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Kapitel 7

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„Jetzt haben wir uns alle ein gutes Abendessen verdient“, stellte Kullmann fest und rieb sich tatenfreudig die Hände.

Anke trat durch die Verbindungstür in ihr eigenes Zimmer, öffnete den Schrank und suchte sich für den Abend einen kurzen Jeansrock und ein eng anliegendes Top aus. Als sie zurückkehrte, erntete sie bewundernde Blicke von Kullmann.

„So hübsch habe ich dich noch nie gesehen“, stellte Kullmann anerkennend fest. „Du hast eine Figur wie ein junges Mädchen.“

„Norbert“, schimpfte Martha. „Anke ist ein junges Mädchen.“

„Ich weiß nicht“, wehrte Anke lachend ab. „Mit sechsunddreißig Jahren und Mutter einer dreijährigen Tochter bin ich wohl kein junges Mädchen mehr.“

„Stimmt. Dann einigen wir uns eben auf eine junge Frau“, gab Martha zu.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Sonne spiegelte sich rot im Wasser zwischen großen und kleinen Booten. Zahlreiche Touristen tummelten sich auf dem großen Hafengelände. Mofafahrer fuhren mit laut knatternden Maschinen die Promenade entlang, Hunde bellten. An den Wohnhäusern standen Bänke angelehnt. Darauf saßen alte Männer nebeneinander, rauchten Pfeife und diskutierten in einer Heftigkeit, dass es nach Streit aussah. Aber ihr Lachen und ihr Schulterklopfen bewiesen, dass sie einfach nur viel Temperament in ihre Argumentation legten. Kinder spielten direkt vor ihnen auf dem Kopfsteinpflaster, fuhren mit ihren Fahrrädern in die Touristenmenge hinein, bolzten einen Fußball einem Passanten an den Kopf, fingen eine kleine Katze ein, die sie dann ausgiebig an ihren Ohren zogen, bis das arme Tier zu schreien begann. All das beobachteten die alten Männer mit Wohlwollen, strichen ihren Enkeln über die Köpfe, als seien sie die reinsten Engel, was die Kinder dazu antrieb, ihren Unfug zu forcieren.

Die Restaurants waren überfüllt. Ein Gitarrenspieler unterhielt die Menschen mit seiner Musik, andere junge Männer versuchten den Touristen ihr Geld abzuluchsen, indem sie ihnen Scherenschnitte von deren Profil aufschwatzten oder Tattoos, die sich nach der ersten Berührung mit Wasser wieder in Nichts auflösten. Andere priesen ihre Waren auf Booten an, die dicht am Ufer fest verankert waren.

Ein großes Schiff lief in den Hafen ein.

Alle kleineren Boote, die vor Anker lagen, gerieten in Bewegung. Das Wasser schlug Wellen, die Boote schaukelten heftig hin und her.

Das alles ließen sie hinter sich.

Am Ende des Hafens erreichten sie das Lokal „Amfora“.

Vor dem Eingang stand ein Kellner und sprach sie an: „Kommen Sie, meine Damen und mein Herr. Essen Sie bei uns. Es schmeckt gut und ist nicht teuer.“

Sie folgten seiner Aufforderung, ließen sich einen schönen Platz zeigen, mit Blick über die Uferpromenade und das Meer. Blitzschnell wurde ihnen die Karte gereicht und Getränke gebracht.

„Wenn es in dem Tempo weitergeht, bin ich zufrieden.“ Kullmann grinste. Er setzte sich seine Lesebrille auf, um die Karte zu studieren.

Nachdem sie ihre Auswahl getroffen hatten, richteten sie ihren Blick auf die Promenade. Sie beobachteten den Kellner, der sie auf der Straße angesprochen hatte. Seine Aufgabe bestand darin, das Geschäft anzukurbeln. Ein weiterer Beschäftigter des Etablissements stand auf der gegenüberliegenden Seite und behielt alles genau im Auge. Gelegentlich trat er auf den Kellner zu und gab ihm Anweisungen. Seine Gestalt war massig, seine Haare schwarz, seine Bewegungen fahrig. Ständig fuchtelte er mit seinem Handy herum, telefonierte zwischendurch, was seine Nervosität forcierte. Dabei bewegte er sich sehr schnell, was im Gegensatz zu seiner Leibesfülle stand. Sein Gebaren deutete darauf hin, dass er der Chef des Restaurants war.

Als Vorspeise wurde ihnen Istarska Supa serviert, eine traditionelle Spezialität aus Istrien, die aus Rotweinsuppe mit Olivenöl und gerösteten Brotstücken bestand.

Kullmann und seine Angehörigen wurden vorübergehend von dem Treiben vor dem Lokal abgelenkt. Während sie aßen, wurde es plötzlich laut in der letzten Tischreihe. Sie schauten auf und sahen einen weiteren dicken Mann mit schwarzen Haaren, der zusammen mit drei blonden Frauen an einem großen Tisch Platz nahm und alle Kellner für sich beanspruchte.

Kullmann knurrte: „Ich bekomme den Eindruck, dass hier Mafiamethoden praktiziert werden.“

„Glaubst du, dass der Chef und dieser Mann gemeinsame Sache machen?“, hakte Anke nach, die ebenfalls dieser Eindruck überkam.

„Schlimmer“, antwortete Kullmann. „Ich habe mir den Namen des Besitzers angesehen, er heißt Ivan Kusić. Dieser Name ist nicht kroatisch. Das Restaurant ist in den Händen von Kosovo-Albanern.“

„Was ist daran so schlimm?“

„Kosovo-Albanien war schon immer ein kleines unbedeutendes Land in dem Vielvölkerstaat unter der Herrschaft von Tito. Nach dem jüngsten Balkan-Krieg wurde das Land gegen seinen Willen dem Staat Serbien angeschlossen. Als Reaktion darauf machten sie sich auf eigene Faust selbstständig, entwickelten sich illegal zu einer Splittergruppe, die sich mit dem Geld, das sie durch Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Prostitution eintreibt, in Bosnien, Serbien, Kroatien und Slowenien große Macht erkauft.“

Kaum hatte er ausgesprochen, trat der Dicke, der soeben noch vor der Tür gestanden und alles überwacht hatte, mit einem großen Tablett an den Tisch in der hinteren Reihe. Auf dem Präsentierbrett befand sich ein Hummer.

Anke war sich sicher, dass er nun den Gästen zum Essen serviert würde, doch sie täuschte sich. Der Dicke stellte das Tablett ab und begann, mit den Fühlern des großen Schalentiers zu spielen. Plötzlich begann sich der Hummer zu bewegen. Mit ruckartigen Bewegungen schwenkte er seine Scheren aus. Die drei Frauen und ihr Gönner lachten herzhaft. Der Restaurantbesitzer stimmte in das Lachen ein, bis es zu einem Grölen ausartete. Dann verschwand er mit dem Hummer wieder. Anke konnte sich denken, wohin das arme Tier nun landen würde.

Kullmann schüttelte den Kopf und murrte: „Es war nicht meine Absicht, euch in eine solche Spelunke auszuführen.“

„Von außen sieht man ja nicht, was sich hinter den Kulissen abspielt.“

„Stimmt. Die Mafia weiß sich zu tarnen. Können wir nur hoffen, dass es nicht gerade jetzt zu einem Bandenkrieg kommt.“

Anke schaute Kullmann verdutzt an und fragte: „Warum sollte das passieren?“

„Weil sich die Kroaten nicht gern das Zepter von den Kosovo-Albanern aus der Hand nehmen lassen. Sie werden sich irgendwann wehren.“

Eine Weile schwiegen sie und schauten sich um. Alles sah friedlich aus.

„Die Menschen in dieser Gegend haben eine andere Mentalität als wir in Deutschland. Hier liegt der Krieg noch nicht so lange zurück. Die Feindschaften schwelen noch unter der Oberfläche“, sinnierte Kullmann

„Und deshalb müssen diese Typen dahinten“, Anke zeigte mit dem Finger auf den Tisch, an dem der Hummer vorgeführt worden war. „dieses Tier quälen? Warum tun diese Menschen dem armen Tier so etwas an? Nur zur Unterhaltung?“

Kullmann schaute Anke erstaunt an.

„Deine Frage sollte lauten: Warum tun Menschen anderen Menschen Schlimmes an“, korrigierte Kullmann. „Vergiss nicht, in welchem Beruf du arbeitest.“

„Du hast recht. In meinem Beruf ist für Sentimentalitäten kein Platz.“

„Trotzdem verstehe ich dich. Ich denke nicht anders. Nur der Unterschied zwischen uns ist der, dass ich pensioniert bin und du noch einige Jahre in deinem Beruf arbeiten musst.“

Die Hauptspeise wurde genau im richtigen Augenblick serviert. Es gab Pasticada, mariniertes Rindfleisch mit Zwiebeln und Knoblauch in Rotwein gekocht. Dazu wurden Kartoffeln mit Rosmarin gereicht. Allein der Anblick ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es schmeckte so gut, wie es aussah. Alle verfielen in genüssliches Schweigen. Der Rest des Abends verlief angenehm. Leise Musik lief im Radio und der Kellner richtete stets seine Aufmerksamkeit auf Kullmanns Tisch. Kein Wunsch lieb lange offen. Zum Abschluss des Abends bestellte Kullmann für alle noch einen hochprozentigen Pflaumenschnaps namens „Sljivovica“, der ihnen so heftig im Hals brannte, dass niemand mehr Lust auf einen zweiten hatte.

Im Abendrot spazierten sie über die Promenade wieder zurück in Richtung Hotel. Der Gitarrenspieler spielte inzwischen verträumte Klänge, Grillen zirpten, leise schwappte das Wasser ans Ufer.

Lisa war aufgewacht, blieb aber ruhig in ihrem Buggy sitzen, ein deutliches Zeichen für ihre Müdigkeit. Mit großen Augen schaute sie sich um. Gemächlich überquerten sie den großen Platz, dessen Mitte ein Brunnen zierte. Das östliche Stadttor zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Barockes Tor aus dem 17. Jahrhundert, an dessen Rundbogen – dem Balbie-Bogen - je rechts und links ein Wappen und in der Mitte der Markuslöwe, das venezianische Wahrzeichen, prangten. Durch diese Pforte schritten sie hindurch und gelangten in die Altstadt von Rovinj. In alle Himmelsrichtungen lagen vor ihnen schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster.

„Wie sagte Wilhem Tell schon einst?“, fragte Kullmann grinsend.

Anke antwortete: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen.“

„Doch leider sind hier viele hohle Gassen“, merkte Kullmann an. „Was würde Wilhelm Tell in dem Fall sagen?“

„Folget mir, ich komme nach.“

Kullmann lachte. Zusammen mit seiner Frau Martha folgte er Anke, die mit ihrem Kinderwagen den Weg einschlug, auf dem die meisten Touristen flanierten. Schon bald stellten sie fest, dass sie sich verlaufen hatten. Eingerahmt von Künstlerateliers voller Maler, die ihre Werke zum Verkauf anboten, führte die Via Grisia immer steiler bergauf, bis sie vor der großen Kirche der Heiligen Euphemia am höchsten Punkt der Stadt standen.

Im gleichen Augenblick begannen die Glocken des angrenzenden Glockenturms zu läuten.

Die Uhr schlug zweiundzwanzig Mal.

„Diesen Ort möchte ich mir ja gerne ansehen – aber am Tag, wenn die Kirche geöffnet ist“, bekannte Kullmann. „Wir werden wohl das ganze Stück zurückgehen müssen.“

„Mein Spürsinn hat uns wohl in die Irre geführt“, gestand Anke.

„Warum?“, fragte Kullmann. „Das ist ein sehr schöner Platz, den wir sonst nicht gesehen hätten.“

Anke wurde warm ums Herz. Dieser Mann, ihr ehemaliger Chef und Mentor gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, wie sie es niemals in ihrem Leben erfahren hatte. Umso schöner war es für sie, diesen Urlaub mit solchen wunderbaren Menschen zusammen verbringen zu dürfen.

Von neuer Neugier angetrieben schaute sie sich auf dem großen Platz um. Dicht am Abgrund entdeckte sie einen hässlichen, steinernen Bunker mit einer Stahlkuppel. Sie überlegte, ob sie vor einem Relikt aus dem II. Weltkrieg oder aus dem Balkankrieg stand. Kullmann trat auf sie zu und beantwortete ihr die Frage, ohne dass sie sie gestellt hätte: „Das ist ein sogenanntes MG-Nest aus dem II. Weltkrieg. In der Feldbefestigung wurden die Kampfanlagen ‘Nester’ bezeichnet. Sie sollten Schutz gegen Gewehrbeschuss und Splitter bieten."

Anke wollte darauf zugehen und sich das Bauwerk näher betrachten. Doch Kullmann schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er und seine Frau hatten andere Pläne. Sie umrundeten den großen Platz und stießen auf der anderen Seite auf eine Gasse, die steil bergab führte.

Dort bogen sie ein.

Das Kopfsteinpflaster stellte sich als gefährlich heraus. Die Pflastersteine waren glatt und rutschig. Immer wieder gerieten sie ins Schlittern, mussten sich hüten, nicht zu stürzen. Unten angekommen, war Kullmann außer Atem. Er hatte nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf seine Frau achten müssen. Anke hatte dagegen leichter gehabt. Der Kinderwagen hatte ihr Halt gegeben. Dieser Tag war der erste, an dem sie dankbar dafür war, ein solches Gefährt mit sich herumzufahren.

Kaum standen sie sicher auf ihren Beinen, trauten sie ihren Augen nicht. Direkt vor ihnen offenbarte sich das Hotel „Villa Angelo D’oro“.

„Wir sind den richtigen Weg gegangen, ohne es zu merken.“ Kullmann lachte.

Kullmann in Kroatien

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