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4. Kapitel
ОглавлениеÜber Sybille Lohmann gab es keine Akte. Sie hatte sich in ihrem kurzen Leben – 45 Jahre – nichts zuschulden kommen lassen. Anke bedankte sich bei Fred Feuerstein und kehrte zurück in ihr Büro. Die ganze Abteilung war verwaist. Es gefiel ihr nicht, allein dort zurückzubleiben und sich mit der Suche nach der Versicherungsgesellschaft herumzuschlagen. Außerdem war inzwischen Feierabend, so dass sie ohnehin nichts mehr erreichen konnte. Kurz entschlossen brach sie auf und fuhr zu Susi Holzer. Die anonymen Anrufe beschäftigten sie, obwohl Forseti ihnen keinerlei Bedeutung beimaß. Ankes vage Vermutung, dass Susi mit ihren Freundinnen am Unfallort vorbeigekommen war, wollte sich nicht einfach verleugnen lassen. Wer wusste schon, ob Susi alles erzählt hatte.
Um nach Riegelsberg-Walpershofen zu gelangen, musste Anke über den Ludwigskreisel in die Lebacher Straße am Rastpfuhl vorbeifahren. Dort hatte sich in den letzten Jahren viel verändert. Die alte Fußgängerbrücke am Cottbusser Platz war vor fünf Jahren eingestürzt. Inzwischen war sie durch eine Straßenbahnüberführung ersetzt worden. Seit dem Bau der Straßenbahnschienen, war der Verkehr auf dieser Straße noch dichter geworden, trotz der Bemühungen, durch das erweiterte Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, den Autoverkehr zu reduzieren. Mühsam kämpfte Anke sich durch bis zur Autobahn A1, die nach Riegelsberg führt. Erst dort konnte sie aufatmen und Gas geben, damit sie schneller ans Ziel kam. Susi wohnte im ersten Stock ihres Elternhauses, ein kleines, altes Haus in der Herchenbacher Straße. Ihre Mutter lebte im Erdgeschoss. Das freistehende, gepflegte Haus stand von der Hauptstraße zurückgesetzt. Als Anke vorfuhr, parkte dort bereits ein Auto, ein sportliches BMW-Coupé in Silbermetallic. Dieses Auto gehörte nicht Susi, das wusste Anke genau. Sie stellte ihren Wagen nur ungern dahinter ab, weil ihr rostiger Kleinwagen schäbig von diesem Luxusgefährt abstach. Neugierig stieg sie aus, umrundete das fremde Fahrzeug mit prüfendem Blick, ob sich daran Unfallspuren zeigten. Aber sie konnte nichts erkennen, der Lack war makellos. Sie klingelte. Kurz darauf wurde die Tür von Susi geöffnet.
»Hallo Anke, schön dass du kommst. Meine Freundinnen Rita und Annette sind auch da.«
Über eine schmale, alte Treppe ging es in den ersten Stock. Weiter führte der Weg durch einen Flur in ein helles, freundliches Zimmer, das trotz seiner gediegenen, altmodischen Einrichtung gemütlich wirkte. Dort saßen zwei Frauen, die sofort aufsprangen, als Anke den Raum betrat. Hastig kam die dunkelhaarige junge Frau auf Anke zu und reichte ihr schon von weitem die Hand.
»Ich bin Rita Rech«, stellte sie sich vor. Sie hatte schwarze, wellige Haare, die bei jeder ihrer Bewegungen mitwippten. Ihr Teint war blass, im Kontrast dazu hatte sie ihre Lippen dunkelrot geschminkt. Die andere Freundin war Annette Fellinger. Ihr Gesicht war leicht gebräunt, als besuchte sie regelmäßig ein Sonnenstudio. Sie trug ihre blonden Haare fast bis zur Hüfte. Beide waren bekleidet mit hautengen Leggins, Turnschuhen und Oberteilen, die so eng anlagen, dass ihre Brüste durchschimmerten. Trainingsjacken hatten sie lässig über ihre Schultern geworfen. Außerdem zierte Annettes Gesicht ein lilafarbenes Stirnband, das besonders gut zu ihren grünen Augen passte. Anke war erstaunt über die Gegensätze dieser Freundinnen. Zwischen Rita und Annette wirkte die kleine, pummelige Susi bieder.
Als Rita die prüfenden Blicke von Anke bemerkte, erklärte sie: »Wir kommen gerade vom Jogging.«
»Seit ihr in einem Lauftreff?«, fragte Anke.
»Ja, im Lauftreff Köllertal. Aber es kommt schon mal vor, dass wir nur für uns laufen. Manchmal braucht man einfach seine Ruhe und wo bekommt man die besser als im Wald.« Rita klang froh gelaunt.
»In welchem Wald lauft ihr?«
»Wir treffen uns in Köllerbach-Rittenhofen, überqueren die Hauptstraße und laufen bis in den Wald bei Schwarzenholz.«
»Das klingt, als sei es eine weite Strecke.« Anke staunte.
»Wir trainieren regelmäßig, deshalb sind wir topfit. Aber deshalb bist du bestimmt nicht gekommen. Wir freuen uns natürlich, dass du unserer Freundin helfen kannst.«
»Ich muss dich leider enttäuschen«, richtete Anke sich an Susi. »Mein Chef hat einer Fangschaltung nicht zugestimmt.«
Enttäuscht seufzten die drei Freundinnen auf.
»Hat er sich wieder gemeldet?«
»Nein.«
»Hast du ihm bei seinem letzten Anruf etwas gesagt, was ihn von weiteren Anrufen fernhalten könnte?«, bohrte Anke weiter.
»Ich habe ihm gesagt, dass meine Freundin beim Landeskriminalamt arbeitet und dass ich ihr alles erzählt habe. Das hat wohl Wirkung gezeigt.«
Das machte die Situation noch interessanter, fand Anke. Darüber musste sie unbedingt mit Erik sprechen, denn nur er machte sich die Mühe, ihre Vermutungen ernst zu nehmen.
»Ist euch beiden etwas auf dem Nachhauseweg Samstagnacht aufgefallen?«, richtete sie sich nun an Rita und Annette.
Die beiden Frauen legten sofort feindselige Mienen auf. Annette übernahm das Reden: »Sybilles Tod trifft uns sehr, aber wir haben nichts damit zu tun.«
»Habe ich das gesagt?«, parierte Anke. »Wollt ihr nicht wissen, wie es zu diesem tragischen Unfall kam, gerade weil es eure Freundin ist?«
Damit hatte sie Annette den Wind aus den Segeln genommen. Sie lenkte ein und antwortete: »Uns ist auf dem Heimweg nichts aufgefallen. Wir waren betrunken und nicht gerade aufmerksam. Susi ist gefahren, weil sie am nüchternsten von uns dreien war.«
Rita begann zu kichern, was Anke stutzig machte. Wie nah ging ihr Sybilles Tod wirklich?
»Was ist jetzt plötzlich so lustig? Euren Stimmungsschwankungen kann ich nicht so ganz folgen.«
»Das Einzige, was ich noch weiß, ist die Sternschnuppe am Himmel«, erklärte Rita. Ihr Lachen wurde immer lauter, bis Annette und Susi mit einstimmten, als habe sie einen urkomischen Witz gemacht. Anke musste warten, bis die drei kichernden Frauen sich beruhigten, bevor sie nachhaken konnte: »Was für eine Sternschnuppe in einer kalten, verregneten Oktobernacht?«
»Das ist es ja gerade: Wir haben schon halluziniert«, erklärte Rita.
»Susi, du hast mir doch etwas von einem Fahrer gesagt, der stark aufgeblendet hatte«, erinnerte Anke sich.
»Das war die Sternschnuppe«, gestand Susi.
»Ist es denn möglich, dass du von deiner Fahrspur abgekommen und auf die Gegenfahrbahn geraten bist, weshalb das entgegenkommende Fahrzeug aufgeblendet hat?«
Susi staunte über diese Theorie. Annette und Rita wurden ebenfalls ganz still.
Anke erhob sich von ihrem Platz und ging zu dem großen Fenster. Von dort reichte die Sicht über Felder und vereinzelte Baumgruppen bis zum nächsten Ort.
»Ist das Riegelsberg, was ich von hier aus erkennen kann?«, fragte Anke.
»Nein, das ist Köllerbach-Etzenhofen«, antwortete Susi.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Dämmerung brach herein. Im heftigen Wind bogen sich die Bäume, deren Laub in rot, braun und gelb schimmerte. Ankes Blick wanderte zurück zum Hof des Hauses bis hinauf zur Fensterbank, als sie etwas entdeckte, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Vorsprung war schmutzig und abgenutzt. Neugierig ließ sie ihren Blick nach links zu einer Regenrinne wandern. Diese Rinne war mit stabilen Streben befestigt, so dass sie die Funktion einer Leiter erfüllte. Ankes Blick verfolgte dieses Rohr, das im Hof endete und spürte instinktiv, dass dieser Weg einen Fluchtweg darstellte. Sofort erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend. Von ihrem Zimmer aus gab es auch eine Möglichkeit, über das Garagendach in den Garten zu gelangen. Diesen Geheimweg hatte sie oft benutzt, um spätabends noch zu Freunden gehen zu können, wenn sie sich mal wieder von ihren Eltern unverstanden fühlte. Die Spuren vor Susis Fenster machten den Eindruck, als würde dieser Weg immer noch regelmäßig benutzt.
Als sie sich umdrehte, schaute sie in angespannte Gesichter. Was sie dort entdeckt hatte, war also ein Geheimnis. »Mit welchem Auto seid ihr gefahren?«
»Mit meinem Suzuki«, antwortete Susi. »Er steht neben dem Haus.«
Sie begaben sich nach draußen, an Annettes Auto vorbei zur Seite des Hauses, die von der Straße aus nicht einzusehen war. Dort stand ein dunkelgrüner Suzuki, den Anke bei ihrer Ankunft nicht bemerkt hatte. Ein Bewegungsmelder erleuchtete den Abstellplatz, so dass Anke das Auto genauer erkennen konnte. Es war verschmutzt und an einigen Stellen verkratzt. Prüfend ging sie um das Fahrzeug herum. An der vorderen Stoßstange waren mehrere Beulen, unterhalb des linken Scheinwerfers war der Lack ab und der linke Kotflügel leicht eingedrückt. Außerdem waren Rostflecken an der gesamten Karosserie zu erkennen. Da war es schwierig, alte Schäden von neuen zu unterscheiden.
»Wir werden nicht umhinkönnen, das Fahrzeug in unserem Kriminallabor zu untersuchen«, stellte Anke fest und rief sofort den Teamleiter der Spurensicherung, Theo Barthels an.