Читать книгу GESICHT ist GESICHT - Ella Wessel - Страница 5

Kapitel 2 - Samuel Berger

Оглавление

Heute, fünfundzwanzig Jahre später, wohne ich in einer Seniorenresidenz in einem idyllischen Stadtteil von Lübeck, direkt an der Ostsee. Die Bilder in meinem Kopf, von dem Ereignis in der Schweiz, hatten sich über viele Jahre hartnäckig gehalten. Vermutlich, weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Aber im Laufe der Zeit hatte ich diese Dämonen in den hintersten Winkel meines Gehirns verbannt und in Ketten gelegt. Erst jetzt im Alter, wo ich interessante Gespräche mit meinem neuen Zimmernachbarn Samuel führe, kommen diese Erinnerungen wieder hoch.

Es ist Spätherbst, die ersten Nachtfröste sind schon zu spüren und die Touristen, die sich hier in den Sommermonaten tummeln, sind längst abgereist. Die Gärtner fegen in den Grünanlagen das restliche Laub zusammen und einige Rosen strecken noch stolz ihre Köpfe in den Wind und trotzen der Kälte, als wollten sie sagen, schaut her wir werden den Winter überleben. Monströse schwimmende Metallkisten, die hunderte von Fahrzeugen in ihrem Bauch verschlingen und dann so märchenhafte Namen wie Peter Pan, Robin Hood oder Huckleberry Finn tragen, ziehen täglich vor meinem Fenster vorbei. Graue bis schwarze Rauchwolken steigen aus ihren Schornsteinen in den Himmel empor.

Der Wind kommt aus Nord-West und bläst den Ruß der Nils Holgersson, die täglich pünktlich um 10 Uhr aus Trelleborg hier einläuft, in meine Nase. Obwohl es das sauberste Schiff der gesamten Flotte ist, die hier täglich von und nach Skandinavien unterwegs sind, stinken sie immens aus ihren Schornsteinen und hinterlassen ganz feine schwarze Staubpartikel auf der Wäsche, die gerade auf dem Balkon steht. Und diese kleinen Staubpartikel atmen wir täglich ein. Es war schon eine riesige Umstellung für mich, mein großes Haus in Blankenese, mit seinen 180 Quadratmetern, und mit Blick auf den Süllberg und die Elbe, gegen dieses 45 Quadratmeter kleine Appartement mit Balkon und Blick auf die Trave, einzutauschen. Mit meiner kleinen Rente und der bescheidenen Witwenrente meines Mannes hätte ich das Haus nicht mehr lange halten können. Es war mir nicht wert, meine Ersparnisse darin zu investieren. Mit dem zusätzlichen Geld aus dem Hausverkauf kann ich mir einen unbekümmerten und glückseligen Lebensabend gestalten. Zu meinem achtundsechzigsten Geburtstag, das ist jetzt gut acht Monate her, bin ich hier eingecheckt und fühle mich mittlerweile ganz wohl. Auf den Wasserblick und die Schiffe wollte ich nicht verzichten, deshalb habe ich diese Residenz für mich auserkoren. Meine wenigen verbliebenen Freunde aus Hamburg haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Was willst du da, du bist nicht mal siebzig? Ich habe meine Gründe.

„Frau Seidel, solange Sie kein Cannabis auf ihrem Balkon züchten, dürfen Sie jegliche Art von Kräutern in angemessenem Rahmen in Ihre Balkonkästen pflanzen“, hatte mir der Direktor des Hauses bei meinem Einzug gesagt, als ich ihm wehmütig von meinem Kräutergarten erzählte. Wie kam er gerade auf Cannabis? Was für ein Zufall. Ein bisschen kiffen würde den Bewohnern des Hauses vielleicht ganz gut tun. Eine lustige Truppe alter Leute in einer Seniorenresidenz, das wäre doch mal was. Marihuana soll ja gegen das Vergessen im Alter gut sein.

Herr Berger, hellgraue fast weiße bürstenkurze Haare mit einem Wirbel am Hinterkopf, der die Haare dort in alle Himmelsrichtungen abstehen lässt, seine Haltung leicht gebückt, den Kopf nach vorne gestreckt und die Hände beim Gehen immer auf dem Rücken, ist seit drei Monaten mein neuer Nachbar in der Residenz. Manchmal wenn er es eilig hat – was er meistens nicht hat - schlenkert er mit seinem rechten Arm hin und her und den linken hat er dabei immer noch auf dem Rücken, so wie beim Eisschnelllaufen, nur wesentlich langsamer. Zu Beginn standen wir auf Kriegsfuß, aber jetzt verstehen wir uns blendend. Unser Musikgeschmack ist sehr konträr und anfangs sind wir deswegen oft aneinander geraten, weil sich jeder von uns durch die zu laute Musik des anderen gestört fühlte. Santana meets Beethoven. Oder so ähnlich. Die nette Dame an der Rezeption, die für alle immer ein offenes Ohr und ein offenes Herz hat, meinte, wir sollten es mal mit Kopfhörern versuchen. Wie gesagt so getan, und alle sind glücklich.

S. Berger steht auf seinem Türschild und nachdem sich unsere Gemüter wieder beruhigt haben, frage ich ihn, was das S. zu bedeuten hat. „Das wird wohl der Anfangsbuchstabe meines Vornamens sein“, gibt er mir etwas zynisch zur Antwort.

„Und den wollen Sie mir jetzt nicht verraten“, sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen, als er seine Tür aufschließt, während ich mein Appartement gerade verlassen will.

„Ich bin Christina.“ Einen Augenblick zögert er.

„Samuel, angenehm“. Sein Händedruck ist noch beeindruckend kräftig. Er geht in sein Zimmer und ich los, um in der Dämmerung noch einen kleinen Abendspaziergang zu machen. Als ich schon fast am Aufzug bin höre ich jemanden meinen Namen rufen. Ich drehe mich um und Samuel steht in seinem Türrahmen und ruft „Christina, darf ich Sie nachher noch auf ein Gläschen Wein einladen?“

Während meines Spazierganges am Wasser entlang, die Silbermöwen kreischen und kreisen über meinem Kopf, vermutlich war gerade einer der Fischer mit frischem Fang vorbei gefahren, fallen mir wieder die Wortspielchen ein, die ich mit meinem Sohn zu gerne gespielt hatte als er noch klein war. Damit konnten wir ihn unterwegs im Auto immer bei Laune halten. Durch Umstellung von Buchstaben oder Silben eines Wortes, ein neues sinnvolles Wort bilden. Aus Samuel mache ich Mausel. Das ergibt natürlich keinen Sinn, also setze ich einen Doktor vorweg und schon habe ich einen Dr. Mausel, oder noch besser Professor. Er ist bestimmt schon Ende Siebzig, vielleicht schon in den Achtzigern, sieht immer sehr adrett und gepflegt aus, mit seinen akkurat gebügelten weißen Hemden mit klassischem Kent-Kragen und den schicken Fliegen dazu, die er zum Mittagessen stets trägt. Um 19 Uhr klopfe ich an seine Tür und begrüßte ihn mit „guten Abend Herr Professor Mausel, vielen Dank für die Einladung.“ Diesen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen, er sieht mich an, als würde ich von einem anderen Planeten kommen. Ich lache herzhaft und erkläre ihm, dass Mausel ein Anagramm seines Vornamen ist und ich ihn gerne in Zukunft so nennen möchte.

„Sie wissen ja, im Alter wird man wieder kindisch.“

„Mausel, hört sich so an wie Schatzel. Meine Schulkameraden haben mich früher nur Samu genannt.“ Den Wink mit dem Zaunpfahl habe ich natürlich sofort verstanden.

„Na super, die Maus hört sich ja gleich viel besser an. Samuel ist ein Name den man nicht so oft hört.“

„Ein biblischer Name der aus dem Hebräischen stammt. Bitte, setzen Sie sich. Möchten Sie Weißwein oder lieber einen Roten.“

„Gerne Rotwein, der ist gesünder fürs Herz.“

„Sind Sie hier aus der Gegend Christina, oder wie hat es Sie hierher verschlagen?“

„Ich bin gebürtige Berlinerin, wohnte aber seit Ende der 1960er Jahre in Hamburg und seit etwa einem Jahr bin ich hier.“

Er nimmt zwei Weingläser aus seiner Vitrine und schenkt uns einen Merlot ein. Die Flasche hat keinen Korken, sondern einen Schraubverschluss und ist schon angebrochen. Auf der obersten Glasplatte stehen einige Bilderrahmen mit teilweise alten Fotos, die ich aber aus der Entfernung nicht klar erkennen kann, obwohl das Licht in der Vitrine die Fotos anleuchtet. Auf der Glasplatte darunter befinden sich ein Sammelsurium von größeren und kleineren Gläsern und einige neutrale Weingläser. Die beiden Regale darunter sind mit Büchern vollgestellt. „Zum wohl, trinken wir auf unsere gemeinsame musikalische Nachbarschaft. Darf ich im Hintergrund etwas Klassik laufen lassen?“

„Ja natürlich, ich mag klassische Musik hin und wieder auch sehr gerne, aber nichts Melancholisches wie Brahms oder Wagner, das schlägt mir so aufs Gemüt.“

„Wie wäre es mit den Vier Jahreszeiten von Vivaldi?“

„Ja, Vivaldi ist in Ordnung, den Frühling bitte.“

“Das freut mich. Meine Geburtsstadt ist übrigens auch Berlin.“

„Was für ein Zufall, dann haben wir ja schon mal einiges gemeinsam. Ich sehe Sie lesen gerne“, sage ich und zeige mit der Hand auf seine Bücher.

„Ja, Bücher gehören in meiner Familie so zum Leben, wie ein Glas Wein zu einem guten Essen. Meine Großeltern und meine Mutter waren Juden. Meine Mutter musste 1933 mit ansehen, wie die Bücher ihres Vaters verbrannt wurden. Er war Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.“

„Ha, ich wusste doch, dass Ihnen der Professorentitel zusteht. Entschuldigung, ich wollte Sie nicht unterbrechen.“ Ein joviales Lächeln huscht über sein Gesicht.

„Zahlreiche jüdische Studenten verließen seinerzeit den Campus rechtzeitig und emigrierten nach Palästina oder in die USA. Mein Großvater blieb und wurde später deportiert und ermordet. Mit ihm viele andere jüdische Verwandte. Wissen Sie eigentlich, dass Göbels bei einem jüdischen Professor seine Doktorarbeit in Germanistik geschrieben hat?“

„Nein, das weiß ich nicht, das ist ja makaber. Ich bin Gott sei Dank ein Nachkriegskind und kenne die furchtbaren Geschehnisse des zweiten Weltkrieges nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen von Zeitzeugen wie Ihnen. Ich habe mich nie wirklich damit befasst. Sie sagten, Ihre Großeltern und Ihre Mutter waren Juden, was ist mit Ihrem Vater und Ihnen? Erzählen Sie gerne weiter.“

„Meine Mutter hatte bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin einen der französischen Athleten kennen und lieben gelernt. Die beiden haben zwei Jahre später geheiratet und ich bin Anfang 1939 kurz vor Ausbruch des Krieges auf die Welt gekommen. Der deutsche Standesbeamte hat bei dem französischen Nachnamen Bergér den Accent aigu auf dem zweiten e, auf dem die Betonung des Namens liegt, vergessen. Es wurde nicht sofort bemerkt und ließ sich später nicht mehr korrigieren. Und somit bin ich ein deutscher Berger mit Betonung auf dem ersten e. Der Mädchenname meiner Mutter war Goldberg. Sie ließ mich katholisch taufen, um damit ihr Kind vor den Widrigkeiten des Krieges und dem Holocaust zu bewahren. Es war ihr gelungen. Vielen anderen nicht. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, er ist uns im Krieg abhandengekommen. Genau wie der Accent aigu. Aber, entschuldigen Sie, ich möchte Sie nicht langweilen mit meiner Familiengeschichte.“

„Nein, nein, überhaupt nicht, ich finde das höchst interessant. Sie sind aber nicht wirklich Professor, oder?“ Da ist wieder das verschmitzte Lächeln in seinen Mundwinkeln.

„Nein“, erwidert er: „ich hatte aber das Glück in der schweren Zeit nach dem Krieg in einem Internat aufzuwachsen und studieren zu dürfen. Nach meinem Pharmazie-Studium war ich zuerst bei einem großen Pharmakonzern tätig und habe später mehr als 20 Jahre lang eine eigene Apotheke geführt. Das gehört jetzt aber schon der Vergangenheit an. In meinem Alter lebt man nur noch von Erinnerungen, man erlebt wenig Neues.“

„Na ja, so würde ich das jetzt nicht unbedingt bestätigen wollen. Ich zum Beispiel habe heute einen sehr netten, sympathischen Menschen kennengelernt und dazu einiges erfahren, das ich bisher noch nicht wusste.“

Sein bequemer Sessel, den Professor Maus mir überlassen hat und dazu der Rotwein, haben mich schläfrig gemacht.

„Es ist jetzt auch schon spät geworden und ich möchte die überaus nette Unterhaltung für heute beenden. Aber eines müssen Sie mir noch verraten. Wer kümmert sich um Ihre so sorgfältig gebügelten Hemden?“

„Ich selbst, das Waschen übernimmt ja die Maschine und ich bügele für mein Leben gern, das entspannt, wenn man dabei Musik hört.“

„Das ist ja phänomenal. Ein Mann der gerne bügelt und noch dazu so spitzenmäßig. Sie werden mir immer sympathischer. Waren Sie nie verheiratet?“

„Doch, sehr gut und sehr lange. Es war der Wunsch meiner Frau, die lange gelitten hat, nach ihrem Tod hier an der Ostsee eine Seebestattung zu erhalten, und mich in dieser Residenz versorgt zu wissen.“

„Lange gelitten…? Sie als ehemaliger Apotheker hätten das doch verhindern können.“

„Wir reden ein anderes Mal weiter, ich bin jetzt auch müde.“

„Gute Nacht Herr Professor Maus.“

GESICHT ist GESICHT

Подняться наверх