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3. Kapitel
ОглавлениеErik musste den Umweg über die Lebacher Straße nach Walpershofen fahren. Die Neuhauser Straße über Rußhütte war für die Arbeit des Spurensicherungsteams immer noch gesperrt. Erik hatte Claudia während der Spezialausbildung als verdeckter Ermittler beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden kennengelernt. Damals war er noch verheiratet gewesen und Vater einer Tochter. Jedes Mal, wenn er Claudia ansah, sich an ihre gemeinsame Zeit erinnerte, spürte er diesen quälenden Verlustschmerz. Immer noch gab er sich allein die Schuld am Tod seiner Frau, weil er nicht wie versprochen zur Stelle gewesen war, um sie zum Arzt zu fahren. Stattdessen hatte er mit Kollegen so viel getrunken, dass ihm alles egal war, sogar seine Familie. Kathrin, seine Tochter, wäre inzwischen 14 Jahre alt, und sein zweites Kind, ein Junge, zwei. Die Gewissheit, einem Menschen, seinem Sohn, die Möglichkeit zu leben genommen – ihm niemals die geringste Chance gegeben zu haben - quälte ihn. Dabei hatte er sich auf das zweite Kind genauso gefreut wie zuvor auf das Erste. Würde es ihm jemals gelingen, mit dieser Schuld fertig zu werden?
Als er Claudia Fanroth kennengelernt hatte, befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Selbstherrlichkeit. Er war vom Glück verwöhnt: erfolgreich als Kriminalbeamter, die Frauen bewunderten ihn, seine Familie erfüllte ihn mit Stolz – all das war für ihn ganz selbstverständlich gewesen. Er hatte geglaubt, dass ihm alles in die Hände fiel, ohne viel dafür zu tun. Seinem Hochmut verdankte er es, dass er sich auf eine Affäre mit ihr eingelassen hatte. Heute bereute er, sich so gewissenlos verhalten zu haben. Er hatte seine Frau belogen, betrogen und im entscheidenden Moment im Stich gelassen.
»Was ist mit dir?«, fragte Claudia. »Ich habe dich lebenslustiger und draufgängerischer in Erinnerung.«
»Das war einmal«, entgegnete Erik knapp. Er hatte keine Lust, Claudia seine wahren Gefühle zu offenbaren. Ihre Beziehung war nur von kurzer Dauer gewesen und hatte sich ausschließlich auf die körperlichen Gelüste konzentriert. Warum also sollte er sich ihr anvertrauen. Im Grunde genommen kannte er sie gar nicht.
»Entschuldige, wenn ich dir zu nahegetreten bin.«
Erik schwieg daraufhin. Rasch fügte sie an: »Wir haben uns doch mal gut verstanden. Warum kann das heute nicht mehr so sein?«
»Ich habe doch gar nichts gesagt.«
»Eben. Ich möchte, dass du etwas zu mir sagst.«
»Der Zeitpunkt zum Reden ist denkbar schlecht. Wir müssen die Nachbarn des Opfers befragen, das geht nun mal vor«, entgegnete Erik schroff.
Sybille Lohmanns Haus stand weit von der Herchenbacher Straße zurückgesetzt, so dass es von Fremden leicht übersehen werden konnte. Eine lange Einfahrt führte darauf zu, die mit Bäumen und Sträuchern gesäumt war. Laub verteilte sich über dem Zufahrtsweg, was dem Haus eine Atmosphäre von Trostlosigkeit und Vernachlässigung verlieh. Der Wind wirbelte einige Blätter auf und wehte neue aus den Bäumen hinzu. Sie klingelten am Haus rechts daneben. Eine ältere Dame öffnete die Tür. Sie stellten ihre Frage nach dem Verhältnis zwischen Mutter Sybille und Sohn Sven, woraufhin die Alte sofort losplapperte: »Also diese beiden waren schon seltsam. Der Junge hatte niemals gleichaltrige Freunde oder Freundinnen. Die meiste Zeit hat er bei seiner Mutter verbracht.«
»Was ist daran so seltsam?«, fragte Erik.
»Sven hatte keine Freundin, zumindest keine, von der ich weiß. Aber wenn Sybille Besuch von drei jungen Damen bekam, dann benahm er sich immer, als sei er der Hahn im Korb. Dabei waren die Besucherinnen zu Sybille gekommen und nicht zu ihm. Das gab häufig Streit.«
»Wer waren die drei Frauen?« Claudia zückte sogleich ihren Notizzettel.
»Die eine habe ich sofort erkannt, das war Susi Holzer, die Hebamme aus unserem Dorf. Susi hatte sich nebenbei als Babysitterin ein bisschen Geld verdient. Sie liebt Kinder über alles.«
»Ist Susi Holzer in ihrer Funktion als Hebamme oder Babysitterin zu Sybille Lohmann gekommen?«
»Da war plötzlich ein Baby, keiner wusste Genaueres darüber«, grübelte die Alte. »Etwas ist dort passiert. Ich weiß leider nicht mehr genau was. Was ich aber beobachten konnte ist, dass Susi und Sybille heftigen Streit bekommen hatten. In letzter Zeit habe ich Susi nicht mehr gesehen. Nur noch die beiden anderen, Annette Fellinger und Rita Rech. Sie besuchten Sybille gelegentlich, aber diese Besuche wurden auch immer seltener.«
»Wie lange ist das nun her?«, fragte Erik hocherfreut über die Wendung seiner Ermittlungen.
»Das war im Frühling.« Die Alte war sich ganz sicher.
Erik und Claudia bedankten sich und begaben sich zum Haus auf der anderen Seite. Auf dem Weg dorthin meinte Claudia verächtlich: »Weißt du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass ich es in einem Dorf wie diesem nicht mehr aushalte?«
Erik nickte und fragte zurück. »Wie alt warst du, als du hier weggegangen bist?«
»Ich hatte gerade das Abitur gemacht und mich sofort in Wiesbaden an der Fachhochschule für Verwaltung angemeldet. Damals war ich zwanzig.«
»Hätte es nicht gereicht, von Walpershofen nach Saarbrücken zu ziehen? Musste es gleich ein anderes Bundesland sein?«
»Ich hatte meine Gründe.«
Erik spürte, dass nun er es war, der zu weit gegangen war. Sofort entschuldigte er sich und steuerte das Haus der Nachbarn zur anderen Seite an. Eine junge, dunkelhaarige Frau öffnete ihnen. Sie trug hautenge Leggins, die ihre schlanken Beine betonte, dazu ein Top, das kurz über dem Bauchnabel endete und Piercing-Schmuck freilegte. Nachdem Erik den Grund seines Besuches erklärt hatte, ließ die Frau unverhohlen ihren Blick an ihm herunter- und wieder heraufwandern, bevor sie die beiden bat einzutreten. Dabei machte es den Eindruck, dass sie Claudia am liebsten vor der Tür zurückgelassen hätte. Erik spürte die Blicke, erwiderte sie ebenso eindeutig und fragte: »Können Sie uns etwas über das Verhältnis zwischen Sybille Lohmann und ihrem Sohn Sven Koch sagen?«
»Oh ja«, meinte sie, bat die Polizeibeamten an einem großen Tisch in einem lichtdurchfluteten Raum Platz zu nehmen. Sie berichtete, während sie mit gekonntem Hüftschwung auf und ab ging: »Sven ist ein kleiner Schwerenöter. Zwar ist er gerade mal süße fünfundzwanzig Jahre alt, was ihn aber nicht daran hindert, mit Frauen wie mir zu flirten.«
Claudia verdrehte die Augen, weil sie ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen sollte.
»Was natürlich nicht heißen soll, dass ich zu alt für ihn bin«, säuselte sie weiter. Mit einem geschickten Satz schwang sie sich neben Erik, der diese hübsche junge Frau keine Sekunde aus den Augen ließ. »Ich stehe auf reifere Männer mit Erfahrung.«
»Gab es Streit zwischen Sven und seiner Mutter?«, fragte Erik gepresst.
»Nein! Sven liebte seine Mutter, was bei uns im Dorf natürlich immer auf Belustigung stieß.« Die junge Frau lächelte. Sie wandte ihren Blick von Erik ab und fixierte Claudia eine Weile, bis sie fragte: »Kann es sein, dass wir uns kennen?«
»Wir stellen hier die Fragen.«, blockte diese unfreundlich ab.
»Ihre Kollegin geht zum Lachen wohl auf die Toilette«, richtete sich die hübsche Frau an Erik, der über diesen Vergleich lächeln musste.
Das war zu viel für Claudia. Hastig sprang sie auf und rief: »Ich denke, es reicht.«
»Ich möchte noch wissen, ob Sie etwas über einen Streit zwischen Susi Holzer und Sybille Lohmann wissen«, drängte Erik.
»Ich weiß nur, dass Susi ein echter Kindernarr ist, die ihr Leben mit Babysitten oder als Hebamme verbringt, es aber bis heute nicht zu einem eigenen Kind gebracht hat.«
»Das ist aber kein Grund zum Streiten«, zweifelte Erik.
»Nein, das nicht. Zu einem Kind braucht man aber einen Mann. Haben Sie Kurt Lohmann, Sybilles verschiedenen Gatten gekannt?«, hakte die junge Frau nach.
Erik schüttelte den Kopf, schaute Claudia an, ob sie den Mann kannte. Aber die stand schon an der Haustür.
»Kurt sah verdammt gut aus und konnte keiner Frau widerstehen«, erklärte sie.
»Ihnen auch nicht?« Diese Frage konnte Erik sich nicht verkneifen, weil er spürte, wie ihm die Fantasie Streiche spielte.
»Erik, wo soll dieses Gespräch hinführen. Wir müssen noch arbeiten, falls du es vergessen hast«, unterbrach Claudia das Knistern zwischen den beiden.
»Hatte Susi Holzer ein Verhältnis mit Kurt Lohmann und Sybille hat davon erfahren?«, beeilte Erik sich, endlich etwas Brauchbares von der Zeugin zu erfahren.
»Finden Sie es heraus«, flötete sie ihm stattdessen ins Ohr.
Hastig eilte Erik hinter Claudia her und war in dem Moment tatsächlich froh, seine Kollegin dabei zu haben.
»Kennst du diese Frau?«, fragte er auf der Straße.
Der Wind blies kalt, die Wolken hingen bleischwer am Himmel und kündigten den nächsten Regenschauer an. Erik strich seine vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht.
»Nein! Zumindest kann ich mich nicht an sie erinnern. Immerhin liegt es jetzt fünfzehn Jahre zurück, seit ich von dort weggegangen bin. Wer weiß, vielleicht war sie damals noch gar nicht auf der Welt.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Wenn du etwas mit ihr angefangen hättest, hätte ich dich auf alle Fälle wegen Verführung Minderjähriger angezeigt.«
»Sonst hast du wohl keine Probleme.« Erik wurde ungehalten. »Ich frage dich das, weil sie sich an dich erinnert hat. Es hätte ja sein können …«
Am nächsten Haus öffnete ihnen ein alter, knochiger Mann mit einem unfreundlichen Gesichtsausdruck und einer knurrigen Stimme, die herauspresste: »Was wollen Sie?«
Erik erklärte den Grund seines Besuches, worauf der alte Herr murrte: »Dieses Weib hat bisher nur Scherereien gebracht. Es ist ein Wunder, dass es sie nicht schon viel früher erwischt hat.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Claudia.
»Sybille hat es mit der Treue nie so genau genommen. Wer weiß, vielleicht hat einer ihrer vielen Liebhaber sich an ihr gerächt. Heute den, morgen den. Was ist das für ein Leben? Sie weiß noch nicht einmal, von wem ihr Sohn ist. Da soll der Bursche mal besser werden als seine Mutter.«
»Was macht Sven? Hat er auch ständig neue Liebschaften?«, fragte Erik.
»Er läuft hinter Frauen her, die so alt sind, dass sie seine Mutter sein könnten. Das ist doch nicht normal«, schimpfte der Alte.
»Warum ärgert Sie das?« Die Übellaunigkeit des Alten übertrug sich auf Erik. »Sie wird er wohl kaum belästig haben.«
»Mich nicht, aber dafür meine Enkelin. Dabei hat sie kein Interesse an ihm, weil sie nicht auf Grünschnäbel steht. Sie ist ein ordentliches Mädchen und wird sich ihr Leben nicht mit einem Hallodri wie Sven verderben lassen.«
»Wer ist ihre Enkelin?«
»Meine Enkelin heißt Annette Fellinger.«
Diese Antwort ließ Erik und Claudia aufhorchen. War der Name nicht gerade erst vor wenigen Minuten gefallen?
»Wie gut kennen sich Ihre Enkelin und Sybille Lohmann?«
»Soweit ich weiß, haben sie mal zusammengearbeitet. Dabei hat Sybille bestimmt erkannt, dass Annette beliebt war. Sie hatte sich diese Eigenschaft zunutze gemacht, indem sie sich Annette einfach anschloss, um von ihrer Beliebtheit zu profitieren. War ihr bestens gelungen. Sybilles Leben war so schillernd, dass ich bei der Erwähnung ihres Namens an Josefine Mutzenbacher denken muss.«
»Das sind harte Worte«, tadelte Erik.
»Sehen Sie es, wie Sie wollen.«
Mit einem heftigen Knall warf er die schwere Holztür zu.
»Ich glaube, heute ist nicht unser Tag«, stellte Erik frustriert fest.
Eiskalter Regen tropfte herunter. Missmutig schaute Erik zum Himmel, was seine Stimmung nicht besserte. Die Wolken wurden immer dunkler, der Wind immer heftiger und der Regen immer stärker.
Im Laufschritt eilten sie zum nächsten Haus.