stellte Anke erstaunt fest. Ob Sybille es gewohnt war, von Biehler vergessen zu werden?

Aus sicherer Entfernung sah sie, wie Doris Sattler ihr Pferd durch die Stallgasse führte. Wie sie an Biehlers Pferden vorbeikommen wollte, war Anke ein Rätsel. Die Stallgasse war zu eng.

»Kannst du mich bitte mit meinem Pferd vorbeilassen«, bat Doris höflich, doch Biehler reagierte nur ganz lässig: »Wenn ich soweit bin.«

Damit brachte er Doris natürlich gleich auf die Palme: »Ich warte doch nicht, bis du fertig bist. Lass mich gefälligst durch!«

Biehler drehte sich betont langsam um und sagte gleichgültig: »Sieh doch zu, wie du vorbeikommst. Ich werde mein Pferd jedenfalls jetzt nicht hier wegstellen.«

Wütend versuchte Doris ihr Pferd an Biehlers Schimmel vorbei zu drängen. Da knallte es auch schon. Der Schimmel legte die Ohren an, drehte sich hastig in der engen Stallgasse und schlug gezielt nach Doris aus. Mit einem dumpfen Geräusch fiel Doris rückwärts in die Stallgasse und blieb genau vor Ankes Füßen liegen.

Anke überlegte gerade, ob sie nach ihr sehen sollte, als sie sofort aufstand und schrie: »Die Pferde sind genauso blöd wie ihre Besitzer. Die Böcke gehören beide zum Metzger.«

»Pass auf, was du sagst! Wenn du zu dämlich bist, dein Pferd aus der Box zu führen, lasse ich mich von dir nicht beleidigen. Meine Pferde haben das auch nicht nötig. Wir werden ja noch sehen«, erwiderte Sybille genauso lautstark.

»Oh ja, das werden wir. Unterschätzt mich nicht! Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben.«

Wutentbrannt hinkte Doris hinter ihrem Pferd her, das erschrocken an ihr vorbeigelaufen war und dem Ausgang der Stallgasse zusteuerte. Glücklicherweise lief er nicht vom Stall weg, sondern trottete durch den sonnigen Hof und begrüßte alle Pferde, die aus ihren Boxenfenstern herausschauten. Erleichtert nahm Doris den Strick, der vom Halfter herunterhing und band das Pferd an die Anbindestelle.

Nadja stand immer noch vor der Box ihres Pferdes und wartete ab, bis die Luft wieder rein war, bevor sie ihr Pferd herausführte. Ihre kleine Hündin war jedoch so aufgebracht über die Streitereien, dass sie laut kläffend in der Stallgasse herumsprang, bis Biehler schnurstracks auf sie zuging und nach ihr treten wollte. Nadja sprang mit einem Satz auf ihre Hündin zu und rettete sie vor dem Tritt, indem sie sie auf den Arm nahm.

»Ich warne dich«, schrie Nadja aufgebracht.

Endlich trat der Stallbesitzer hinzu. Er forderte Biehler und Sybille auf, zusammen mit ihren Pferden aus der Stallgasse zu verschwinden, bevor ein weiteres Unglück geschähe.

Anschließend führte Nadja ihr Pferd aus der Box heraus. Anke gesellte sich zu ihr und streichelte den süßen kleinen Hund.

»Was ist das für ein süßer Kerl«, schwärmte sie, während die kleine Hündin fröhlich an ihren Beinen hochsprang und mit ihrem Stummelschwänzchen rekordverdächtig wedelte.

»Sie heißt Arabella«, erklärte Nadja. »Sie liebt nur die Menschen, die es gut mit ihr meinen, und das merkt sie sofort. Du bist also ein guter Mensch.«

Anke musste darüber lachen und spielte weiter mit dieser munteren Hündin.

»Hat sie sich noch nie geirrt?«, fragte sie, doch darüber musste Nadja lachen: »Niemals: Sie riecht den Erzfeind auf hundert Meter gegen den Wind. Arabella schnüffelt auf Olympianiveau.«

Beide lachten herzlich, die drückende Spannung, die noch vor kurzem in der Stallgasse geherrscht hatte, verflog.

Erst nachdem Nadja ihr Pferd vor seiner Box angebunden hatte, meinte sie: »Gott sei Dank hat der Stallbesitzer mal ein Machtwort gesprochen.«

»Sind hier eigentlich alle Reiter so zerstritten?«, fragte Anke, die für diesen Tag eigentlich schon genug Enttäuschungen hatte hinnehmen müssen. Der ersehnte Trost bei Rondo war ihr leider nicht vergönnt gewesen. Stattdessen wäre sie fast in einem brodelnden Vulkan gelandet.

»Nein, eigentlich nicht. Peter und Sybille sind die einzigen, die hier überall anecken.«

»Das hört sich so an, als suchten sie die Konfrontation«, staunte Anke.

»Ja, so kann man das sehen. Keiner versteht die beiden. Peter reitet so schlecht, dass wir uns alle darüber wundern, dass er es nicht schon lange aufgegeben hat. Vielleicht ist er so ungenießbar, weil er sportlich eine Niete ist. Wer weiß?«, zuckte Nadja die Schultern.

»Aber warum tut hier niemand etwas dagegen?«, bohrte Anke weiter.

»Ganz einfach: der Stallbesitzer ist mit ihnen befreundet. Wer sich mit Peter und Sybille anlegt, riskiert, mit seinem Pferd rausgeschmissen zu werden«, erklärte Nadja die Situation.

»Meine Güte! Das heißt also, ihr müsst euch mit Biehler arrangieren oder gehen?«, staunte Anke.

»Genau so ist es.«

»Das hört sich nicht gut an«, stellte Anke beunruhigt fest. »Was meinte Doris eigentlich mit ihrer Drohung, dass man sie nicht unterschätzen soll?«

»Keine Ahnung«, zuckte Nadja mit den Schultern. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ihr Bruder mal wegen Körperverletzung im Knast gesessen hat. Aber das ist schon eine Weile her.«

Anke ging hinaus in den Hof. Dort standen die beiden Pferde von Peter Biehler in der Sonne. Sibylle war allein, von Biehler keine Spur. Neugierig geworden, ging Anke zum Reitplatz, aber auch dort war er nicht. Was hatte das wieder zu bedeuten, fragte sie sich gerade, als sie ein lautes Krachen hörte, das aus der Richtung hinter dem Stall herüber lärmte. Einige der Reiter eilten erschrocken in diese Richtung. Dort befanden sich mehrere Schubkarren und zwei große Misthaufen. Anke folgte den Neugierigen. Was sie dort zu sehen bekam, jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. Biehler war rasend vor Wut, schrie unkontrolliert herum und trat gegen die Schubkarren, die ordentlich in einer Reihe aufgestellt waren. Er tat das mit solcher Wucht, dass sie umfielen. Nur der letzte Schubkarren in der Reihe war voll beladen mit Mist. Als er an diesen kam, warteten alle gespannt, was er tun würde. Aber auch vor diesem Schubkarren machte Biehler nicht Halt, als habe er nicht gesehen, dass er beladen war. Mit aller Kraft trat er dagegen. Der Schubkarren bewegte sich keinen Millimeter, nur Biehler stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, hielt sich den schmerzenden Fuß fest und sprang wie ein Verrückter auf einem Bein hin und her. Zu allem Überfluss mussten die Zuschauer herzhaft lachen, was ihn nur noch rasender machte. Um nicht seinen Zorn auf sich zu ziehen, verzogen sie sich schnell wieder und widmeten sich ihren Pferden. Nur Anke blieb vor Biehler stehen, der immer noch seinen schmerzenden Fuß hielt. Ihre Schadenfreude darüber verbergend sagte sie: »Ich werde morgen deinen Dienststellenleiter informieren. Das zieht ein Disziplinarverfahren nach sich, darauf kannst du dich verlassen!« Sie drehte ihm sofort den Rücken zu, um deutlich zu zeigen, dass sie keine Antwort erwartete.

Obwohl sie äußerlich ganz lässig wirkte, brodelte sie innerlich. Gegen ihren Willen beschäftigte sie sich mehr mit Biehler als gut für sie war. Je mehr sie darüber nachdachte, umso deutlicher spürte sie eine große Ähnlichkeit mit Esche. Biehlers protziges Auftreten mit seinen beiden Pferden und dem auffallend großen, luxuriösen Transporter erinnerte Anke an Esches Angeberei mit seinen Designerklamotten, seinem teuren Schmuck und seiner Rolex am Arm. Beide zeigten offen ihre Abneigung gegenüber Robert. Beide waren rücksichtslos und unverschämt. In Esches Nähe konnte sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. In Biehlers Nähe konnte sie sich nicht am Reiten erfreuen. Da hatte sie sich so sehr einen Ausgleich für ihre Arbeit gewünscht, eine Oase zum Ausspannen. Und ausgerechnet am Stall hatte sie dieses Ekelpaket Biehler getroffen, der ein geistiger Bruder von Esche sein könnte.

*

Müde fuhr Anke am nächsten Morgen zur Arbeit. Sie traf viel zu früh im Büro ein. In der Nacht hatte sie wieder nicht gut schlafen können. Mit rotgeränderten Augen setzte sie sich an ihren Schreibtisch und wartete darauf, dass der Kaffee durchlief.

Nach und nach trafen die Kollegen ein. Eine Zeit lang blieb sie allein in ihrem Zimmer. Diese Gelegenheit nutzte sie, um in Ruhe ihre Gedanken schweifen zu lassen. Kullmann gab sich ebenfalls nicht sehr gesprächig, als sie ihm den Kaffee brachte.

Zwei Stunden später traf eine Meldung ein, dass ein Verkehrspolizist verschwunden sei. Anke wunderte sich, warum diese Meldung durch ihre Abteilung ging, weil sie nicht dafür zuständig war.

Diese Nachricht geriet bald in völlige Vergessenheit, weil ihre Gedanken ständig um die Begegnung zwischen Kullmann und Kurt Spengler kreisten. Dieses Streitgespräch hatte ihr endlich die Bestätigung für ihr vages Gefühl gegeben, dass Kullmann ein ganz persönliches Interesse an dem Fall Luise Spengler hatte. Sie arbeitete sich wieder durch die Akte Luise Spengler, in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu finden, in welchem Verhältnis die beiden Männer zueinander standen. Aber erfolglos.

Als Kullmann in der Mittagszeit zu ihr ins Büro kam, hoffte sie, dass er endlich mit ihr darüber reden wollte, weil sie sich immer sicherer wurde, dass sie über dieses Detail informiert sein müsste. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit war Offenheit wichtig.

Aber es kam anders.

Kullmann blieb in der Tür stehen. Sein Blick ging wie ins Leere, es schien, als habe er Mühe zu reden: »Ich glaube, das Schlimmste ist eingetreten. Es ist ein weiterer Polizist erschossen aufgefunden worden.«

Anke erschrak.

»Wo?«

»Im Wildpark St. Johann, ganz in der Nähe des Schwarzenbergs«, antwortete Kullmann.

Zusammen verließen sie das Büro, stiegen in den Dienstwagen und fuhren zum Tatort.

Auf der Fahrt sprachen beide kein Wort. Die Stimmung war gedämpft, weil genau das geschehen war, was alle befürchtet hatten: Der Polizistenmörder hatte wieder zugeschlagen.

Im Wildpark angekommen, sahen sie, dass die Kollegen der Spurensicherung schon bei der Arbeit waren. In ihren Schutzanzügen wirkten sie wie Astronauten bei der Mondlandung – mit dem kleinen Unterschied, dass sie ganz dicht am Hasengehege gelandet waren. Aus sicherer Entfernung schauten die Langlöffler diesem fremdartigen Treiben zu.

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Gehege trat ein Kollege der Schutzpolizei auf Kullmann zu und erzählte mit Leichenmiene: »Es handelt sich um Peter Biehler.«

Erschrocken schnappte Anke nach Luft. Ausgerechnet Peter Biehler, überlegte sie. Sie konnte es gar nicht glauben, dass der Mann, den sie noch am Vortag gesehen hatte, heute schon tot sein sollte – erschossen vom Polizistenmörder. Schwindel befiel sie bei dem Gedanken, wie unvermittelt es jeden von ihnen treffen konnte. Erst gestern hatte sie ihm gedroht, ihn für sein ungebührliches Verhalten bei seinem Dienststellenleiter anzuzeigen. Niemals wäre ihr der Gedanke gekommen, Biehler in großer Gefahr zu wähnen.

Wen sollte es das nächste Mal treffen?

Der Polizist setzte seinen Bericht unbeeindruckt fort: »Er war zusammen mit seinem Kollegen auf dem Rückweg von der Universität.«

»Wie ist es passiert?«, unterbrach ihn Kullmann.

»Nach Aussage des Kollegen wollte Peter Biehler nur pinkeln.«

»Hat Peter Biehler zufällig diesen Ort gewählt?«, funkte Kullmann dazwischen.

»Nach Aussage des Kollegen nicht. Biehler machte immer hier seine Pinkelpause. Er bemerkte jedes Mal, bevor er ausstieg Ich zeige Rudi Rammler, was ein echter Hammer ist. Weil Biehler immer etwas länger dafür brauchte, machte sich der Kollege auch keine Sorgen um ihn. Doch plötzlich hörte er einen Schuss. Als er den Toten fand, war der Täter jedoch längst verschwunden. Und gesehen hat er auch nichts, was uns weiterhelfen könnte.«

»Also haben wir auch in diesem Fall keinen Zeugen«, stellte Kullmann resigniert fest.

Der Kollege verabschiedete sich und wurde gleich von Theo Barthels, dem Leiter der Spurensicherung, abgelöst: »Bisher haben wir nichts Verwertbares finden können. Das ist ein für unsere Arbeit sehr ungünstiger Tatort, weil hier sehr viele Menschen spazieren und ihre Kinder mitnehmen. Es gibt Schuhabdrücke in allen Größen und Formen. Die können wir gar nicht alle überprüfen.«

»Das hört sich ja genauso an wie damals bei Nimmsgern.«

»Leider ja. Die schönsten Tatorte sind und bleiben eben die in geschlossenen Räumen. Da kann man alle Spuren zuordnen und den Täter herausfiltern«, murrte Theo und machte sich wieder an die Arbeit.

Kullmann und Anke folgten dem schmalen Trampelpfad an dem Gehege der Wildkaninchen vorbei auf einen breiten Spazierweg. Vor ihnen befand sich das Gehege der Alpensteinböcke, die sich durch das Aufgebot an Menschen nicht aus der Ruhe bringen ließen.

Erschrocken fuhr Anke zusammen, als sie Esche erblickte. Er wirkte so, als säße er gelangweilt auf der hölzernen Umzäunung eines kleinen Tümpels, in dem sich nur wenig Wasser befand.

»Was tust du denn hier?«, fragte Kullmann erstaunt.

Gelangweilt ließ Esche seine Beine baumeln, während er antwortete: »Ich habe von dem Mord erfahren und bin gleich hierher gefahren. Inzwischen sind es ja schon zwei Kollegen, die erschossen worden sind, da wollte ich mir einfach mal die Stelle ansehen, an der der Täter dieses Mal zugeschlagen hat.«

»Du weißt, dass das Team der Spurensicherung keinen Wert auf zu viele Menschen am Tatort legt, die vielleicht Spuren verändern oder verwischen können«, tadelte Kullmann.

»Hier laufen so viele Leute herum, dass meine Spuren die Aufklärung nicht verhindern. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass ich mich nicht in die Nähe des Tatortes begeben habe«, ließ Esche sich nicht aus der Fassung bringen.

Kopfschüttelnd ging Kullmann weiter. Anke folgte ihm mit einer großen inneren Genugtuung. Es gefiel ihr, dass Kullmann diesen Feldzug von Esche nicht gutheißen konnte. Sie steuerten den Wagen an. Dort trafen gerade einige Journalisten mit Kameras und Aufnahmegeräten ein. Schnell stiegen sie ein, um sich nicht vor ihnen rechtfertigen zu müssen, und fuhren davon.

»Woher zum Teufel wissen die schon wieder Bescheid?«, schimpfte Kullmann.

»Ich glaube, wir haben den falschen Beruf: Wir sollten bei der Zeitung arbeiten, dann sind wir schneller über alles informiert«, bemerkte Anke sarkastisch.

Auf der Rückfahrt zur Dienststelle merkten sie zu spät, dass es einen Autounfall gegeben hatte, der Verkehr staute sich zurück. Im Schritttempo ging die Fahrt voran. Kullmann nutzte die zäh sich dahinschleppende Zeit, seine Situation zu überdenken. Inzwischen war er vierzig Jahre im Polizeidienst und konnte gar nicht mehr genau zurückrechnen, wie lange er sich schon auf seinen Ruhestand freute. Nun endlich stand er kurz davor, und dann geschah so etwas: zwei Polizistenmorde und keine Verdächtigen, ja noch nicht einmal die geringste Spur. Die Situation war so erdrückend wie noch nie. Von allen Seiten spürte er die Erwartungen, alle wollten eine baldige Lösung von ihm, weil alle Angst hatten, der Nächste zu sein. Er war einfach nicht imstande, ihnen den oder die Täter zu liefern.

Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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