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Kapitel 3 - Dezember 2018
ОглавлениеEs ist Ende November, die Adventszeit beginnt und leuchtende Tannenbäume stehen plötzlich überall in den Straßen und säumen die Uferwege der Trave. Ich liebe diese Jahreszeit in der es sich so schön träumen lässt. Viele Bewohner des Hauses haben den November nicht überlebt, der Krankenwagen kam fast täglich mit der Fähre zu uns herüber und fuhr ohne Fracht an Bord wieder weg. Das übernahm dann diskret ein anderer Wagen. Es ist der einzige Nachteil, wenn man in einer Seniorenresidenz wohnt. Man wird sehr oft mit dem Tod konfrontiert, aber die Vorteile überwiegen bei Weitem. Man hat seine eigene Wohnung, kann tun und lassen, was man möchte, bekommt einmal am Tag eine warme Mahlzeit und es wird sich gekümmert wenn man Hilfe braucht. Vor zwei Tagen hatte ich mal wieder meinen kleinen grünen smarten Flitzer aus der Garage geholt und war mit einer anderen alten Tante - so nennt man uns hier weitläufig im Ort, was ja auch nichts Schlimmes ist, wenn man es mit Humor nimmt – in meine alte Heimat nach Hamburg zum Stadtbummel und Kaffee trinken gefahren. Zweimal im Jahr, im Frühjahr und Winter, brauche ich das. Frau Kaiser wollte unbedingt mitfahren, als sie hörte was ich vorhatte. Sie trifft sich einmal in der Woche mit einigen anderen Damen nachmittags im Restaurant zum Bridge. Alle sind immer fein herausgeputzt, mit Perlenketten oder schicken Halstüchern zu weißen Blusen, viel Goldschmuck an den Fingern und Ohren, so als ob sie im Ballsaal auf einen guten Tänzer warten würden. Sie hat mich schon einige Male zum Mitspielen animiert, aber ich kann mich noch nicht dazu durchringen.
„Fahr nicht so schnell“, sagt Frau Kaiser auf dem Beifahrersitz meines Wagens, als wir auf der Autobahn sind.„Ich fahre nicht schnell, das kann man mit einem Smart gar nicht. Zumindest nicht mit diesem, der hat nur eine kleine Maschine drin.“
„Hier ist achtzig erlaubt und du fährst hundert….“ Ich verdrehe die Augen und reagierte nicht weiter auf ihr Geschwätz. Das Auto habe ich mir kurz vor meinem Umzug gekauft, damit ich im Alter noch mobil bleibe, falls irgendwann meine Beine nicht mehr so wollen wie mein Gehirn es verlangt. Ich hoffe inständig, dass es in dieser Reihenfolge passiert und nicht andersherum. Von früher bin ich andere Kaliber gewohnt. Große Luxusschlitten, in denen mein Mann die linke Spur der Autobahn grundsätzlich für sich beanspruchte. Aber das ist lange her und ein anderes Kapitel. Ich habe nicht bedacht, dass Frau Kaiser nicht mehr so flott auf den Beinen ist und mit meinem Schritt nicht mithalten kann. Zwei Kaufhäuser und ein Café sind mir bei diesem Ausflug nur gegönnt. Auf dem Rückweg, es ist wieder Stau und Umleitung wegen einer Demo in Hamburg angesagt, kommen wir zufällig an einer Patisserie vorbei die von außen, also von unserem Standort an der roten Ampel, sehr einladend aussieht. Genau davor wird gerade eine Parklücke frei. Es geht sowieso nur im Schritttempo vorwärts und so nutzen wir den Moment, um noch einmal anzuhalten. Frau Kaiser hat eine schwache Blase und hat mir schon signalisiert, dass ich auf der Autobahn an der nächsten Raststätte wohl nochmal anhalten müsse. So kommt uns dieser Stopp ganz gelegen. Die freundliche Französin bietet uns an, ein Stück von ihrer selbst gemachten Bûche de Noël - eine französische Schoko-Biskuitrolle, ein traditionelles Weihnachtsgebäck aus Frankreich – zu probieren. Dieses Teil schmeckt so hervorragend, dass ich mir gleich noch eine halbe Rolle davon einpacken lasse. Verdammt sündhaft und verdammt teuer. Damit will ich Professor Maus überraschen, der mich wieder zum Kaffee eingeladen, und ich ihm gesagt habe, dass ich nur komme werde wenn ich das Gebäck mitbringen darf.
In dem Moment wo ich die Biskuitrolle auf den Tisch stelle und „voilá“ sage, was einfach so von mir dahin gesagt ist, ohne dass ich mir etwas dabei gedacht habe, steht Professor Maus wie versteinert da, hält sich mit den Händen an der Tischkante fest und sagt leise mit Tränen in den Augen: „ich erlebe gerade ein Déjà Vue. Je ne sais quoi dire. Sie machen mir Angst, Frau Seidel.“
Ich verstehe nicht sofort was er meint. Er denkt, irgendetwas schon mal erlebt zu haben, aber den Rest des Satzes habe ich nicht verstanden und bin sehr erstaunt darüber, dass er französisch spricht, merke jedoch, dass er etwas verwirrt ist. Ganz intuitiv sage ich: „Setzen Sie sich erst mal hin dann können wir über alles reden. Oft sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.“
Ich gehe zur Spüle nehme das schon benutzte Wasserglas das dort steht und fülle es mit Leitungswasser. „Hier, trinken Sie einen Schluck.“
So ganz allmählich kommt er wieder zur Ruhe. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns etwas verbindet. Ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt nur noch nicht was es ist. Ich schneide zwei Scheiben von der Biskuitrolle ab, lege sie auf unsere Teller, gieße uns den Kaffee ein, den er schon in eine Thermoskanne gefüllt hat und sage: „Na, dann erzählen Sie mir, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Wieso mache ich Ihnen Angst?“
„Glauben Sie an Zufälle?“
„Ich weiß es nicht, das habe ich mich auch schon oft gefragt. Es gab da mal ein Ereignis in meinem Leben, bei dem ich dachte, das sind ziemlich viele Zufälle auf einmal. Aber ich denke das ist keine Glaubensfrage. Wie kommt es, dass Sie so gut französisch sprechen? Ob es gut ist weiß ich natürlich nicht, weil ich der Sprache nicht mächtig bin, aber es klingt gut. Würden Sie mir bitte übersetzen, was Sie da eben gesagt haben“.
„Je ne sais quoi dire?“
„Ja.“
„ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Meine Frau war Französin und hat diesen Schokoladenbaum in der Weihnachtszeit immer für uns gebacken - und nun kommen Sie damit an.“
„Oh je, das tut mir sehr leid, aber ich konnte ja nicht wissen…“
„Schon gut“. Jetzt verstehe ich seine Reaktion und bin natürlich neugierig geworden.
„Wirklich viele Zufälle, die würden mich auch ins Grübeln bringen“ antworte ich und stehe auf, um mir die Fotografien in seiner Vitrine anzusehen, die hinter mir steht.
„Schmeckt Ihnen mein Kaffee?“
„Ja, hervorragend dieser Blümchenkaffee, ich mag ihn am Nachmittag auch lieber etwas dünner“ antworte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. Das hübsche Mädchen mit den langen blonden Locken, hat einen Blumenkranz im Haar verflochten und trägt ein weißes Spitzenkleid. Der junge Mann, der halb versetzt hinter ihr steht, trägt eine Fliege zum Anzug. Ein schwarz/weiß Foto mit gezacktem Rand in einem silbernen Rahmen. „Unverkennbar“ sage ich, „ist das Ihr Hochzeitsfoto?“
„Ja, das war im August 1968.“
„Ah, an die sechziger Jahre erinnere ich mich sehr gut. Das war die Zeit des Umbruches und der Gegensätze. Privat wie politisch. Einerseits rebellisch, revolutionär, aufsässig und inquisitiv, neugierig und bildungshungrig auf der anderen Seite. Anfang der sechziger Jahre der Mauerbau, zwei Jahre später der Besuch von J.F. Kennedy. „Ich bin ein Berliner.“ Dieses Zitat seiner Rede hat wohl niemand vergessen, und fünf Monate später wurde er erschossen.
Dann 1967 der Besuch des Schahs von Persien, mit seiner bildhübschen Frau Farah Diba. Der Grund für den Besuch des Schahs, hatte ich damals nicht begriffen und nur am Rande mitbekommen, dass große Demonstrationen und Aufstände in West-Berlin gegen den Staatsbesuch stattfanden, mit den anschließenden Krawallen der Aktivisten der Kommune 1 Bewegung. Daran müssten Sie sich doch auch noch erinnern.“
„Ja sicher, das waren Weltereignisse, aber zu dem Zeitpunkt waren wir nicht mehr in Berlin ansässig. Der Kuchen schmeckt übrigens ausgezeichnet, fast so gut wie der meiner Frau.“
„Da bin ich aber froh. Die Patisserie habe ich gestern in Hamburg zufällig entdeckt, während ich mit meinem Wagen einer Umleitung folgen musste. Aber bleiben wir kurz noch im Berlin der sechziger Jahre. Obwohl ich, wie ich bereits sagte, in Berlin aufgewachsen bin und wir in Kreuzberg, unweit der Mauer gewohnt haben, hatte ich das provokante Treiben der K1 Bewohner nur aus Radio und Fernsehen erfahren, denn diese Leute hielten sich nicht in unserem Stadtteil auf. Ich stamme aus einer kleinbürgerlichen Arbeiterfamilie und konnte mit de ganzen politischen Aktivitäten nichts anfangen. Es hieß zu Hause immer nur, halte dich fern von diesen Kiffern und arbeitsscheuen Kriminellen. Über Politik wurde bei uns nie gesprochen. Wenn ich mal eine Frage in diese Richtung gestellt hatte, bekam ich nur die lapidare Antwort, davon verstehst du nichts. Im Nachhinein weiß ich, dass es meinen Eltern peinlich war, weil sie selbst keine Ahnung von dem hatten, was da vor sich ging. Dinge zu hinterfragen, habe ich nie gelernt. Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich mein Elternhaus verlassen und mit einem Freund nach Hamburg gezogen war. Als unwissende, naive Berliner Göre in die große weite Welt, denn Hamburg war für mich unendlich weit weg. So wie heute New York. Die Worte meiner Stiefgroßmutter habe ich heute noch im Ohr: „Dann können wir uns ja vorstellen wo du landen wirst“, hatte sie gesagt.
„Und, wo sind Sie gelandet?“ „Nicht auf dem Strich, soviel kann ich schon vorweg nehmen. Ich war noch nicht volljährig und trotzdem haben meine Eltern mich gehen lassen. Eine Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin, haben sie mir nach meinem Hauptschulabschluss noch ermöglicht, weil ich lange darum gebettelt hatte. Mein Vater wollte mich in eine Fabrik zum Geldverdienen schicken. Was wollte ich als Frau mit einer Ausbildung, wenn ich sowieso bald heiraten würde. Meine Stiefmutter hatte sich letztendlich für mich stark gemacht. Das einzige Mal, wo sie etwas Sinnvolles für mich getan hat. Uns ging es finanziell wirklich dreckig, aber mein Vater hat seiner Frau nie erlaubt arbeiten zu gehen. Das war unter seiner Manneswürde. Vielleicht wollte sie auch nicht. Das ist auch etwas, was ich nie hinterfragt habe. Als Kind sowieso nicht. Später als Erwachsene Frau hat es mich nicht mehr interessiert.“
„Meine Mutter hat mir zwei Dinge ins Leben mitgegeben die durch nichts zu ersetzen sind. Liebe und Bildung. Sie war eine starke aber auch resolute Frau, von den Wirren des Krieges geprägt und immer für mich da, wenn ich sie gebraucht habe. Genau wie meine Frau. Ich brauchte wohl diese starken Frauen an meiner Seite um mich im Leben und in der Welt zurechtzufinden.“
„Wow, das nenne ich Charakterstärke, das zuzugeben. Und jetzt haben Sie mich – auf den letzten Metern zum Gipfel.“
„Das haben Sie aber nett gesagt.“
„Aber ich bin vermutlich nicht ganz so stark und habe viele Schwächen. Mögen Sie mir von Ihrer Frau erzählen?“
„Heute nicht mehr, vielleicht ein anderes Mal.“
Er weicht mir schon wieder aus.