Читать книгу GESICHT ist GESICHT - Ella Wessel - Страница 8
Kapitel 5 - Ascona 1993
ОглавлениеWir schreiben das Jahr 1993 und ich befinde mich an einem schönen sonnigen Tag im August mit meinem Wagen auf dem Weg in die Schweiz…
„Nein, nein, nein, das glaube ich jetzt nicht. Mit der Schweiz verbindet mich fast mein halbes Leben. Diese Zufälle sind ja schon beinahe gespenstig. Aber bitte, fahren Sie gerne fort, ich möchte Sie jetzt nicht mehr unterbrechen“, sagt Professor Maus.
…Ich fuhr ohne Eile und normalerweise brachte mich beim Autofahren so schnell nichts aus der Ruhe, weil ich gerne Auto fuhr. Alle Personen die bisher mit mir gefahren waren, bestätigten mir, dass ich eine gute und sichere Autofahrerin sei. Sogar mein Mann, der sich permanent über „Frau am Steuer“ aufregte.
Der gelbe Porsche der schon seit einigen Minuten an meiner Stoßstange klebte, machte mich jedoch nervös.
B - KA 964, ein Kennzeichen, das sich für immer und ewig in meinem Kopf festgesetzt hatte. Dann fahr schon vorbei du Schwachkopf, pöbelte ich lautstark in meinem Wagen. Ich hatte auf dem Weg in die Schweiz in einem kleinen Golfhotel am Bodensee übernachtet und mich am Morgen in aller Herrgottsfrüh auf den Weg gemacht um die Landschaft noch ein wenig genießen zu können. Die Wolken hingen tief in den Gipfeln des San Bernardino, aber die Sonne drückte bereits mit all ihrer Kraft, an diesem warmen Augustmorgen. Die meisten Reisenden nahmen den schnelleren Weg durch den gut sechs Kilometer langen Autotunnel, aber ich verließ kurz vorher die Schnellstraße und fuhr über den Pass. Ich liebte die Serpentinen mit ihren schlangenförmigen Windungen über dieses gewaltige Alpenmassiv, mit seinen vom Gletschereis rund geschliffenen Felsen und den kleinen Bergseen. Diese beeindruckende Schönheit der Natur faszinierte mich immer wieder, seit mein Mann und ich einige Jahre zuvor das erste Mal – mehr oder weniger zufällig – über den Pass gefahren waren, weil der Tunnel kurzfristig gesperrt war. Trotz dieser imposanten und bewundernswerten Landschaft wäre ich niemals auf die Idee gekommen, meinen Urlaub im Gebirge zu verbringen. Für mich fing der Urlaub an, wenn ich den Kanton URI verlassen und das Tessin, den südlichsten Kanton der Schweiz erreicht hatte. Mein Reiseziel war das malerische und mondäne Städtchen Ascona am Lago Maggiore…
„Kennen Sie Ascona?“, frage ich zwischendurch.
„Nur flüchtig, wir waren mehr am Genfer See beheimatet, dem französischen Teil der Schweiz.“
„Ja natürlich, Ihre Frau war ja Französin. In welcher Sprache haben sie sich unterhalten?“
„In beiden. Wenn sie etwas auf Französisch gefragt hat, habe ich in Deutsch geantwortet und umgekehrt.“
… Nun ja. Ascona, einst ein kleines Fischerdorf, heute eine Perle am Lago Maggiore, seit Jahrzehnten legendärer Treffpunkt von Künstlern und der Schickeria. Obwohl ich selbst leidenschaftliche Hobbymalerin war, zählte ich mich nicht unbedingt zu den Künstlern und schon gar nicht zur Schickeria, wobei man letzteres leicht mutmaßen konnte, wenn ich mit dem Mercedes meines Mannes in den Golfclub fuhr…
„Spielen Sie immer noch Golf?“, unterbricht mich Professor Maus.
„Ja, in den Sommermonaten gerne noch ein- bis zweimal in der Woche. Aber keine Turniere mehr. Ich warte schon sehnsüchtig auf den nächsten Frühling.“
…Selbstverständlich hatte ich auch dieses Mal neben diversen Haushaltsartikeln und einigen Dekorationsstoffen, mein Golfgepäck, einen kleinen Koffer mit Ölfarben und Pinseln und ein paar Leinwände im Kofferraum. Für die nächsten drei Wochen hatte ich mir vorgenommen, das Haus noch ein wenig zu gestalten und so richtig zu relaxen. Entspannen und abschalten konnte ich am besten beim Golfspielen und Malen. Zwei Jahre zuvor hatten wir uns in Ronco, einem beschaulichen und ruhigen Dorf oberhalb des Sees und unweit von Ascona entfernt dieses kleine Ferienhaus gekauft. Eines dieser typischen halbrunden Tessiner Häuser mit ihren roten Ziegeldächern. Am Ende der Dorfstraße am Hang gelegen und nur durch eine steile und unebene Steintreppe zu erreichen, was in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches war. Ursprünglich hatten wir die Absicht, uns in einem der Appartementhäuser in Ascona eine Wohnung zu kaufen und uns nur so zum Spaß etwas außerhalb dieses Haus angesehen. Es musste von innen von Grund auf renoviert werden, aber ich hatte mich sofort darin verliebt. Dieser traumhafte Blick von der Terrasse hinunter auf den Lago und die Bucht von Ascona. Das gesamte Grundstück war eingesäumt von üppiger, teilweise exotisch wirkender Vegetation. Zwischen Buchen, Birken, Palmen und Kastanienbäumen bildeten Adlerfarn und gewaltige bis zu vier Meter hohe Bambuspflanzen ein eindrucksvolles Unterholz. Eine bezaubernde und einzigartige Blütenpracht hing in dieser Frühlingswoche (es war Anfang April als wir das Haus besichtigt hatten) über der grauen Mauer und dem schmiedeeisernen Tor des Gartens, der im Ganzen ziemlich verwildert war. Das Haus an sich sah sehr verwahrlost aus. Nein, es sah nicht nur so aus, es war tatsächlich heruntergekommen. Casa Emilia stand mit verblasster Farbe auf der verwitterten grauen Hauswand neben dem Eingang. Es war so üblich im Tessin, den Häusern Namen zu geben. Casa, Villa, oder Residenza soundso“.
„Signora Tobler ist im letzten Herbst verstorben. Die alte Dame hat hier alleine gewohnt, mit ihrem Hund. Das Haus hat den ganzen Winter über leer gestanden. Der Sohn, ein Geschäftsmann aus Zürich, hat sich jetzt dazu entschlossen es zu verkaufen“ erzählte uns der Makler, während wir uns die Räume ansahen.
„Tobler? Doch nicht etwa aus der Schokoladendynastie?“ fragte ich.
„Nein, nein“ lachte er, „Tobler ist in der Schweiz ein geläufiger Name, wie bei Ihnen vielleicht Müller, oder so. Wenn Sie ernsthaftes Interesse haben, werde ich gleich morgen Kontakt zu Signor Tobler aufnehmen, da hätten wir nämlich noch ein kleines Problem.“
„Und das wäre?“ fragte Jasper, mein Mann, ein wenig skeptisch. „Signor Tobler legt großen Wert darauf, dass das Haus an Einheimische, also Schweizer, verkauft wird.“
„Natürlich, ich verstehe“, sagte Jasper mit ernster Miene, aber ich wusste, dass diese Bemerkung sehr zynisch gemeint war, „einer dieser Schweizer mit übersteigertem Nationalismus“ fügte er seinen Worten dann hinzu. Am liebsten hätte ich geantwortet, warum bauen die Schweizer nicht eine Mauer um sich herum, dann haben sei keine Probleme mehr mit Ausländern, fremden Religionen und sonstigem Gesindel, aber ich hielt meinen Mund, wie immer, wenn es um politische Themen ging; außerdem war das in diesem Moment gerade nicht angebracht.
„Na ja, manche Schweizer sind da ausgesprochen eigenwillig. Aber ich bin sicher, dass ich ihn davon überzeugen kann, dass Sie liquide und honorable Herrschaften sind“ antwortete der Makler mit seiner ausdrucksstarken Sprechweise, in einer Mischung aus Hochdeutsch und Schweizerdeutsch mit italienischem Akzent und sah dabei auf die Visitenkarte, die mein Mann ihm zuvor gegeben hatte. Jasper war von Berufs wegen natürlich mehr an der Bausubstanz des Hauses interessiert, wobei für mich der Grundriss in höherem Maße von Bedeutung war.
„Signor Tobler ist auch in der Baubranche tätig. Sicherlich liegen seine Beweggründe aber eher darin, dass er das Haus schnell und unbürokratisch verkaufen will. Da gibt es für Ausländer nämlich eine ganze Reihe von Vorschriften und Formalitäten zu beachten. Wenn Sie nicht dauerhaft hier leben und nur Ihren Urlaub im eigenen Chalet verbringen möchten, fallen Sie unter die Lex Koller. Die Richtlinien für den Immobilienerwerb in der Schweiz durch Ausländer. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts existieren diese gesetzlichen Schutzbestimmungen. Man möchte damit den ausländischen Anteil am Schweizer Grundbesitz beschränken und Immobilienspekulationen weitgehend verhindern...
„Da kann ich ja nur froh sein, dass mein Großvater vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges für seine Familie eine Immobilie in der Schweiz erworben hatte“, unterbrach mich nun Professor Maus. „Nachdem was 1933 passiert war, hatte mein Großvater seine Tochter angefleht, ihr befohlen, Deutschland zu verlassen und in die Schweiz zu fahren, aber sie hatte sich geweigert ihre Eltern und ihr Zuhause zu verlassen. Dann kam eins zum andern, sie hat geheiratet, ich wurde geboren und danach hatte sie es nicht mehr geschafft. Die Grenzen waren dicht. Erst Jahre später, als der Krieg vorbei war, ist meine Mutter mit mir in unser Haus nach Genf, beziehungsweise in ein kleines Dorf in der Nähe von Genf, umgezogen und hat mich dort später, als ich zwölf Jahre alt war, auf ein Internat geschickt. Sie selbst hatte zunächst bei einem Arztehepaar eine Anstellung als Hausdame gefunden.“
„Darf ich mal einen Augenblick die Balkontür öffnen? Es ist ganz schön warm in ihrer Bude. Haben Sie das Haus noch?“
„Mittlerweile wohnt meine Enkelin mit ihrer Familie darin; die fünfte Generation. Aber aus dem kleinen Bauernhaus ist im Laufe der Jahre ein stolzes Anwesen geworden.“
„Und warum wohnen Sie hier und nicht in der Schweiz?“
„Ach wissen Sie Christina, das ist auch eine lange Geschichte, die erzähle ich Ihnen irgendwann einmal, jetzt will ich erst mal Ihrer Vita weiter folgen. Darf ich Ihnen noch einen Wein und etwas Käse anbieten? Es ist ja noch früh am Abend. Und die Tür machen wir jetzt wieder zu. Sie dürfen gerne Ihre Strickjacke ausziehen.“
…Es hatte dann tatsächlich noch einige Wochen gedauert, bis wir das Haus unser eigen nennen konnten. Um die Formalitäten hatte sich Jasper vom Büro aus gekümmert. Außerdem hatte er ja seine hervorragende Sekretärin, die den ganzen schriftlichen Kram erledigte. Warum sollte ich mich damit belasten?
„Jetzt brauchen wir noch einen neuen Namen für unser Haus“, sagte Jasper nachdem wir den Kaufvertrag unterschrieben hatten.
„Da werde ich mir etwas ganz exponiertes einfallen lassen.“
Nachdem ich die Serpentinen des San Bernardino Passes mit viel Konzentration aber auch mit einer gewissen Leichtigkeit und einem Seufzer der Zufriedenheit rauf und wieder runter geschafft hatte, stand ich nun kurz vor Locarno im Stau. Dieses Nadelöhr einige Kilometer vor dem neuen Umgehungstunnel war mir bekannt und es störte mich nicht im Geringsten, denn ich war jetzt von meinem Ziel nur noch einen Steinwurf entfernt.
Eine brütende Hitze schlug mir entgegen, als ich gegen Mittag in Ascona meinen klimatisierten Wagen verließ, den ich auf dem großen Parkplatz am Ende der Piazza abgestellt hatte. Kein Lüftchen regte sich. Ich schlenderte ein paar Minuten am See entlang um meinen Rücken zu strecken und die müden Beine wieder zu durchbluten, und genoss die herrliche Aussicht auf die malerischen Villen und Sommerresidenzen in den umliegenden Bergen. Die Idylle wurde nur durch die aufheulenden Geräusche einiger Motorboote auf dem Wasser getrübt. Das war vermutlich der einzige Platz von dem aus man diese Hitze ertragen konnte. Unter einem Sonnenschirm in einem der zahlreichen Cafés und Restaurants suchte ich mir ein schattiges Plätzchen, weil mein T-Shirt schon am Körper klebte, obwohl ich erst wenige Schritte im Schatten der Platanen gegangen war. Es war immer unsere erste Handlung wenn wir dort ankamen. Nach der langen Reise gemütlich ein Glas Wein zu trinken und die Aussicht auf den See zu genießen bevor wir die letzten 5 Kilometer zu unserem Haus weiterfuhren; nur mit dem Unterschied, dass ich diesmal vorerst alleine war.
Ich fühlte mich beobachtet. Trotz ihrer dunklen Sonnenbrille spürte ich die eindringlichen Blicke dieser Frau, die einige Tische weiter alleine dort saß und mich von oben bis unten musterte, auf meinem Körper. Es bereitete mir Unbehagen. Das verhärmte Gesicht kam mir zwar irgendwie bekannt vor, aber ich konnte es niemandem zuordnen. In Ihrer ganzen Erscheinung wirkte sie mit ihrer geblümten Leggings nicht besonders attraktiv. Ein kleiner Zitronenfalter flatterte um meinen Kopf und lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich, als er sich für den Bruchteil einer Sekunde auf dem Rand meines Weinglases niederließ, dann aber doch die Geranien bevorzugte. In dem Moment hatte ich eine geniale Idee. Das ist es, Villa Farfalla werde ich unser Haus nennen und dazu einen schönen Apollofalter auf die Hauswand malen. Ich bezahlte den Wein und die Pizza, die ich nur zur Hälfte gegessen hatte und ging zu meinem Wagen, ohne noch einen Gedanken an diese Frau zu verschwenden.
Die schwülwarme Luft war nicht in unser Haus eingedrungen. Nachdem ich alle Jalousien hochgezogen hatte, war ich überrascht, wie angenehm kühl es drinnen war. Die mit Rauputz versehenen Natursteinwände und der geflieste Fußboden hatten die frische Luft des Frühlings gut konserviert. Außerdem hatte ich in jedem Zimmer eine Schale mit Holzfrüchten aufgestellt, die ich vor unserer letzten Abreise mit reichlich Duftöl beträufelt hatte. Ein Hauch von Pfirsich- und Zitronenduft schwebte noch in den Räumen.
Nun musste ich als erstes Jasper anrufen um ihm zu sagen, dass ich gut angekommen war und er sich nicht um mich sorgen müsse, was er vermutlich sowieso nicht tat. Ich rief in seinem Büro an und hatte seine Sekretärin in der Leitung.
„Es tut mir leid Frau Seidel, ihr Mann ist gerade in einer wichtigen Sitzung und möchte nicht gestört werden. Aber wenn es dringend ist kann ich…“
„Nein, nein, lassen Sie nur“, antwortete ich, „richten Sie ihm bitte aus, dass ich gut angekommen bin und dass hier alles in Ordnung ist.“
„Ja, mach ich gerne.“
Mach ich gerne, Heuchlerin, murmelte ich in mich hinein, nachdem ich das Gespräch beendet hatte.