Читать книгу Die Partisanen - Elle West - Страница 4

Kapitel 2

Оглавление

England, Zwölfter März 2003

Skylla Luna Christina Testilopoules war bei einer Freundin in London zu Besuch. Sally bewohnte im Augenblick die Penthouse Suite in einem luxuriösen Hotel. Die Fensterfront, vor der die Frauen saßen, war riesig und erlaubte einen freien Blick über die Innenstadt.

Sally kam aus der Küche in das Wohnzimmer zurück, reichte Christina ein Glas Sekt und setzte sich im Schneidersitz neben sie. „Um ehrlich zu sein, vermisse ich dich schon jetzt schrecklich, Luna.“, sagte Sally und lehnte ihren Kopf an die Schulter der Freundin. „Ich verstehe nicht, wieso du Damian einfach so in den Irak folgst.“

Christina lächelte und leerte das Glas mit einem Mal. Sie musste sich Mut antrinken, wenngleich sie dies nicht zugeben wollte. Dann erhob sie sich, um die Sektflasche zu holen. Sie hatte die Hotelsuite für eine Woche gemietet und bereits bezahlt. Drei Tage hatte sie hier mit ihrer besten Freundin Zeit verbracht, um sich von ihr und ihrem alten Leben zu verabschieden. Den Rest der Woche würde Sally hier noch alleine verbringen können, ehe sie wieder in ihre gewöhnliche Wohnung zurückkehren müsste. Dann würde Christina bereits im Irak sein. „Er ist mein Verlobter.“, sagte sie zu ihrer Verteidigung. „Wenn er sich mit mir ein Leben aufbauen will, dann sollte ich doch nichts dagegen einzuwenden haben.“ Sie kam zurück und setzte sich wieder. Ihr Blick glitt über den Balkon hinweg zur Stadt, in der sie seit mehr als zehn Monaten lebte und die zu einer ihrer Heimaten geworden war. Jeden Tag hatte sie sich mehr in London verliebt, doch nun musste sie gehen. Doch nicht der Wechsel von London nach Bagdad machte ihr Sorgen. Im Gegenteil, sie hatte in ihrem jungen Leben bereits in vielen Städten und Ländern gelebt. Christina war 23 und brauchte kein bestimmtes Land um sich heimisch zu fühlen. Sie war staatenlos, irgendwie, und das machte ihr nichts aus. Es gab nur einige wenige Menschen, die sie brauchte, um sich zugehörig zu fühlen. Sally war einer dieser Menschen. Und jetzt würde sie sie zurücklassen. Ihre Wohnung hatte sie bereits aufgelöst und alle Verpflichtungen, die sie hier gehabt hatte, hatte sie über Bord geworfen. Nun galt es, ihre Verpflichtung in der Ehe zu sehen. Sie wollte eine so gute Ehefrau sein, wie Damian es von ihr erwartet. Sie selbst war sich nicht sicher, ob ihr dies gelingen würde, aber sie wollte es zumindest versuchen. Sie hatte schon für weniger mehr riskiert. Und ein erster Schritt in die neue Zukunft als gewöhnliche Ehefrau war es, ihm in den Irak zu folgen und dort mit ihm zu leben. Es war ein großer Schritt und ihr war bewusst, wie riskant es war. Nicht nur, dass der Irak kurz vor einem erneuten Golfkrieg stand, sie würde auch ein Leben führen müssen, indem sie nur an einen Menschen gebunden wäre. Ohne Damian wäre sie alleine in einem gefährlichen Land. Nun, nicht ganz alleine, denn sie hatte auch im Irak Bekannte und Kollegen, die sie schätzte, aber keiner dieser Menschen wäre mit Sally vergleichbar. Außerdem hatte sie als Frau in einem muslimischen Land andere Pflichten ihrem Mann gegenüber als im toleranten Europa. Und dennoch gefiel es Christina im Irak. Sie hatte dort immerhin auch eine Arbeit, der sie nachgehen konnte, sodass sie nicht völlig abhängig von ihrem Verlobten war. Und trotzdem war sie sicher, dass sie, wenn sie nun ging, Europa und eine Stadt vermissen würde. Sie würde ihre beste Freundin vermissen und den Luxus, den London ihnen täglich bot. Auch würde die Distanz zu ihren Eltern größer werden, aber auch damit würde sie leben lernen.

Sallys misstrauischer Blick ruhte auf ihrem Gesicht. „Ich verstehe dich nicht.“, sagte sie aufrichtig. „Du bist doch überhaupt nicht der Typ Frau, der dumme Entscheidungen trifft.“

Christina versetzte ihr einen freundschaftlichen Knuff, während sie kicherte. Im Grunde wusste sie, dass Sally Recht hatte. Sie hatte niemals dumme Entscheidungen getroffen und sie hoffte, dass es auch dieses Mal gut ausgehen würde. „Ich glaube, ich liebe ihn.“, sagte sie schließlich. Im nächsten Moment ärgerte sie sich, weil sie der Aussage die Überzeugungskraft durch das „glaube“ genommen hatte. Sie war eine glaubwürdige Lügnerin, wenn es darauf ankam. Und vielleicht gelang es ihr nun nicht, weil sie nicht sicher war, was Damian ihr bedeutete, ob er ihr etwas bedeutete. Doch sie brauchte ihn und würde ihn heiraten. „Im Ernst, Sally.“, versuchte sie es erneut. „Im Irak wartet ein neues Leben auf mich und ich bin aufrichtig gespannt, wie es sein wird.“

„Aber im Irak, Luna?“, fragte Sally misstrauisch und traurig zugleich. Sie selbst war eine einfache Verkäuferin in einem Modehaus und hatte London noch nie verlassen, obgleich sie zwei Jahre älter war als ihre Freundin. Sie würde sich heimatlos fühlen in einem so fernen Land, aber sie wusste auch, dass ihre Freundin in dieser Beziehung ganz anders war als sie selbst. Sally hatte keine Ahnung, womit Luna ihr Geld verdiente, aber ihr war, nicht erst seit sie von ihr in dieses Hotel eingeladen worden war, klar, dass Luna davon nicht wenig verdiente. Anfangs hatte Sally geglaubt, Luna wäre vielleicht ein Model. Sie war groß und schlank, hatte die perfekten Maße und ein ungewöhnlich schönes Gesicht. Und sie reiste viel, schien immer beschäftigt zu sein und war offenbar reich. Und doch hatte Luna ihr nie gesagt, womit sie tatsächlich ihr Geld verdiente. Sie hatte zumindest nicht die Wahrheit gesagt, denn Sally war natürlich klar, dass man beim Roten Kreuz nur schwerlich reich werden konnte.

Sally seufzte. „Das ist so weit weg und es ist auch so gefährlich dort.“, fuhr sie fort. „Wie willst du überhaupt neue Bekanntschaften machen, wenn du die Sprache nicht sprichst?“

„Aber ich spreche die Sprache!“, erwiderte Christina lachend.

„Ich weiß.“, erwiderte Sally und machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung. Sie lehnte sich erneut an ihre Freundin und umarmte sie, während ihr Tränen über die Wangen liefen. „Ich will einfach nicht, dass du gehst.“

Nun stiegen auch Christina die Tränen in die Augen. Sie legte ihren Kopf auf Sallys Beine und ließ sich ihre Haare streicheln, während sie an die Decke schaute. „Wenn es mir nicht gefällt, komme ich einfach wieder zurück.“, sagte sie und meinte es ganz genauso. „Ich kann doch bei dir wohnen?“ Sie blickte ihre hübsche Freundin lächelnd an.

Sally erwiderte das Lächeln, während sie noch immer schluchzte. „Natürlich.“, sagte sie. „Am liebsten wäre es mir, wenn du jetzt schon bei mir einziehst und wir das mit dem Irak einfach überspringen.“

Christina lachte leise. Sie liebte ihre beste Freundin und vermisste sie schon jetzt. Dennoch hatte sie eine Entscheidung gegen sie getroffen und für Damian, wenngleich sie diese Entscheidung nicht aus Liebe zu seinen Gunsten getroffen hatte. Sie wagte nicht, Damian hierbei zu enttäuschen, denn sie brauchte sein Wohlwollen, damit er ihr gab, was sie eigentlich von ihm wollte. Er war ihr Verlobter, ein amerikanischer Art, der gute alte Freundschaften zum amerikanischen Militär pflegte, und er versprach ihr ein gutes Leben an seiner Seite. Und wenn sie ehrlich war, war da nicht nur der Nutzen, den sie aus ihm und seinen Kontakten für sich und ihre Leute ziehen könnte, sondern sie hoffte auch aufrichtig, dass ihr Leben mit ihm funktionierte. Sie wollte eine solche Erfahrung auch einmal machen. Sie wollte sich leidenschaftlich verlieben, bis zur Erschöpfung streiten und atemberaubenden Sex haben. Sie wollte mit einem Mann zusammen leben und seine Eigenarten kennen lernen. Sie wollte auch, dass ein Mann alles von ihr kennen lernte, aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Damian würde es nie erfahren, oder zumindest so lange nicht, wie sie ihre Geheimnisse wahren musste. Und sie selbst war in emotionaler Hinsicht, mit keinem Mann bisher, leidenschaftlich gewesen. Es lag an ihr. Sie konnte sich nicht öffnen, behielt gerne die Kontrolle und hatte kein großes Interesse daran, Menschen an sich heran zu lassen. So sehr Damian sich auch bemühen würde, sie würde sich ihm niemals öffnen.

„Kommst du wenigstens wieder um mich zu besuchen?“, fragte Sally und blickte traurig in die Ferne.

Christina richtete sich auf, blickte sie an und griff ihre Hände. „Natürlich.“, sagte sie und meinte es ebenso. „Ich bin heimatlos, schon vergessen?“, scherzte sie lächelnd. „Und vielleicht kommst du mich auch mal in Bagdad besuchen. Wenn Damian und ich uns erst einmal in seinem Haus eingerichtet haben.“

Sally musste sich einen skeptischen Kommentar verkneifen. Ihre Freundin sprach immer so, als wäre Damian nur ein Lebensabschnitt für sie. Das lag nicht an ihm direkt, es war so ihre Art. Es fiel ihr schwer sich zu binden, sogar an ein Land. Und doch wünschte sie sich für ihre Freundin nur das Beste. Sie war zwar eigensinnig und seltsam, aber auch ihre beste Freundin. Sie konnte großzügig und uneigennützig sein, sie hatte Humor und war ungemein schlau. Sie hatte ein gutes Leben verdient. „Wenn Damian nicht gut zu dir ist, komme ich persönlich vorbei und trete ihm in den Arsch.“, versicherte sie über ihre Gedanken hinweg.

Christina lachte. „Ich hoffe, so weit muss es nicht kommen. Und du besuchst mich in friedlicher Mission.“, sagte sie amüsiert.

Sally nickte und küsste ihre Wange. „Natürlich werde ich nach dir sehen…oder dich zumindest immer zu anrufen.“, sagte sie und umarmte ihre Freundin. „Ich hoffe doch, du bezahlst dann meine Telefonrechnung, ich werde mir das wohl nicht lange leisten können.“

Christina lachte. „Abgemacht.“

Sally schüttelte leicht den Kopf. „Ich glaub’ einfach nicht, dass du heiraten wirst.“, sagte sie und war über diese Nachricht noch immer überrascht. „Du bist doch Miss Heimatlos und Miss Geheimnisvoll. Dass du dich an Damian bindest, das glaube ich erst, wenn ich es sehe.“

Christina lächelte und nahm ihr die Worte nicht übel. Sally war ehrlich und das hatte Christina immer an ihr geschätzt. Auch hatte sie sie nie gedrängt, ihr ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Mit der Zeit war sie daran gewöhnt gewesen, dass es eben so war. Und diese Eigenschaft von Sally war ungemein kostbar für Christina. „Vielleicht sollten wir langsam los gehen.“. sagte sie und erhob sich mit der Flasche in der Hand. Sie musste sich noch immer betrinken, um nicht in Panik davon zu laufen. Denn Sally hatte Recht. Sie liebte ihre Unabhängigkeit, ihre Freiheit und hatte ihre Geheimnisse. Es würde schwer für sie werden, mit Damian zusammen zu leben. Es würde schwer werden, von nun an rund um die Uhr ein doppeltes Spiel zu spielen, ohne Zuhause sie selbst sein zu können.

„Willst du nicht erst mal ein Taxi rufen?“, fragte Sally verwundert.

Christina schüttelte den Kopf. „Ich brauche frische Luft.“, sagte sie und zog sich bereits ihren knielangen Mantel an.

Sally erhob sich nun ebenfalls.

„Und ich will noch einmal durch diese Stadt spazieren.“, fügte Christina lächelnd hinzu.

Als sie gemeinsam durch London zum Flughafen gingen, während sie beide eine von Christinas Reisetaschen hinter sich her zogen, wurde ihnen beiden schmerzlich bewusst, dass keine von ihnen sagen konnte, wann ein solcher Moment wieder eintreten würde. Als Christina noch in London gewohnt hatte, waren sie mindestens einmal die Woche in die Innenstadt gegangen um dort einzukaufen oder auch nur einen Kaffee zu trinken. Nun würde Christina im Irak leben und nach Sallys Vorstellung, bedeutete dies, dass sie nicht einmal mehr die Möglichkeit hätte, dort eine Mall aufzusuchen oder Kaffee trinken zu gehen. Sally begriff nicht, weshalb ihre Freundin ihr Leben für einen Mann auf den Kopf stellte, der es, ihrer Meinung nach, nicht einmal wert war. Damian war ein Arzt und er half von nun an in einem irakischen Krankenhaus in Bagdad aus und arbeitete mit der dortigen Hilfsorganisation zusammen. Und obwohl dies auch in ihren Augen ehrenhaft war, ließ er diese Ehre jedoch vermissen, als er entschied, mit Christina in diesem Land leben zu wollen. Welcher Mann setzte seine geliebte Frau schon gerne einem Land aus, das der Weltmacht USA so verhasst war, dass sie alles daran setzen würde, um einen Krieg zu rechtfertigen? Christina selbst hatte ihr erzählt, dass eine Invasion durch die Amerikaner nicht mehr lange auf sich warten lassen würde und sie kannte sich mit der Politik dieses Landes erstaunlich gut aus. Dennoch hatte sie dieses Wissen nicht davon abgehalten, Damians Vorschlag anzunehmen. Vermutlich will er nur von ihren Sprachkünsten oder ihrer Intelligenz profitieren, dachte Sally bitter. Sie war wütend, dass er ihr die beste Freundin nahm, aber gleichzeitig auch objektiv, was Damians Handlung betraf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Damian und Skylla Luna glücklich wurden.

Christina ihrerseits war nicht sicher, ob sie die richtige Entscheidung traf, aber sie tröstete sich mit der Gewissheit, dass sie, sollte sie sich falsch entschieden haben, einfach wieder das Land verlassen würde und wo anders neu anfing. Ihre Eltern lebten in Deutschland und von England aus hatte sie sie oft besuchen können. Diese Entfernung hatte ihr schon immer im Herzen wehgetan, da sie ihre Eltern so selten sehen konnte. Nun würde sie auch all ihre Freunde durch eine noch weitere Entfernung verlieren, wenn sie nicht hin und wieder zurückkehrte. Sie konnte sich allerdings nur schwerlich vorstellen, dass dies im finanziellen Rahmen des Möglichen lag, zumindest nicht, wenn sie eines ihrer Geheimnisse wahren wollte. Zwar verdiente sie in der Hilfsorganisation ihr eigenes Geld, aber dies würde nicht annähernd ausreichen um ständig zwischen London und Bagdad hin und her zu jetten. Und die Vermögen auf ihren Konten musste sie vor Damian verbergen, sonst würde er anfangen Fragen zu stellen, die sie ihm nicht beantworten wollte. Christina sah in ihrer Zukunft sehr viele Probleme auf sich zukommen und sie hoffte nur, dass Damian ihr dabei unfreiwillig eine Hilfe sein würde, indem er nützlich wäre und ihr als ihr Verlobter nicht noch zusätzlich Probleme machte und sich nicht als weitere Schwierigkeit herausstellen würde. Bisher hatte er sich als ein galanter Mann erwiesen, der stets um seine Reputation besorgt war. Christina hatte ihn deshalb ausgesucht. Er kümmerte sich mit Vorliebe um sich selbst und da er sich selbst vor alle anderen stellte, hegte sie die Hoffnung, dass er sie nicht zu genau beobachtete. Ihre Geheimnisse erschienen ihr bei einem egoistischen Mann sicherer, als bei einem liebevollen, um sie besorgten. Und sie respektierte ihn für seine hilfreiche Arbeit im Krankenhaus und beim Roten Kreuz und sie schätzte seine Bildung und seine Bereitschaft, das Heimatland für ein risikoreiches Land wie den Irak zu verlassen. Er war ganz anders als sie, aber das war nötig gewesen. Wenn sie bereit sein würde, ihn zu heiraten und sich wahrhaftig auf ihn einzulassen, bestand die Möglichkeit mehr denn je, dass sie doch noch glücklich werden würde.

Allerdings gab es so viel von ihr, das er nicht kannte. Er wusste so vieles nicht und dies waren Dinge, die sie nicht wagte ihm anzuvertrauen. Es ging um Dinge, die er nicht gefährden durfte und es ging um andere Menschen, die sich auf ihr Schweigen verließen. In gewisser Hinsicht waren sie so verschieden, dass ihr Misstrauen ihm gegenüber zu groß schien, um es zu überwinden. Und nun würde sie erst einmal nach Spanien, denn in den Irak fliegen. Sie würde sich erst einmal um ein paar geschäftliche Angelegenheiten kümmern, ehe sie zu ihrem wartenden Verlobten flog. Doch auch das hatte sie weder ihm, noch Sally erzählt. Manchmal war es leichter, nichts zu sagen, anstelle zu lügen.

Christina wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie mit einem Mann zusammen stieß. „Entschuldigung.“, brachte sie hervor und sah ihm in die Augen. Es war, als hätte sie einen kleinen Schlag gekriegt. Als ginge etwas, das in seinen dunklen Augen lag direkt in sie über. Sie blickte in sein unrasiertes, aber dennoch auffallend attraktives Gesicht.

„Das war meine Schuld. Verzeihen Sie.“, erwiderte der Mann und ließ ein charmantes Lächeln sehen. Auch er schien im ersten Moment verwirrt gewesen zu sein, fasste sich jedoch schneller als sie.

Christina bemerkte seine aufmerksamen Blicke, die nur auf ihr ruhten und wandte sich augenblicklich ab. Wenn sie Damian eine gute Ehefrau sein wollte, fing sie am besten gleich damit an und ließ eine Möglichkeit verstreichen. Und irgendwie war dieser Fremde eben das gewesen, eine Möglichkeit.

Sally folgte dem plötzlich sehr schnellen Schritt ihrer Freundin nur mit Mühe. „Hey!“, rief sie und bewegte Christina so dazu, langsamer zu gehen. „Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Kannst du es nun doch nicht mehr erwarten, in den Krieg zu ziehen, Luna?“

Christinas Gesicht zeigte ein Lächeln. „Entschuldige, aber ich bin spät dran.“, sagte sie, obwohl es nicht ganz stimmte. Sie hatte jedoch keine Lust, Sally zu erklären, dass der Mann sie ein wenig aus der Fassung gebracht hatte. Dies würde ihrer Freundin nur Anlass sein, sie vom Bleiben überzeugen zu wollen. „Außerdem herrscht noch kein Krieg.“, merkte sie beiläufig an. „Vielleicht haben wir ja Glück und die Amerikaner kommen mit ihren herbei gezogenen Anschuldigungen nicht durch?“ Es wurde schnell offensichtlich, auf welcher Seite Christina stand und sie bemühte sich auch nicht, ihre Abneigung gegen die Amerikaner zu verbergen. Und dennoch hatte sie vor einen Amerikaner zu heiraten.

„Luna, hast du dir den Mann, der dich angerempelt hat, mal genauer angesehen?“, fragte Sally grinsend und ignorierte die voran gegangene Bemerkung ihrer Freundin unabsichtlich. Sie hatte jedoch weniger auf die Reaktion von Christina geachtet, als auf das Antlitz des Unbekannten. „Der war doch wirklich heiß oder nicht?“ Er war groß und breit gewesen, sonnengebräunt und hatte perfekte Zähne und ein umwerfendes Lächeln gehabt.

„Ich bin verlobt.“, sagte Christina und hoffte, dies würde genügen, um sie vom Weiterreden abzubringen.

„Na und?“, fragte Sally stattdessen. „Trotzdem darfst du dir die Männer jawohl noch ansehen! Und der eben, war um einiges schärfer als dein Damian. Vielleicht solltest du besser ihn heiraten.“

Nun brach Christina in Gelächter aus. „Du bist absolut unmöglich.“, kommentierte sie die Bemerkung ihrer Freundin. „Glaub mir, das werde ich mehr als alles andere vermissen.“

Sally blickte sogleich bedrückt drein. Immer noch hoffte sie, ihre Freundin würde es sich anders überlegen. „Ich werde deine Verrücktheiten auch vermissen.“, gestand sie melancholisch. „Erinnerst du dich an den Tag in der Mall, als diese Pralinenausstellung war?“

„Als die komplette Pyramide aus ordentlich drapierten Pralinen und Kuchen umgefallen ist?“, fragte Christina und musste nun ebenfalls grinsen.

„Ja und das war ganz allein deine Schuld, weil du dir ja unbedingt die unterste Praline klauen musstest und mir nicht glauben wolltest, dass das Ding dabei umkippt.“

Die beiden Frauen lachten, während sie in der Erinnerung schwelgten. Dann tauchte das Flughafengebäude vor ihnen auf und ließ sie augenblicklich verstummen.

Sally betrachtete ihre Freundin. Von Anfang an hatte sie sich in diesen wunderschönen Mandelaugen wieder gefunden und nun konnte sie nicht sagen, wie lange sie sie nicht mehr sehen würde. Es war selten, dass man eine Freundin fand, mit der man sich auch ohne Worte so ausgezeichnet verstand, der man blind vertrauen konnte, die zur Familie wurde. Und nun musste sie diese Person los lassen. Christina war plötzlich in ihr Leben getreten und ebenso plötzlich verschwand sie nun wieder; sie war die Heimatlose. Sally ließ die Tasche ihrer Freundin zu Boden und umarmte sie weinend. „Ich hatte niemals eine so gute Freundin wie dich, Luna. Du bist meine Familie, ganz gleich, wo du sein wirst.“, brachte sie schluchzend hervor. „Du musst mir versprechen, dass du dich sooft wie möglich bei mir meldest und mich besuchst und auf keinen Fall, darfst du mich vergessen oder unsere Freundschaft…-“

„Ich versprech’s.“, sagte Christina, als ihre Freundin sich selbst unterbrochen hatte. Sie drückte Sally noch einmal fest und löste sich dann aus der Umarmung.

„Gib mir die Flasche wieder, die kann ich jetzt gebrauchen.“, sagte Sally, nur halb im Scherz, und nahm Christina die Sektflasche, deren Inhalt beträchtlich abgenommen hatte, aus der Hand.

Christina lächelte bedauernd. „Bis bald.“, sagte sie und nahm die zweite ihrer Taschen auf.

„Pass auf dich auf in dieser Hölle.“, erwiderte Sally bissig.

Christina nickte. „Du auch auf dich.“ Sie küsste Sally auf die Wange und wandte sich dann um.

„Luna!“, rief Sally ihr nach. Ihre Freundin blieb stehen und drehte sich zu ihr herum. „Ich hab’ dich lieb! Mach es für uns beide gut!“

Christina lächelte traurig. „Ich hab’ dich auch lieb!“ Sie warf ihr einen Handkuss zu und ging dann ins Flughafengebäude.

Sie blickte aus dem Fenster des Flugzeuges und sah doch nichts. Ihre Augen tränten, aber sie gab sich Mühe, dies zu verbergen. Eigentlich war sie nicht sonderlich emotional veranlagt. Eigentlich hatte sie auch keine Schwierigkeiten mit Abschieden. Für viele Menschen war dies immer ein Ende, aber sie hatte darin immer nur einen neuen Anfang gesehen. Nun jedoch hatte sie etwas verloren, das ihr wirklich etwas bedeutet hatte. Sie hatte schon viele Freunde hinter sich gelassen, hatte viele von ihnen wieder gesehen und doch war das mit Sally eine andere Art von Freundschaft gewesen, mehr familiär.

Sie hatte Sally seit ihrem ersten Tag in London gekannt. Damals war Christina gerade aus Amerika nach Europa zurückgekehrt. Sally und sie hatten sich vom ersten Moment an verstanden und waren seither beinahe jeden Tag, den Christina in London zubrachte, zusammen gewesen. Es fiel ihr schwer, nun darauf verzichten zu müssen. Im Irak hatte sie nur Damian und ein paar Arbeitskollegen von der Hilfsorganisation. Da sie bereits öfter im Irak gewesen war, hatte sie auch privat einige Bekanntschaften gemacht, sogar einige gute Freunde gefunden. Doch diese Freunde kannten ihr wahres Leben nicht und sie würde sie niemals Damian vorstellen, da auch er glaubte, eine andere Frau zu kennen. Und dies machte sie zu einer Einzelgängerin, die sich einsam fühlte, auch wenn sie von Menschen umgeben war. Sally hatte es irgendwie geschafft, ihr nahe zu kommen, ohne dass sie die Wahrheit über sich hatte erzählen müssen. Keiner würde ihr diese Freundin ersetzen können. Aber sie würde sie auch wegen der oberflächlichen Dinge vermissen. Sollte sie vielleicht mit Damian darüber sprechen, was seine Vorzüge und was seine Nachteile waren? Über so manche Banalitäten konnte eine Frau nur mit einer anderen Frau sprechen und mit Sally hatte sie über beinahe alles reden können.

Christina wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie hasste es, zu weinen und meistens gelang es ihr auch, dies zu vermeiden. Sie war nicht gerne sentimental.

Nun musste sie sich eben wieder verschließen. Seit mehr als fünf Jahren war sie daran gewöhnt. Und nun tauschte sie eben eine Heimat gegen eine andere. Sie hatte versucht, mit Damian über ihre Zweifel, bezüglich der Ehe und einem Leben im Irak, zu sprechen, aber er hatte ihre Einwände nicht ernst genommen und versucht, ihr einzureden, das alles ganz wunderbar werden würde. Er hatte nicht verstanden, dass sie sich keine Sorgen machte, irgendwo neu anzufangen, sondern dass es sie beunruhigte, es nicht alleine zu tun. Von ihrem Leben hatte er keine Ahnung und er ging sogar davon aus, dass er ihr Mittelpunkt war. Deshalb wollte er sie zu sich holen und vermutlich nahm er an, dass sie sich in einer fremden Umgebung fester an ihn binden würde. Christina tat es in erster Linie, weil sie eine Aufgabe hatte, die sie am besten vor Ort erledigen konnte. Und dann gab es in ihr noch eine Art Hoffnung, sie wäre weniger verschlossen, glücklicher, wenn sie ihm die Chance gab, ihr näher zu sein. Ihr Vater hatte sich für sie eine so glückliche Ehe wie die seine gewünscht und sie wollte versuchen, ob es ihr gelingen würde. Vielleicht waren ihre Zweifel, die nicht so sehr auf Logik, als viel mehr auf einem Bauchgefühl beruhten, unbegründet. Vielleicht traf sie von Anfang an die richtige Entscheidung. Sally sagte immer, dass Verdrängung ein sehr wirksamer Prozess war und Christina beschloss, eben dies mit ihren Zweifeln zu versuchen. Schließlich hatte sie sich schon seit zwei Jahren darauf vorbereitet, einen nützlichen Informanten zu finden, der nichts von ihrer zweiten Identität ahnte. Ihn durch eine Ehe an sich zu binden, wäre nicht nur eine sinnvolle Tarnung, sondern versorgte sie hoffentlich auch dauerhaft mit den gewünschten Informationen. Nur fiel es ihr schwerer als erwartet, sich selbst so berechnend zu sehen. Sie hatte, trotz ihres Doppellebens, niemals Menschen direkt verletzt. Doch sie nahm an, dass sie, sollte Damian je die Wahrheit über sie erfahren, mehr in seinem Ego verletzt wäre, als dass ihn ihr Betrug aufrichtig nahe ginge. Zwar warf er ihr immer Emotionslosigkeit vor, doch er bemerkte nicht, dass er selbst nur sich selbst gegenüber Liebe empfand. Er war ebenso kalt wie sie, doch besaß nicht ihre Einsicht diesbezüglich.

Sie schob die lästigen Gedanken beiseite und wischte sich erneut über die Wangen. Sie hatte aufgehört zu weinen, wenngleich ihre Augen noch immer brannten. Erst einmal würde sie nach Spanien fliegen und dabei hatte weder ihre Trauer um Sally, noch ihre Sorge um die Zukunft ihrer Beziehung einen Platz einzunehmen. Sie würde nach Spanien fliegen und dort einen Mann treffen, der der Hilfsorganisation Verpflegung für die Iraker sicherte. Christina arbeitete schon länger mit ihm zusammen und war sicher, dass seine Arbeit nur in den seltensten Fällen legal war. Aber er ermöglichte es ihr, günstiger an Medikamente zu kommen und beschaffte ihr auch sonst, was auch immer sie wollte.

Sie blickte auf als sich jemand neben sie setzte und erkannte den Mann, den sie viele Minuten zuvor angerempelt hatte. „Oh, Sie schon wieder.“, brachte sie überrascht hervor, obwohl sie dachte, dass dies ein wirklich komischer Zufall war.

Der Mann setzte sich und griff ihre Hand. „Freut mich sehr, Sie wieder zu sehen.“, sagte er und lächelte geheimnisvoll. Er betrachtete ihre wunderschönen braunen Augen, die ihn mit den langen, geschwungenen Wimpern an die von Rehen erinnerten und dennoch sah er neben der Liebenswürdigkeit in ihnen auch Leidenschaft und Kampfgeist. Sie war eine schlanke Frau und sie war nicht klein, obgleich sie ihm nur bis zur Brust reichte. Aber er war etwas über zwei Meter groß und deshalb war das nicht verwunderlich. Sie konnte ihm dennoch leichter in die Augen sehen, wenn sie vor ihm stand, als die meisten anderen Frauen, die er kannte. Ihm gefiel die Art wie sie sich kleidete: Eine enge hellblaue Jeans und ein enger Kapuzenpullover der ihren Brüsten schmeichelte. Sie war nicht geschminkt und trug ihre langen rotblonden Locken zum einfachen Zopf gebunden. Sie musste nichts aus sich machen und war immer noch außergewöhnlich schön. Alles in ihrem Gesicht schien perfekt zueinander zu passen, wirkte harmonisch und anziehend zugleich.

Christina bemerkte seinen musternden Blick und betrachtete ihn dann ihrerseits. Er war groß und hatte eine kräftige Statur, obwohl sie sehen konnte, dass es Muskeln waren und nicht Fett, die dies bewirkten. Einen Moment lang schätzte sie, dass er ein beruflicher Boxer oder Ähnliches war, aber dann änderte sie ihre Meinung, da sein Gesicht zu unberührt wirkte, mit Ausnahme der kleinen Narbe über seiner linken Augenbraue. Seine Augen waren von einem ungewöhnlichen Braun, was vielmehr an ein dunkles Grau oder gar Schwarz erinnerte. Sie versuchte über seine Augen etwas über ihn heraus zu finden, stellte jedoch nur einmal mehr fest, dass nichts als eine geheimnisvolle Aura von ihm ausging. Sein Gesicht war sehr maskulin, was durch die Bartstoppeln nur verstärkt wurde. Seine Nase war kräftig, aber wohlgeformt, seine Stirn gehoben, ohne dabei arrogant zu wirken und seine Lippen waren nicht zu schmal, sodass sie keine Kälte ausstrahlten. Und während er sich im Sitz zurecht rückte, konnte sie sehen, dass sein Hemd seine Tätowierungen kaum zu verbergen vermochte. Sally hatte Recht gehabt, er war sehr attraktiv.

Aber Christina fand auch, dass er, im Gegenteil zu Damian, eher gefährlich wirkte und dies in vielerlei Hinsicht. Vermutlich konnte er sogar ihr gefährlich werden, wenn sie bereit gewesen wäre, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Doch das war sie nicht. Sie wäre bald eine verheiratete Frau und musste sich daran gewöhnen, nur noch einen Mann zu begehren. Und doch fand sie es seltsam, dass die Möglichkeit, die sie absichtlich hatte verstreichen lassen, nun zu ihr zurückkehrte.

Christina wandte den Blick ab und nahm ein Buch hervor.

Er betrachtete sie beim Lesen und fand Gefallen daran, ihre Augen dabei zu betrachten, wie sie über das Papier huschten. Manchmal kräuselte sie die Stirn oder biss sich gedankenversunken auf die Unterlippe oder den Fingernagel ihres Zeigefingers. Wenn sie das tat, musste er lächeln. Er konnte sich nicht erinnern, ob er jemals einer so faszinierenden Frau begegnet war, aber er glaubte, dass er sich daran erinnert hätte. Sie war schön, aber vielmehr ging ein Licht von ihr aus, dem er sich nicht entziehen konnte. Es war, als strahle sie von Innen heraus. Als sei sie ganz mit sich selbst im Einklang und wenn sie ihn ansah, kam es ihm so vor, als würde ihr Licht seine inneren Schatten vertreiben. Ihr Licht war das Gegenteil zu seinem Dunkel, seinen Erinnerungen, seinen Dämonen. Und je länger er darüber nachdachte, desto verrückter fand er selbst diese Überlegung. Es war nur ein Gefühl und er vertraute lieber auf seinen Verstand.

„Also schön.“, sagte Christina nach einer Weile ärgerlich. Sie klappte ihr Buch zu, ließ jedoch einen Finger auf der aufgeschlagenen Seite und blickte ihn an. „Sie beobachten mich die ganze Zeit und ich kann mich dabei nur schwerlich konzentrieren. Würden Sie das also unterlassen, bitte?“

„Sie fühlen sich durch meine bloßen Blicke belästigt?“, fragte er und ärgerte sie damit absichtlich. „Bedeutet das, dass Sie sich zu mir hingezogen fühlen?“, setzte er grinsend hinzu.

Christina musste sich ein Lächeln verkneifen, weil er nicht wissen musste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Stattdessen versuchte sie verärgert auszusehen. „Es bedeutet, dass ich mich lieber meinem Buch widme, als Ihrem unsinnigen Gerede weiter Beachtung zu schenken.“, erwiderte sie.

„Sie sind schlagfertig, das gefällt mir.“, sagte er lächelnd. „Und das obwohl Sie offensichtlich andere Dinge im Kopf haben.“

Sie blickte ihn verwundert an, nicht sicher, worauf er anspielte. „Was meinen Sie damit?“, fragte sie widerwillig.

„Ich bin nicht sicher.“, antwortete er. „Aber Sie haben geweint, das verraten Ihre Augen.“

Sie wandte einen Moment lang verlegen den Blick ab. Es war ihr unangenehm, dass er dies bemerkt hatte und sie ärgerte sich, dass er es ihr so dreist ins Gesicht sagte. „Sie sind frech.“, sagte sie und blickte ihn nun doch wieder an. Er hatte etwas in seinen Augen, das sie immer wieder dazu bewog. „Sie wissen überhaupt nichts von mir, also hüten Sie vielleicht besser Ihre Zunge.“

„Sie wollen mir drohen?“, fragte er amüsiert. Dann beugte er sich zu ihr herüber. „Aber Sie haben Recht, ich weiß nichts von Ihnen. Allerdings ließe sich das ändern. Würden Sie nach der Landung mit mir ausgehen?“

Wie auf sein Stichwort hin, setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Christina hielt den Atem an, denn sie hasste das Fliegen. Leider musste sie häufiger als andere darauf zurück greifen. Es war der schnellste Weg Distanzen zu überbrücken und deshalb hatte sie diesbezüglich keine Wahl. Um gegen ihre Angst anzukämpfen, schloss sie die Augen, drückte sich in den Sitz und umklammerte die Lehnen. Es war furchtbar für sie, nicht die Kontrolle zu haben.

Er bemerkte ihre Angst sofort. Während er sich selbst bequem hinsetzte, griff er ihre Hand und hielt sie fest umschlossen.

Sie blickte ihn irritiert an, doch er lächelte nur und machte keine Anstalten, ihre Hand loszulassen.

„Sie brauchen sich nicht zu fürchten.“, sagte er entspannt. „Es ist nur ein kurzer Flug.“

„Ich fürchte mich nicht.“, protestierte sie affektiv.

Er wandte den Kopf und blickte sie amüsiert an. „Gut.“, sagte er. „Dann schlage ich vor, dass Sie wieder anfangen zu atmen.“

Christina wollte etwas ebenso Freches erwidern, aber da er Recht hatte, musste sie lachen. Während sie lachte, löste sich ihre Anspannung und sie dachte nicht mehr über die Gefahren eines Fluges nach.

Als sie in der Luft waren und das Flugzeug leicht dahin schwebte, entzog sie ihm ihre Hand.

Er blickte sie an. „Verraten Sie mir Ihren Namen?“, fragte er.

„Habe ich einen Grund dazu?“, erwiderte sie und versuchte wieder kühl und unnahbar zu wirken. Dass er ihr so sympathisch war, machte es ihr nicht leichter, sich auf ein endgültiges Leben mit Damian zu freuen. Und nun, da sie dem Fremden in die ungewöhnlichen Augen sah, erkannte sie, dass sie sich genau davor fürchtete: Das es endgültig sein könnte.

„Es wäre eine Frage der Höflichkeit.“, antwortete er. Dann griff er erneut ihre Hand. „Aden Hall. Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.“

„Skylla Luna Christina Testilopoules.“, sagte sie schnell. Im nächsten Moment ärgerte sie sich, dass sie ihm die Wahrheit gesagt hatte. Während ihre Freunde und auch Damian nur von ihrem Zweitnamen wussten, wussten ihre irakischen Bekanntschaften und ihre Geschäftspartner nur ihren Erstnamen und einen erfundenen Nachnamen. Christina wurde sie eigentlich nur von ihren Eltern, besonders von ihrem Vater genannt und ihren echten Nachnamen schützte sie vor allen außer ihren Eltern, denn dieser Name war ihr wahres Ich, könnte sie in die größten Schwierigkeiten bringen und ließ sich nicht so leicht wieder ablegen. Und eben diesen Namen hatte sie nun diesem Fremden genannt. Sie fühlte sich unglaublich unprofessionell in diesem Moment. Seit Jahren arbeitete sie mit Kriminellen und Illegalen zusammen, war dabei immer konzentriert, distanziert und erfolgreich, und nun brauchte es nur einen attraktiven Mann, der ihr sogleich ihr bestgehütetes Geheimnis entlockte, ohne sich dafür auch nur anstrengen zu müssen.

Orlando lächelte. „Ein sehr schöner Name, so weit ich das verstanden habe. Griechisch, richtig?“, scherzte er und grinste charmant. „Und wie darf ich Sie nun nennen, um nicht jedes Mal eine Minute für die Anrede zu verschwenden?“

„Luna.“, sagte sie und ärgerte sich neuerlich, weil sie ihn damit zu dem Persönlichen geordnet hatte. „Sie brauchen sich darum jedoch nicht zu kümmern, denn ich habe nicht vor, mich weiterhin von Ihnen bereden zu lassen.“, versuchte sie ihren Fehler zu korrigieren. Wenn er nur ein Fremder in einem Flugzeug wäre, dann wäre es nicht weiter schlimm, dass er ihren wahren Namen kannte.

Als sie das Buch wieder aufnahm, erkannte Orlando, dass es auf Spanisch war. Er war natürlich nicht davon ausgegangen, dass sie noch mehr Sprachen beherrschte, deshalb hatte er sie auf Englisch angesprochen, weil sie sich in London begegnet waren. Nun sprach er sie in seiner Heimatsprache an: „Sie sprechen also auch Spanisch. Ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns zwei Mal hintereinander begegnen und auch noch die gleichen Sprachen beherrschen?“

Christina blickte ihn erneut mit Verwunderung an. Es imponierte ihr, dass er nicht nur eine Sprache fließend beherrschte. Sie hatte bei seinem Englisch einen Londoner Akzent bemerkt, bei seinem Spanisch war sie sich, bezüglich der Ursprungsregion, nicht sicher. „Allerdings.“, erwiderte sie auf Spanisch. „Sehr merkwürdig.“ Erneut klappte sie ihr Buch zu und dieses Mal ließ sie ihren Finger nicht zwischen den Seiten stecken, sondern stellte sich auf eine Unterhaltung mit ihm ein.

„Sprechen Sie noch mehr Sprachen fließend?“, wollte Orlando wissen. Plötzlich spürte er sein Misstrauen zurückkehren. Vielleicht war sie eine Agentin der Polizei oder arbeitete für einen seiner anderen Feinde und versuchte, ihn in die Falle zu locken? Aber sie war noch sehr jung und erweckte nicht den Eindruck einer Kriminellen. Ihr fehlte die Durchtriebenheit. Also tat Orlando diesen Gedanken ab und schalt sich, weil er sie überhaupt verdächtigt hatte. Immerhin war er es, der sie immer wieder zu einer Unterhaltung drängte und der sich neben sie gesetzt hatte. Sie hingegen schien sich gegen seine Annäherungsversuche wehren zu wollen. Sie war distanziert und stellte ihm keine misstrauischen Fragen, was ebenfalls für ihre Unschuld sprach.

„Ich spreche Deutsch und Arabisch ebenfalls fließend.“, sagte sie ehrlich, wenngleich sie vorsichtshalber die anderen Sprachen, die sie ebenfalls beherrschte, unaufgezählt ließ. „Und Sie?“

„Nur Spanisch und Englisch.“, log er vorbeugend. „Allerdings beherrsche ich auch einige Broken aus anderen Sprachen, die man auf Reisen so lernt. Es ist sehr beeindruckend, welche Sprachen Sie sprechen. Wieso haben Sie Arabisch gelernt?“

Sie blickte ihn forschend an, denn sie spürte intuitiv, dass er ihr gegenüber misstrauisch geworden war. Zu gerne hätte sie gewusst, weshalb er plötzlich vorsichtig wurde, aber er sah ihr nicht so aus, als würde er ihr darauf eine ehrliche Antwort geben. Offensichtlich hatte er etwas zu verbergen, ganz genauso wie sie. „Ich arbeite für das Rote Kreuz und helfe hier und dort mal aus. Deshalb reise ich auch viel.“, sagte sie, und auch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Damian arbeitete für das Rote Kreuz. Sie arbeitete für den Roten Halbmond, eine irakische Hilfsorganisation. „Und warum reisen Sie so viel?“, fragte sie ihn und war nur so neugierig geworden, weil er das Gegenteil von ihr wollte.

„Ich arbeite für ein großes Unternehmen und vertrete die Firma im Ausland.“, log er. Dann beschloss er, das Thema schnell wieder auf sie zu lenken. „Was genau machen Sie für das Rote Kreuz? Sind Sie Ärztin?“

Christina lächelte. Es schmeichelte ihr, dass er sie für eine Ärztin hielt, da sie nie die Selbstdisziplin aufgebracht hatte, auch nur ihr Abitur zu machen. Sie hatte dafür keine Zeit gehabt, hatte stattdessen die Welt bereist, Kontakte geknüpft. Sie war auch zu jung, gerade erst im Januar war sie 23 geworden. „Ich bin Krankenschwester.“, log sie. In Wahrheit übernahm sie die organisatorischen Angelegenheiten für den Roten Halbmond und das auch nur, damit sie eine glaubhafte Tarnung hatte. Für Damian half sie gelegentlich im Krankenhaus als Schwester aus, aber sie hatte es nicht besonders mit der Pflege von Kranken. Die Reise nach Spanien galt ihrer eigentlichen Arbeit, aber von ihren geheimen Aktivitäten durfte niemand etwas erfahren, den sie nicht brauchen konnte. Dieses Geheimnis bewahrte sie gut und es machte sie vorsichtig.

„Und darf ich fragen, warum Sie nach Spanien fliegen?“, wollte Orlando wissen. „Arbeiten Sie dort?“

„Ja.“, log Christina sogleich. Augenblicklich fragte sie sich, wie sie ihn von sich ablenken konnte. Sie war sich sicher, dass auch er nicht gerne von sich sprach und schlussfolgerte, dass sie beide Dinge zu verbergen hatten. Allerdings war sie neugierig geworden und wollte wissen, was sein Geheimnis war. „Wenn ich ehrlich bin, sehen Sie nicht gerade aus wie ein Firmenvertreter, Aden.“

Orlando lächelte. Ihr Scharfsinn entging ihm nicht und ihm war bewusst, dass eben das sie gefährlich für ihn machte. Und doch reizte es ihn auch. Sie reizte ihn. „Welcher Beruf würde denn Ihrer Meinung nach zu mir passen, Christina?“

Sie blickte ihn überrascht an, weil er nicht Luna gesagt hatte. Er hatte, wahrscheinlich zufällig, ausgerechnet den Namen ausgesucht, der ihr am nächsten war. Doch sie ließ sich ihre Unsicherheit nur einen kleinen Moment lang anmerken. Im nächsten Moment lächelte sie wieder voller Selbstsicherheit. „Sie haben den Körper eines Kämpfers.“, antwortete sie und erkannte, wie etwas in seinen Augen auffunkelte, was sie nicht zu deuten vermochte, sie jedoch an Furcht erinnerte. „Ich dachte, Sie wären vielleicht Soldat oder so etwas.“

„Tja, ich war mein Leben lang ein leidenschaftlicher Sportler.“, sagte er und versuchte seine Unruhe zu verbergen. „Und was machen Sie, neben Lebenretten?“

Sie grinste. „Gewöhnlich lese ich Bücher.“, sagte sie und hob kurz das Buch in ihrer Hand. Es war eine charmante Anspielung auf seine Penetranz gewesen und sie brachte ihn zum Lachen.

„Und ich nehme an, Sie sind Tänzerin.“, tippte er schließlich.

Sie blickte ihn mit einem verwunderten Lächeln an. „Wie kommen Sie darauf?“

Er blickte zu ihren Beinen herab. „Sie halten die Muskeln Ihrer Beine permanent unter Spannung und Sie haben eine ungewöhnlich anmutige Haltung. So gerade.“, antwortete er aufrichtig.

Christina lachte herzlich. „Nein, ich bin keine Tänzerin.“, antwortete sie ehrlich. „Ich war mein Leben lang eine leidenschaftliche Sportlerin.“, gab sie neckend seine Aussage wieder. In Wahrheit hatte sie sehr viele Kampfsportarten erlernt, um in einem Kampf nicht wehrlos zu sein und auch, weil sie sich fit halten musste. Sie war durchtrainiert, aber nur, weil sie übte, wann immer sie die Zeit dafür fand.

Orlando lachte amüsiert und sah sie danach einfach nur fasziniert an.

Sie blickte ihn etwas verlegen an und lächelte. „Trotzdem werde ich nicht mit Ihnen ausgehen.“, sagte sie, als sie diese Frage von seinem Gesicht hatte ablesen können. Er lachte und steckte sie damit an.

Nachdem das Flugzeug gelandet war und Christina und Orlando gemeinsam ihr Gepäck in Empfang genommen hatten, blieben sie voreinander stehen.

Christina war überrascht, wie gut sich die Unterhaltung mit Aden Hall entwickelt hatte. Er war ein sehr charmanter und humorvoller Mann. Sie hatte sich mit ihm sowohl über Politik, als auch über, ihrer Meinung nach, überflüssige Fernsehsendungen unterhalten können. Niemals zuvor hatte sie sich während eines Fluges so sehr entspannen können. Allerdings hatte ihr niemals zuvor ein Mann schon nach so wenigen Stunden so gut gefallen. Ich könnte mich in ihn verlieben, dachte sie. Um das zu vermeiden, reichte sie ihm nun förmlich die Hand. „Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Aden.“, sagte sie lächelnd.

Er schüttelte ihre Hand und ließ sie danach nicht los. „Mich hat es noch viel mehr gefreut, Christina.“, erwiderte er und lächelte ebenfalls. „Und? Weigern Sie sich noch immer mit mir auszugehen?“

Sie lachte, weil es ihm offensichtlich nicht peinlich war von ihr abgelehnt zu werden und weil er, jedes Mal, wenn er sie um ein Date bat, unheimlich anziehend auf sie wirkte. Er war selbstsicher und seine Selbstsicherheit wirkte selbstverständlich, natürlich. Sie machte ihn mit aus und das gefiel ihr. „Ja, ich muss wirklich weiter.“, lehnte sie dennoch ab. „Zeit ist Geld, Mr. Hall.“, setzte sie grinsend hinzu.

„Dann kann ich nur hoffen, dass der Zufall uns noch ein weiteres Mal zusammen führen wird.“, sagte er und stellte fest, dass es der Wahrheit entsprach. Er wollte sie unbedingt wieder sehen, aber er konnte sie schließlich auch nicht zwingen, sich darauf einzulassen.

„Das würde dann doch eher an Schicksal, als an Zufall erinnern.“, sagte sie und entzog ihm dann ihre Hand, um die Griffe ihrer Tasche aufzunehmen. „Auf Wiedersehen und viel Erfolg auf Ihrer Reise.“

Orlando lächelte. „Ihnen auch. Sofern Spanien nicht Ihre Heimat ist?“, sagte er, weil er nicht sicher war, ob sie privat oder geschäftliche Gründe für ihre Reise hatte.

„Ich habe keine Heimat, Aden. Meine beste Freundin nennt mich die Heimatlose.“, sagte sie und lächelte dabei ohne Reue.

Er erwiderte das Lächeln. „Dann passen Sie auf sich auf, heimatlose Christina, egal wo Sie sind.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und blickte sie an.

Einen Moment lang, glaubte er in ihren Augen eine gewisse Verwunderung zu erkennen, doch dann lächelte sie und nickte ihm leicht zu. Sie drehte sich um und ging zum Ausgangsportal des Gebäudes. Orlando blickte ihr nach und fragte sich, ob sie das wirklich war, heimatlos. Er hatte vielmehr das Gefühl, sie wäre überall auf der Welt Zuhause.

Die Partisanen

Подняться наверх