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Kapitel 4

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Der nächste Morgen begann zeitig. Für Anke zu früh. Laut knatternd fuhr ein Mofa durch die enge Gasse. Stimmen von Menschen, die die frühe Stunde nutzten, um bei angenehmen Temperaturen durch die Gassen zu schlendern. Kindergeschrei. Musik. Glockengeläut. Geräusche, die zu einem Urlaub am Mittelmeer passten.

Lisa auf einem Stuhl am Fenster.

Ein Anblick, der nicht zu Ankes Vorstellung von Urlaub passte.

In Sekundenschnelle sprang sie aus dem Bett und zerrte ihre Tochter dort weg. Lisa wollte sich wehren, indem sie murrte: „Mama, guck: Das Meer.“

„Ja, mein Schatz. Und wenn du nicht aus dem Fenster fällst, wirst du sogar noch im Meer schwimmen gehen.“

„Au ja.“ jubelte Lisa los. „Wimmen. Wimmen.“

„Das heißt schwimmen.“

„Sag ich doch: wimmen.“

Das Wort wollte ihr nicht richtig über die Lippen kommen, aber das störte Lisa nicht. Die Aussicht, im Meer zu baden, stimmte sie überglücklich. So wurde es für Anke ein Kinderspiel, ihrer Tochter die Jeanslatzhose anzuziehen, die ihr bis zu den Waden reichte. Darin sah sie so hübsch aus, dass Anke sich gar nicht an ihr satt sehen konnte. Lisa streckte ihre Händchen in die großen Hosentaschen, eine Geste, die sie ihrer Mutter nachahmte.

Anke klopfte leise an der Zwischentür an, um nachzusehen, ob Kullmann und Martha schon wach waren. Die Vorsicht erwies sich als unnötig, denn Kullmann öffnete fertig angezogen. Martha stand hinter ihm. Die beiden wirkten, als hätten sie nur auf Ankes Lebenszeichen gewartet.

Wie bei einer Prozession schritten sie hintereinander die enge, gewundene Treppe hinunter. Lisa hüpfte munter immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, bis sie plötzlich verschwunden war.

„Lisa?“, rief Anke, die ihren Augen nicht traute. Eben war sie noch da, und eine Sekunde später nicht mehr.

„Was ist?“, fragte Kullmann hinter ihr.

Doch Anke hörte ihn nicht mehr. Panik hatte sie ergriffen. Sie rannte die Stufen hinunter, als sie plötzlich den breiten Rücken des Berliners sah.

Das fehlte gerade noch. Das Berliner Ehepaar hatte ihr Kind entführt.

„Halt! Bleiben Sie stehen“, rief Anke in gewohnter Polizeimanier.

Doch der Berliner dachte nicht daran. Blitzschnell verschwand er um die nächste Treppenwindung.

Anke beschleunigte. Manfred Deubler auch. Er eilte durch das Foyer. Anke rannte hinterher.

„Anke. Wo willst du denn hin?“, hörte sie Kullmanns Stimme hinter sich.

Sie hatte keine Zeit zu antworten. Sie sah, in welche Richtung Deubler rannte und steuerte die gleiche an. Wieder verschwand er, dieses Mal hinter einer der vielen Mauern. Ankes Panik wuchs ins Unermessliche. Sie hatte nicht gesehen, wohin er mit ihrer Tochter verschwunden war.

Wie von Furien gehetzt jagte sie blind drauf los, bis sie plötzlich mit einem fremden Mann zusammenstieß, der entsetzlich nach Fisch stank. Dieser stieß einige unfreundliche Laute aus, sprach in einer Sprache, die Anke nicht verstand. Dafür kapierte sie seinen Tonfall umso besser. Mit dunklen, fast schwarzen Augen funkelte der Fremde Anke böse an. Doch Anke wollte sich nicht einfach abwimmeln lassen. Immerhin war sie Lisas Mutter. Der würde sie mal kennenlernen.

„Anke. Bist du noch von Sinnen?“

Kullmanns Frage machte sie stutzig. Sie drehte sich um und schaute in ein fragendes Gesicht.

„Er hat Lisa“, stammelte sie und unterdrückte mit Mühe einen Weinkrampf. Dabei zeigte sie auf den Fremden. Doch als sie wieder nach vorn schaute, stand dort niemand mehr.

„Lisa sitzt an der Rezeption und lässt sich von den Mitarbeitern des Hotels amüsieren.“

Anke verstand nur Bahnhof. „Aber… Der Berliner hat sie doch entführt.“

„Ich glaube, das Berliner Ehepaar hat eine Paranoia bei dir ausgelöst“, bemerkte Kullmann dazu. „Komm rein und überzeuge dich selbst davon, dass es Lisa gut geht.“

Tatsächlich! Lisa saß auf der hohen Theke der Rezeption und ließ sich von einem Hotelangestellten Kunststücke zeigen. Neugierig geworden näherte sich Anke dem Treiben. Sofort hielt der Hotelangestellte inne, verbeugte sich vor Anke und stellte sich vor: „Drago Jurić, ich arbeite hier im Hotel als Kellner, vertrete zurzeit den Portier Josip Pedrović.“

Anke gab ihm die Hand. Sie musste sich mehrfach räuspern, bis endlich eine Stimme herauskam: „Ich heiße Anke Deister, die kleine Dame hier ist Lisa, meine Tochter.“

„Ein tolles Kind haben Sie“, lobte Drago sofort.

„Onkel Drago kann zaubern“, erklärte Lisa stolz.

„Und du auch“, murrte Anke ihr Kind an. „In welches Versteck hast du dich vorhin auf der Treppe weggezaubert.“

„Verrate ich nicht.“ Verschmitzt lachte die Kleine.

Drago zog einige Karten heraus, ließ Lisa eine aussuchen, die Anke sich ebenfalls ansehen durfte. Dann machte er einige verwirrende Handbewegungen. Als er fertig war, zog er die gleiche Karte aus Lisas Hosentasche. Lisa schrie auf vor Freude.

Anke spürte, wie ihre innere Anspannung nachließ.

Viel zu schnell beendete Drago seine Vorführung. Sie hätte ihm gerne noch ewig zuschaut, so gut tat ihr die Heiterkeit, die er mit seinen Kunststücken verbreitete.

„Drago muss noch arbeiten, sonst wird Dragos Chef böse“, erklärte er mit einem bedauernden Lächeln.

„Du kannst ihn doch wegzaubern“, schlug Lisa vor.

Anke fühlte sich peinlich berührt. Doch als sie sah, wie herzhaft Drago über Lisas Spitzfindigkeit lachte, fühlte sie sich erleichtert.

„Bist du jetzt beruhigt?“ Mit dieser Frage erinnerte Kullmann sie wieder an ihre wilde Verfolgungsjagd. Sie spürte, dass sie rot anlief und brachte nur ein kurzes Nicken zustande.

Kullmann in Kroatien

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