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Kapitel 4 - Cannabis
ОглавлениеIn der nächsten Woche sehen wir uns nur flüchtig beim Essen. Einige Damen, darunter auch Frau Kaiser, buhlen um Professor Maus, wie ich schon mehrmals beim Mittagessen bemerkt habe. Neuerdings lackieren sie sich die Nägel an ihren von Arthritis gezeichneten Fingern oder malen sich die Lippen an, und jede von ihnen sucht den Kontakt zu ihm. Ich gönne ihnen und ihm den Spaß, wenn sie nach dem Essen noch gemeinsam durch die Halle schlendern. Zur Essenszeit ist es nicht möglich, mit jemandem Kontakt aufzunehmen, der nicht am selben Tisch sitz. Jeder hat seinen festen Tisch und an jedem Tisch seinen festen Stuhl. Das lässt sich nicht anders regeln, weil es sonst Streitereien geben würde. Schlimmer als bei kleinen Kindern. Frau Kaiser sitzt bei Professor Maus am Tisch und ich zwei Tische weiter. Ab und an gibt es mal kleine Verschiebungen, wenn sich zwei Leute nicht grün sind, aber in den meisten Fällen ist die Platzzuweisung okay.
Das Veranstaltungsprogramm im Haus, das für viele Bewohner eine willkommene Abwechslung bietet - besonders für die älteren Damen und Herren, die nicht mehr so fit sind und sich nur noch mithilfe ihres Rollators fortbewegen können – interessiert mich nicht sonderlich. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit, Zauberkünstler, Weihnachtsbingo, Gospelchor und was sonst noch alles angeboten wird. Ich lese lieber ein gutes Buch, mache lange Spaziergänge oder schaue mir Krimis im Fernseher an. Das soll nicht heißen, dass ich mich grundsätzlich den Veranstaltungen entziehe, nein, bei den Lesungen in der Bibliothek oder guten musikalischen Darbietungen bin ich immer dabei. Die Beteiligung ist höchst unterschiedlich. Mal sind es nur zehn, manchmal sogar hundert Interessierte. Die Kräuter in meinen Balkonkästen, die ich im Frühjahr ausgesät hatte, sind etwas verkümmert, bis auf eines. Gott sei Dank weiß das Reinigungspersonal nicht wie eine Hanfpflanze aussieht. Die Pflanzen habe ich natürlich auf dem Boden des Balkons stehen und nicht in den Kästen die am Geländer hängen. Dort habe ich mir ein kleines Treibhaus gebastelt. Warum ausgerechnet Cannabis? Es hat für mich nur eine symbolische Bedeutung. Immer mehr keimt der Wunsch in mir, mit jemandem über das Ereignis, das schon fast ein viertel Jahrhundert zurückliegt sprechen zu können und denke mir, dass mein Professor der Richtige dafür ist. Jetzt habe ich auch eine Idee, wie ich ihn ködern kann, damit er mir vorher etwas über seine Frau erzählt.
Dieses Mal habe ich Professor Maus am frühen Abend zu mir eingeladen. Einen kleinen Weihnachtsstern überreicht er mir mit einem angedeuteten Diener. Mit seiner grün karierten Fliege sieht er aus wie ein Harlekin.„Um Himmels willen, nicht so förmlich. Bitte in Zukunft keine Besuchsgeschenke mitbringen, wir wohnen schließlich Tür an Tür.“
„Das ist nur für den Kuchen“ antwortet er.
„Genau das meine ich. Wenn einer was mitbringt, fühlt sich der andere auch dazu verpflichtet etwas zurück zu schenken, und das ist dann ein Kreislauf ohne Ende.“
„Na schön, dann nehme ich den Blumentopf wieder mit und stelle ihn auf meine Fensterbank.“
„Nun seien Sie nicht so kindisch. Ich nehme ihn gerne, aber in Zukunft bitte ohne. Spontan oder gelegentlich mal etwas mitbringen ist in Ordnung, aber ohne jede Verpflichtung oder Erwartung. Können wir uns darauf verständigen?“
„Gut, dann ist die Blume nicht für den Kuchen, sondern ganz spontan“ sagt er und grinst dabei.
Ich biete ihm den Sessel an, der direkt neben dem Tisch am Fenster steht und von dem man den Blick über den Balkon auf den Hafen hat. Am Geländer habe ich eine kleine LED Lichterkette befestigt, die ein harmonisches sanftes Licht erzeugt.
„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten oder möchten Sie lieber etwas anderes? Ich habe auch Wein im Angebot.“
„Tee? Ja, warum nicht. Gerne.“
Während ich den Tee zubereite, schaut er sich in meinem Zimmer um.
„Das sind ja sehr farbenfrohe Gemälde, die Sie hier an den Wänden hängen haben. Sind die selbst gemalt?“
„Nein, diese nicht, das ist naive Malerei aus der Dominikanischen Republik. Viele einheimische Maler sind dort noch von den Taino-Indianern, die ein zutiefst naturverbundenes Volk waren, beeinflusst. Diese Bilder hier sind Reste aus meiner damaligen Galerie. Lockern den manchmal tristen Lebensabend etwas auf und man wird nicht so schnell depressiv.“
„Ja, das stimmt. Sind zwar nicht unbedingt mein Geschmack, wenn ich das so offen sagen darf, aber sie passen sehr gut zu den hellen Möbeln – und zu Ihnen.“
Bevor er sich hinsetzt, geht er zur Balkontür und sieht hinaus ins Dunkel.
„Im Winter ist es sehr einsam da draußen am Hafen, aber im Frühjahr wenn die Segler alle zurückkommen, gibt es hier immer was zu sehen.“
„Ich weiß, das war ja der Grund warum meine Frau und ich dieses Haus für mich ausgesucht haben. Wir waren leidenschaftliche Segler und sind mit unserer kleinen Yacht oft in der Ostsee herum geschippert. Der Tee schmeckt aber sehr gesund.“
„Ist er auch. Schietwettertee aus vielen gesunden Kräutern. Anis, Minze, Hagebutte, Holunderblüten, Fenchel, Apfelstücke und vieles mehr. Sehr gesund, heißt aber nicht zwangsweise dass er ihnen schmeckt, oder?“
„Gewöhnungsbedürftig; und welche Kräuter züchten Sie da draußen unter dem Glasdach? So aus der Entfernung im Halbdunkeln sehen sie aus wie Hanfblätter, aber die möchte ich Ihnen jetzt nicht unterstellen, deshalb tippe ich mal auf Ahorn, japanischer Ahorn, der kommt dem am nächsten.“
„Falsch, Ihre erste Vermutung war richtig. Es ist Cannabis.“
„Darf ich?“ Er zeigt mit einer Handbewegung zur Balkontür, ist im selben Moment auch schon aufgestanden und öffnet diese. Ich trete mit ihm hinaus und öffne den Glasdeckel.
„Es gibt so viele schöne, gute und edle Kräuter und Pflanzen die einen Balkon verschönern können, was wollen Sie mit Cannabis?“
„Sehen doch gut aus, die handförmig geteilten Blätter mit den gesägten Segmenten an den Rändern.“
„Gewiss, ohne Frage, aber den nächsten Frost überstehen die Pflanzen nicht. Was haben Sie damit vor?“
Wahrscheinlich hält er mich für verrückt oder für eine alte Kräuterhexe.
„Was soll ich schon damit vorhaben? Es ist ja kein indischer Hanf. Die Samen meines Hanfes sind frei im Handel erhältlich und weisen einen nur ganz geringen Gehalt an THC dem T e t a h y d o…“
„Tetrahydrocannabinol“ korrigiert mich Professor Maus.
„Ja, oder so. Mit den lateinischen Namen habe ich so meine Probleme. Damit kann ich niemandem Schaden zufügen, das brauche ich Ihnen als ehemaligem Apotheker nicht zu erzählen. Das wissen Sie viel besser.“
„Allerdings, denn schon wieder muss ich Sie fragen, glauben Sie an Zufälle?“
„Und schon wieder muss ich Ihnen antworten, das ist keine Glaubensfrage. Allenfalls eine Bestimmung. Aber wieso fragen Sie das?“ Ich sehe, mein Tee hat ihnen doch geschmeckt, ihr Glas ist leer. Möchten Sie noch…?“
„Wenn ich ein Glas Wasser haben darf? Ich muss eine Tablette nehmen. Wieso kennen Sie sich so gut mit Cannabis aus und warum finde ich es auf Ihrem Balkon?“
„Nun stehen mehrere Fragen im Raum, die beantwortet werden wollen. Zuerst Sie, warum fragen Sie wieder ob ich an Zufälle glaube?“
„Es fällt mir schwer, es Ihnen zu sagen, aber was habe ich noch zu verlieren.“
„Egal was Sie mir jetzt erzählen, ich verspreche Ihnen, dass ich es für mich behalte“, sage ich und drehe einen imaginären Schlüssel vor meinen Lippen herum.
„Meine Frau war schwer erkrankt, sie hatte Krebs, unheilbar als es diagnostiziert wurde. Ich habe ihr die letzten schweren Stunden erleichtert. Medizinisches Cannabis gilt als Ersatz für Opioide und verstärkt die Wirkung von Morphinen. Eine Überdosis kann zum Atemstillstand führen. Weitere Einzelheiten möchte ich Ihnen dazu nicht erzählen. Der behandelnde Arzt hatte ohne weitere Fragen zu stellen den Totenschein ausgefüllt. Er wusste ja wie es um sie stand.“
Wir sitzen beide einige Sekunden oder Minuten schweigend am Tisch bis ich zu ihm sage: „Danke für die Lehrstunde. Wir sind zwei Seelenverwandte die sich zufällig gefunden haben. Ich habe bei meinem Mann auch nachgeholfen – er war aber nicht krank.“
Einen kurzen Moment sagt er nichts und schaut mich nur kritisch, fast vorwurfsvoll an.
„Nachgeholfen, wenn er nicht krank war? Das nennt man dann wohl anders“, sagt der Professor mit ernster Miene und seine tief braunen Augen sehen finster drein.
„In dem Fall nicht!“ sage ich energisch. Das Gewächs auf meinem Balkon werde ich morgen entsorgen, es hatte nur symbolischen Charakter, aber es ist wohl besser, wenn ich endlich einen Schlussstrich darunter ziehe. Wir haben beide nichts Schlimmes getan, nur das was aus der Situation heraus notwendig war. Es können zufällige Ereignisse im Leben geschehen, die einen in unvorhersehbare Richtungen abdriften lassen. Ich möchte Ihnen gerne eine Geschichte erzählen - wenn ich darf“, füge ich schnell hinzu.
Wir vereinbaren, das Gesagte erst einmal zu „verarbeiten und zu überdenken“, wie Professor Maus sich ausdrückt.
„Natürlich bin ich jetzt neugierig geworden und möchte wissen, mit wem ich es hier zu tun habe. Ob ich weiterhin in Zukunft Tee mit Ihnen trinken kann, oder Angst haben muss, dass Sie mich vergiften“, sagt er mit einem leichten Augenzwinkern.
„Zu Gift haben Sie ja wohl eher Zugang als ich“ erwidere ich und lächle ihn an.
Mit den Worten: „Am kommenden Sonntag, wieder bei mir“ verabschiedet er sich.
Der Wind pfeift eisig um meine Nase und ich ziehe mir die Kapuze meiner Daunenjacke noch über meine Wollmütze. Die See peitscht die Wellen an den Strand wo die Schaumkronen im Sand versickern. Die Flut hat viele Algen und Muscheln an den Strand gespült. Eine ausgewachsene und kräftige Silbermöwe steht bis zum Bauch im Wasser und kämpft gegen die Wellen an, um eine dicke fette Strandkrabbe heraus zu fischen. Ihr Schnabel rutscht immer ab, auf dem harten Panzer, der einen Durchmesser von mindestens drei Zentimetern hat. Die Krabbe versucht bei jeder Welle die über sie schwappt, wieder zu entkommen, aber es gelingt ihr nicht. Im Schnabel der Möwe zappelt sie immer noch verzweifelt mit ihren Scheren und all ihren Beinen. Einige Jungmöwen, die an ihrem noch leicht bräunlichen Gefieder zu erkennen sind, kreisen lautstark umher, aber keine wagt es, der alten den Fang abspenstig zu machen, die jetzt mit der Krabbe im Schnabel davon fliegt. Solche wunderbaren Naturschauspiele sieht man öfter an der Ostsee. Fressen und gefressen werden, das ist der Lauf der Natur.
Entspannen, die Schultern hängen lassen, die frische, kalte Luft tief einatmen, circa vier Sekunden lang und sieben Sekunden lang wieder ausatmen – habe ich gelesen - und jeden Gedanken an die Vergangenheit bei Seite schieben. Was bedeutet Vergangenheit? Geschichte, Historie, der Gegenwart vorangegangene Zeit, Vita, ein Leben, das man gelebt hat. Menschen denen man zufällig in der U-Bahn begegnet ist. Menschen, denen man zufällig im Supermarkt über den Weg gelaufen ist. Menschen, deren Weg man gekreuzt hat, ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken. Menschen, denen man zufällig begegnet ist und mit denen man zufällig einen Teil seines Lebens verbracht hat und Menschen deren Leben man genauso zufällig ein Ende bereitet hat. Es gibt keine Vergangenheit. Es gibt nur Erinnerungen an ein Leben, das man zufällig gelebt hat. Manchmal lassen einen Erinnerungen an seinem Verstand zweifeln, aber in jedem Moment seines Lebens trifft man Entscheidungen, die in diesem einen Moment aus der Situation heraus richtig zu sein schienen.
Es fängt an zu dämmern und ich mache mich auf den Heimweg. Am Ufer zwischen Passathafen und Fähranleger stehen sich die Angler die Beine in den Bauch. Alle Eimer sind noch leer. Die Dorsche und Heringe scheinen heute einen anderen Weg zu nehmen.
Mantel, Mütze, Stiefel und Pullover tausche ich gegen dünne schwarze Ballerinas, eine bunte Seidenbluse über einer schwarzer Hose und eine leichte rote, etwas längere Strickjacke, zum kaschieren meines Hüftgoldes, das sich aber bei Kleidergröße zweiundvierzig noch in Grenzen hält.
„Kommen Sie aus der Sauna“, fragt mich Professor Maus, als ich eintrete, „Sie haben ja ganz rote Wangen.“
„Ach so“, antwortete ich und tätschele mit den Fingern mein Gesicht. „Ich komme gerade von einem langen Spaziergang.“
„Ich habe uns wieder einen Blümchenkaffee - wie Sie ihn genannt haben - gekocht. Ich denke das ist in Ordnung. Oder?“
Er macht mit den beiden gekrümmten Zeigefingern bei Blümchenkaffee zwei Gänsefüßchen in die Luft. Weihnachtsgebäck, wie Spekulatius und Vanillekipferl liegen auf einem Teller, der in der Mitte des Tisches steht. In seiner Glasvitrine steht neben seinem Hochzeitsfoto noch ein Bilderrahmen mit einem etwas neueren Foto in Farbe. Eine Segelyacht, Hallberg-Rassy 44 ist am Heck zu lesen, eine hübsche junge Frau mit Sonnenbrille, die am Ruder steht und ein kleiner Hund, mit einer Schwimmweste um seinen Körper.
„Das ist ja niedlich, sind das Ihre Frau und Ihr Hund?“
„Nein, meine Frau und ihr Hund. Ich war für den Hund nur gleichberechtigter Geselle, oder die zweite Geige, der Rudelführer war sie.“
Er unterbricht mein Lachen und sagt: „Zu meinen Bildern kommen wir später. Sie möchten mir eine Geschichte erzählen, ich bin schon ganz gespannt.“
„Das ist aber nicht mal eben in einer Stunde erzählt. Um das alles zu verstehen muss ich etwas weiter in die Vergangenheit zurückgehen.“
„Nur zu, wir haben alle Zeit der Welt.“
„Zeit? - haben wir nicht mehr im Überfluss.“