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Kapitel 3

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Santander, Spanien, Zwölfter März 2003

Alejandró war zwei Tage nach der Beerdigung wieder Zuhause angekommen. Er hatte mit Wladimir Vostinov Verhandlungen über die Aufteilung von Ristovas Machtbereichen geführt und war mit dem Ergebnis zufrieden. Immerhin hätte der Russe nicht teilen zu brauchen. Er hätte das russische Monopol selbst befehligen können, aber er schien zu wissen, dass er Alejandrós Hilfe nur dann bekäme, wenn er ihm ein verlockendes Angebot unterbreiten konnte. Und so hatte er Alejandró einige der wichtigen Machtgebiete in Europa überlassen, ihm die bestimmten Kontaktmänner in diesen Bereichen genannt und ihm seinen neuen Geschäftspartner Sergej Waczynski vorgestellt. Alles verlief nach Plan, wenngleich er auch Rückschläge hatte hinnehmen müssen.

Am frühen Abend kühlte er sein Gemüt im Pool ab. Er schwamm nicht, sondern trank einen Cocktail, wobei er weiterhin im Wasser saß, als sein Sohn neben ihn trat.

Orlando hockte sich zu ihm herunter.

Alejandró blickte freudig überrascht drein. Er legte seine nassen Hände an Orlandos Wangen und küsste ihn überschwänglich auf beide Seiten. „Na endlich, mein Lieber! Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht!“, rief er freudig aus. „Wo hast du so lange gesteckt?“

Orlando zuckte die Schultern. „Das Ganze hat ein wenig mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich erwartet hatte.“, log er ausweichend. Sein Vater durfte nicht wissen, dass er Geschäfte unterhielt, auf die Alejandró selbst nicht den geringsten Einfluss hatte.

Dieser stieg nun aus dem Pool und als er Orlando umarmen wollte, wich dieser schnell zurück.

„Schon gut, Alejandró. Du hast dir Sorgen gemacht. Aber jetzt genug der Liebe.“, sagte er, um nicht erneut von seinem Vater nass gemacht zu werden.

Alejandró lachte verstehend. Er hätte seinem Sohn gern den Arm um die Schultern gelegt, aber dieser überragte ihn um mehr als einen Kopf, sodass es ihm längst unmöglich geworden war. Sie gingen gemeinsam in den Schatten der Veranda. „Du musst mir alles erzählen, ehe ich dir meine neuesten Nachrichten verrate.“, sagte er und klopfte Orlando stolz, aber knapp auf die Schulter.

„Ich geh’ mich erst umziehen.“, erwiderte Orlando. „In England ist es sehr viel kälter als hier.“

Alejandró blickte auf die dickere Kleidung seines Sohnes und nickte verständnisvoll. „Aber dann musst du mir Bericht erstatten, ehe du die Weiber begrüßt.“

Orlando nickte zustimmend und ging dann ins Haus.

Die Villa hatte unzählige Zimmer, für die Alejandró alle eine besondere Verwendung gefunden hatte. Orlando selbst hatte in seinem Elterhaus drei Zimmer, obwohl er nicht einmal mehr hier wohnte. Ein Zimmer diente ihm als Aufenthaltsraum, das zweite als Büro und das dritte als Schlafzimmer, an das sich ein Bad anschloss. Orlando hatte auch noch immer Kleidung hier und ansonsten alles, was er brauchte. Und dennoch fühlte er sich in seinem eigenen Haus, was ums Vielfache kleiner war, wohler. Er hatte eine sonnenüberflutete Terrasse an seinem Schlafzimmer, eine große, offene Küche und ein ganzes Untergeschoss, dass er noch nicht einmal richtig fertig gestellt hatte.

Orlando ging die rechte Treppe von der Eingangshalle aus hinauf und betrat sein Schlafzimmer. Seine 22-jährige Schwester Carmen und seine 20-jährige Schwester Bonita bewohnten den gleichen Trakt der Villa wie er, wenn er denn da war. Seine Schwestern Esmeralda und Sandrine, die 17 und 15 Jahre alt waren, den Trakt der Eltern auf der linken Seite der Villa.

Während Orlando sich in seinem Schlafzimmer sommerliche Kleidung anzog, hörte er Bonita gedämpft sprechen. Er vermutete, dass sie wieder mit einem ihrer männlichen Bekanntschaften telefonierte. Carmen konnte er nicht hören und nahm deshalb an, dass sie beim Tennis war. Sie war eigentlich immer beim Tennis. Während Bonita und Esmeralda nur die Männer im Kopf hatten, waren Carmen und Sandrine auf ihre jeweiligen Sportarten fixiert. Carmen war eine ehrgeizige und auch sehr gute Tennisspielerin und Sandrine liebte den Reitsport und nahm seit ihrem neunten Lebensjahr an Turnieren teil. Orlando selbst war in seiner Jugend in beinahe jeder Sportart gut gewesen, aber je älter er wurde, desto weniger hatte er die Zeit für Sport gefunden. In seiner Schulzeit war er einmal ein sehr guter Schwimmer gewesen und hatte für das Basketballteam der Privatschule gespielt.

Orlando stand im Badezimmer und rasierte sich seine Kopfhaare neuerlich ab und entschied sich während dessen, auch den beginnenden Bart nicht stehen zu lassen. Schon morgen früh wären die Bartstoppeln jedoch wieder deutlich sichtbar, das wusste er aus Erfahrung.

Seine Gedanken waren jedoch nicht auf seine Arbeit gerichtet und so schnitt er sich in die rechte Wange und stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. Er wusch den Rasierschaum von dem Schnitt und fuhr dann unbeirrt fort. Noch immer hafteten seine Gedanken an der wunderschönen Frau aus London, die sich für heimatlos hielt. Besonders ihre Augen hatten es ihm angetan, sie waren wie Bernsteine und funkelten voll Wärme und Leben. Wann immer er ihr länger in die Augen geblickt hatte, hatte er geglaubt einen Windsturm zu spüren, der ihn direkt in ihre Arme trug, als würde die Gravitation ihn nicht länger zur Erde, sondern zu ihr ziehen. Und ihr Lächeln! Ihre weißen, ebenen Zähne und die kleinen Grübchen, die sich dabei auf ihren Wangen abzeichneten, hatten ihn immer dazu gezwungen, auch zu lächeln. Er war wahrhaftig niemals zuvor einer so schönen, anmutigen Frau begegnet, die ihn dann auch noch ablehnte. Sie war die erste Frau, die ihm unnahbar, unerreichbar erschien und er fragte sich ununterbrochen, ob er sie, wenn sie sich jemals wieder sehen sollten, doch noch von seinen Vorzügen überzeugen könnte. Zwar hatte sie ihm erzählt, dass sie einen Verlobten hätte, den sie schon bald heiraten wollte, aber dies bedeutete ihm nichts. Wenn sie ihn nicht liebte, hätte er vielleicht eine Chance bei ihr. Und wenn dem so wäre, dann wäre eine Ehe mit diesem Arzt ohnehin sinnlos.

Orlando schüttelte den Kopf und versuchte die Gedanken zu vertreiben. Wenn seine Mutter wüsste, woran er seit dem Flug jeden einzelnen Gedanken verschwendete, hätte sie augenblicklich versucht, diese Frau zu finden und sie ihm zur Ehefrau zu machen. Orlando musste darüber grinsen. Dann wusch er sich sein Gesicht und den Kopf und trat die Treppen hinunter um sich einer Unterhaltung mit seinem Vater zu stellen. Diese fielen ihm nur deshalb gelegentlich schwer, weil er seinen eigenen Vater belog um ihn aus seinen Angelegenheiten heraus zu halten.

Alejandró wartete bereits ungeduldig in seinem Arbeitszimmer auf seinen Sohn. Da das Thema ihrer Unterhaltung brisant sein würde, hatte er die Veranda gegen das abhörsichere Büro getauscht.

Orlando nahm in dem kühlen Raum Platz und ließ sich von einem Bediensteten ein kaltes, mexikanisches Bier reichen, ehe dieser die Tür von Außen schloss.

Als er mit seinem Vater alleine war, musterte er ihn einen Moment lang forschend. Der Mann hatte mit dem Alter an Gewicht zugenommen, was sich jedoch hauptsächlich auf seinen Bauch ausgewirkt hatte. Seine Haut war durch die Sonne sehr gebräunt, allerdings verdeutlichten die vielen Falten, dass er die 60 Jahre schon überschritten hatte. Einzig seine Augen und seine würdevolle Haltung verrieten einen Jedem, dass der Geist dieses Mannes noch so hervorragend funktionierte wie in jungen Jahren. Vielleicht verschaffte er sich durch seinen Blick den verdienten Respekt. Alejandró hatte kurzes schwarzes Haar, was noch immer nicht lichter geworden war. Und auch sein Bart, der um seine Mundpartie herum wuchs und filigran gestutzt wurde, war noch immer nicht ergraut. Wenn er einen seiner teuren Anzüge trug, wirkte er weniger dicklich als breit und elegant.

Orlando war sich sicher, dass sein Vater bereits wusste, dass der Mord erfolgreich durchgeführt worden war, denn sonst hätte er sicher mehr Ungeduld an den Tag gelegt und auch schon vor seiner Ankunft versucht, ihn zu erreichen. Nun fragte er sich, was Alejandró bereits unternommen hatte, um seinen Plan der Vollendung näher zu bringen. Und er fragte sich, ob sein Vater mit dem Bruder von Ristova Geschäfte eingehen würde, oder ob auch Wladimir Vostinov ihm ein Dorn im Auge war.

„Also, erzähl’ mir alles, mein Sohn.“, forderte Alejandró ihn mit vor Spannung funkelnden Augen auf.

Orlando nippte an seinem Bier und setzte sich entspannt im Stuhl zurecht, indem er seinen Fuß über das Knie legte. „Ich bin nach London geflogen, habe Ristova ausfindig gemacht, mir ein Hotelzimmer unter falschen Namen gebucht und ihn daraus erschossen, als er gerade von einem Schiff aus an Land gehen wollte.“, sagte Orlando rekapitulierend. Ausschmückungen waren nicht seine Art, ebenso wenig wie Eigenlob. Es war offensichtlich, dass er nicht vorhatte, ins Detail zu gehen. Sein Vater blickte ihn noch immer erwartungsvoll an, also setzte er hinzu: „Die Russen waren wütend, mein’ ich, aber auch zu ignorant, als dass sie mich verdächtig gefunden hätten als ich sie, unmittelbar nach dem Anschlag, beobachtete.“

Alejandrós Miene wurde ärgerlich. „Hatte ich dir nicht gesagt, dass du vorsichtig sein sollst?“, fragte er, sowohl aus Besorgnis um das Leben seines Sohnes heraus, als auch aus Sorge um sein Geschäft und seinen Ruf. „Und du erzählst mir, du hast sie direkt danach seelenruhig beobachtet, anstelle dich in Sicherheit zu bringen! Was wenn sie dein Gesicht erkannt haben und sich später daran erinnern?“

Orlando zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Das wäre nur unvorteilhaft, wenn du gedenkst, mit ihnen zusammen zu arbeiten und dabei meine Hilfe bräuchtest.“, sagte er. An dem Blick seines Vaters erkannte er, dass er ins Schwarze getroffen hatte. „Und wie sind die Verhandlungen gelaufen? Hast du die Franzosen verdächtig machen können, so wie du es geplant hattest?“

Alejandró ärgerte sich maßlos über die unverhohlene Überlegenheit, die sein Sohn über ihn zu haben glaubte. Mit den Jahren hatte er sich immer weniger von seinem Vater sagen lassen, war frech und eigensinnig geworden und führte die Befehle seines Vaters nur dann aus, wenn es ihm ebenfalls danach verlangte. Er machte ihm immer wieder klar, dass er nicht sein Untergebener war, sondern freiwillig entschied, ob er ihm half oder nicht. Alejandró sah dies alles und dennoch war er nicht in der Lage, etwas daran zu ändern. Orlando war erwachsen und er war, so sehr Alejandró es auch bedauerte, längst nicht mehr von ihm abhängig. Schwerer wog jedoch, dass sein Sohn wahnsinnig talentiert war. Wenn er jemanden unauffällig ausschalten sollte, dann erledigte er seine Arbeit perfekt und Alejandró wusste, wie schwer es war, so fähige und intelligente Auftragskiller zu finden.

Alejandró nahm sich zusammen und schluckte seine Wut herunter. „Zumindest hast du Ristova ausgeschaltet, wie wir es besprochen hatten.“, sagte er und versuchte seine Wut durch diese Zufriedenheit zu verdrängen. „Wie viele Schüsse hast du abgegeben?“

„Einen.“, antwortete Orlando wahrheitsgemäß.

Sein Vater blickte unabsichtlich überrascht drein, denn dem gebührte Anerkennung. Er selbst hatte es auch in seinen jüngeren Jahren nicht geschafft, einen Menschen mit einem Scharfschützengewehr aus nicht geringer Entfernung diskret und schnell zu töten. Sein Sohn übertrumpfte ihn, doch dies war für ihn nicht so schlimm wie die Tatsache, dass sein Sohn über dieses Wissen zufrieden grinste.

„Was ist bei den Verhandlungen mit den Russen heraus gekommen?“, wiederholte Orlando seine Frage. Der eigentliche Plan seines Vaters hatte beinhaltet, dass er die russischen Gebiete nach Ristovas Tod an sich reißen würde. Allerdings hatte Orlando das deutliche Gefühl, dass dies nicht bei seinen Gesprächen mit den Russen heraus gekommen war.

Alejandró fuhr sich verlegen über die Stirn, weil er den Rückschlag, den er erlitten hatte als plötzlich ein Bruder Ristovas auftauchte, nicht vor seinem Sohn zugeben wollte. Ihm war jedoch bewusst, dass es sein eigenes Verschulden gewesen war, weil er sich nicht gründlich genug über die Familienverhältnisse des Mannes informiert hatte. Dieses Versäumnis würde ihn nun dazu zwingen, vor seinem Sohn zurückzustecken.

„Ich nehme an, du musstest dich mit Wladimir Vostinov auseinandersetzen?“, sagte Orlando, nachdem sein Vater noch immer schwieg. „Hat er dir zumindest einige Bezirke überlassen oder war der ganze Zirkus umsonst?“

Alejandró starrte seinen Sohn fassungslos an. „Woher weißt du von Vostinov?“, fragte er.

Sein Sohn zuckte neuerlich die Schultern. „Bevor ich Ristova erschossen habe, habe ich mich informiert.“, antwortete er aufrichtig. „Ich hab’ mich schon gefragt, wie du dir dennoch alle Gebiete aneignen willst, aber dann hab’ ich erfahren, dass dieser Russe eigentlich nichts mit illegalen Geschäften zu tun hat und dachte, dass du ihn vermutlich ganz gut über den Tisch ziehen kannst. Jetzt wird mir allerdings klar, dass du nichts von einem Bruder gewusst hast.“

Alejandró schlug die Faust auf den Tisch. Sein Kopf wurde rot vor Wut. Orlando hatte es gewusst und ihm nichts gesagt! Er hatte ihn nicht einmal darauf aufmerksam gemacht, nachdem für ihn klar gewesen war, dass die Pläne seines Vaters nicht schlüssig waren. Und nun wagte er es auch noch, über seinen Zorn zu grinsen, als ginge es ihn nichts an. „Du hast es gewusst! Du hast das gewusst und mir verschwiegen!“, fuhr Alejandró ihn an. „Wie konntest du die Dreistigkeit besitzen, mich nicht darüber zu informieren und mich ins offene Messer laufen lassen?“

Orlando trank sein Bier aus und stellte die leere Flasche auf den Schreibtisch seines Vaters. „Ich habe nur getan, was du mir aufgetragen hast.“, sagte er mit beinahe gleichgültiger Ruhe. Er mochte es nicht, wenn sein Vater ihn anschrie, als wäre er noch ein kleines Kind. Und er würde sich ganz sicher nicht schuldig fühlen, für etwas, das sein Vater versäumt hatte in Erfahrung zu bringen. „Und du selbst warst es, der mir verboten hat, mich ansonsten in deine Geschäfte einzumischen. Ich bin nicht gewillt, mir deine Vorwürfe anzuhören, nur weil es dich erzürnt, dass ich umsichtiger war als du selbst.“

Alejandró hätte aufschreien mögen, aber er schwieg, so irritiert war er. Bisher hatten immer ausgeglichene Machtverhältnisse zwischen seinem Sohn und ihm geherrscht, oder zumindest hatte Alejandró dies so empfunden. Sein Sohn war ihm gegenüber nie so direkt wie jetzt gerade entgegen getreten und hatte ihm nie vor Augen gehalten, dass er besser als sein Vater geworden war. Er hatte ihm Respekt entgegen gebracht, weil er das Familienoberhaupt war. Nun jedoch hatte sich sein Sohn über ihn erhoben. Alejandró ärgerte dies vor allem deshalb, weil sein Sohn ein so schwieriger, selbstzerstörerischer Mensch war. Man konnte ihm keine Befehle erteilen. Orlando war einfach besser geworden. Er prahlte nicht einmal damit, auch wenn es sich sowohl an seiner Wortwahl, als auch an seiner Haltung zeigte. Alejandró hätte mit einem hinterhältigen Versuch seines Sohnes, ihn aus dem Geschäft zu drängen, vielleicht sogar besser leben können als mit der bloßen Überlegenheit, die Orlando ausstrahlte. Je länger er jedoch darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass sein Sohn seinen Zorn nicht verdiente. Er mochte vielleicht eigensinnig und eventuell sogar respektlos sein, aber er war sein Sohn, sein Erbe und er war der Beste, in allem, was er anfing. Alejandró erkannte, dass er sich die Intelligenz und die Fähigkeiten seines Sohnes nicht mehr würde zunutzen machen können, wenn er ihn verärgerte.

„Ristovas Bruder will die Geschäfte so weiter führen, wie sie bisher gelaufen sind. Allerdings gibt er mir die russischen Bezirke in Spanien und Portugal, damit ich ihm zur Seite stehe, wenn er seinen Feind gefunden hat und seinen Bruder rächen kann.“, erzählte Alejandró ruhig. „Ich war vor ein paar Tagen in Moskau bei Ristovas Beerdigung. Vostinov sieht in mir seinen Verbündeten und Freund und ich glaube, ich kann ihn bald endgültig von der Schuld Michél Tripoutêts überzeugen.“

Orlando nickte. „Du bewegst dich da auf dünnem Eis, Vater.“, sagte er feststellend. „Und obwohl ich weiß, was du dir davon versprichst, bin ich nicht sicher, ob dein Plan langfristig der Beste ist.“

„Was meinst du damit?“, wollte Alejandró wissen.

Orlando stellte beide Füße auf den Boden und stützte die Ellenbögen auf die Knie. „Wenn jetzt kein Bandenkrieg ausbricht, was ich sogar noch annehmen könnte, wird das spätestens dann passieren, wenn die Franzosen herauskriegen, wer sie aufs Kreuz gelegt hat. Du bist sicherlich nicht der Einzige, der es beherrscht zu manipulieren. Die Franzosen werden auch Verbündete haben und vielleicht glauben die Russen ihnen irgendwann ihre Unschuld. Wer fängt schon einen Bandenkrieg an, wenn er sich selbst etwas vorzuwerfen hat und gerecht behandelt wurde?“

Alejandró schluckte merklich. Aus dieser Perspektive hatte er seinen Plan und die Zukunft noch nicht betrachtet. Es war durchaus möglich, dass sein Sohn Recht hatte. „Was schlägst du vor, was ich machen soll?“, fragte er schließlich, wenngleich er sich nicht ganz wohl dabei fühlte, seinen Sohn um einen Rat zu bitten.

„Seh’ zu, dass deine Verbündeten Feinde der Russen sind und stärker als die Franzosen und deren Gefolge.“, antwortete Orlando. „Du bist da schon drin und kannst nicht mehr raus, Alejandró.“ Obwohl er die Amerikaner hasste, musste er gestehen, dass eben diese ein Geschäftspartner wären, der viele andere einschüchtern würde. „Du musst dir eine Rückversicherung zulegen und ich glaube, wir denken dabei beide an die Amerikaner, da die italienische Mafia ohnehin auf deiner Seite steht.“ Der Anführer der italienischen Mafia, Fabrizio della Monta, war ein Cousin seines Vaters. Orlando und Bonita hatten damals oft die Ferien bei ihrem Onkel Fabrizio in Italien verbracht und sich gut mit dessen Kindern angefreundet. Um seine Loyalität brauchte sich Alejandró demnach am wenigsten zu sorgen. „Außer Ristova wusste keiner seiner Leute, dass er Verhandlungen mit den Amerikanern führen wollte und Vostinov is’ ein Idiot und versteht ohnehin nichts davon. Mach dir das zunutze. Am besten du tust es schnell, ehe die Amerikaner sich von selbst an Vostinov wenden und dir das Heft aus der Hand nehmen.“

Alejandró nickte bestätigend. „Ich werde mich gleich darum kümmern.“, versicherte er. „Und nun geh’ deiner Mutter und deinen Schwestern Hallo sagen. Und schick mir Benini rein.“

Orlando nickte und erhob sich. Er nahm es seinem Vater nicht übel, dass er ihm nun wieder Befehle zu erteilen versuchte. Immerhin war er das Familienoberhaupt und zumindest in dieser Position respektierte er seinen Vater auch angemessen.

Alejandró hielt ihn noch einmal auf, ehe er den Raum verlassen konnte. „Danke, Orlando.“, sagte er aufrichtig. „Ich bin froh, dass du auf meiner Seite stehst.“

Orlando wusste das zu schätzen, denn er war sich sicher, dass es seinen Vater größte Überwindung gekostet hatte, sich bei seinem Sohn für einen geschäftlichen Rat zu bedanken. Er lächelte schräg. „Du bist mein Vater. Da hab’ ich kaum eine Wahl.“, sagte er und sein Vater erwiderte das Lächeln.

Während Orlando durch die Halle schritt, blieb er nur kurz stehen um einen Bediensteten anzuweisen, seiner Mutter und seinen Schwestern seinen Besuch ankündigen zu lassen. Auf der Veranda fand er schließlich Benini. Dieser war der Berater und Vertraute seines Vaters und gemeinsam besprachen sie beinahe alle geschäftlichen Angelegenheiten. Alejandró vertraute Benini seit so vielen Jahren, dass er ihn gleich bei sich hatte einziehen lassen, um ihn jederzeit zu sich rufen zu können.

„Mein Vater verlangt nach dir.“, sagte Orlando und setzte sich in den Schatten eines Baldachins. Benini schien zu überlegen, ob er noch die Zeit finden konnte, um sein Getränk in Ruhe auszutrinken, entschied sich wegen des skeptischen Blickes Don Orlandos dann jedoch dagegen und eilte sofort zum Büro seines Bosses.

Orlando überlegte, wie er seinen Eltern eine erneute Abreise erklären könnte, ohne dabei verdächtig zu wirken oder viele Fragen aufzuwerfen. Vielleicht sollte er einfach behaupten, sich einmal frei zu nehmen. Er würde ihnen sagen, dass er nach Griechenland fliegen würde, um dort einen entspannten Urlaub bei Bekannten zu verbringen. Er war sich sicher, dass seine Mutter ihm dies glauben würde und wenn nicht, so hatte sie dennoch keine Ahnung, was ihr Sohn ansonsten vorhatte. Bei seinem Vater war er da nicht so sicher. Allerdings hatte Orlando ihm gerade einen guten geschäftlichen Rat gegeben, der gegen seine eigene Überzeugung war. Und würde sein Vater sich danach richten, wäre er vermutlich erst einmal auf Tage beschäftigt. So oder so, nichts würde ihn abhalten können, in den Irak zu reisen.

Er hob den Kopf als er aufgeregte Stimmen hörte. Gleich darauf tauchten seine Mutter und ihre Töchter vor ihm auf. Sie umarmten ihn eine nach der anderen.

Isabella küsste ihren Sohn auf die Stirn und hielt sein Gesicht in ihren Händen, bis er ihre Hände liebevoll, aber entschieden von sich zog. „Wie geht es dir, mein lieber Schatz?“, fragte sie und sah ihn mit leuchtenden Augen an. Er war ihr ganzer Stolz und jeder, der ihre Miene sah, wenn sie ihren Sohn betrachtete, konnte das deutlich erkennen.

Er blickte sie mit einem sowohl charmanten, als auch verlegenen Lächeln an. „Mama, du tust, als hättest du mich ein Jahr lang nicht gesehen.“, sagte er amüsiert. „Aber es geht mir gut, danke.“

„Was hast du mir mitgebracht, Orlando?“, wollte Sandrine wissen. Sie fragte es nicht arrogant oder gierig, sondern nüchtern, denn alle seine Schwestern wussten, dass er ihnen von jeder Reise Geschenke mitbrachte.

Er lächelte all seine Schwestern an und war, obwohl er sie alle liebte, froh, nicht mehr Zuhause zu wohnen. Zwei Männer unter fünf Frauen hatten es einfach nicht leicht. „Die Tasche steht im Esszimmer.“, sagte er. Außer Bonita liefen alle Frauen, einschließlich seiner Mutter, ins Haus um nachzusehen, was er ihnen gekauft hatte.

Bonita setzte sich neben ihren Bruder und steckte sich elegant eine Zigarette an. „Du siehst irgendwie anders aus, als sonst, Bruderherz. Glücklicher.“, merkte sie, mit aufmerksamen Blick auf ihn, an.

Orlando lächelte leicht, während er in das hübsche Gesicht seiner neun Jahre jüngeren Schwester sah. Sie hatte die Körpergröße eines Topmodels, war schlank, aber nicht mager und hatte lange, schwarze Haare. Vor ein paar Monaten hatte sie noch Locken gehabt, nun war die Dauerwelle heraus gegangen und ihre Haare waren wieder glatt und gerade geschnitten. Noch dazu trug sie jetzt einen frechen Pony. Orlando wunderte sich nicht, dass sie viele männliche Freunde hatte. Allerdings schätze er sie mehr wegen ihrer Liebenswürdigkeit und ihrer Intelligenz. Noch dazu war sie von all seinen Schwestern am ausgeglichensten und unaufdringlichsten.

„Und du hast eine neue Frisur.“, sagte er und hoffte, sie würde nicht weiter auf ihn eingehen.

Doch sie tat es: „Lenk bloß nicht ab.“ Ein Lächeln erschien auf ihrem sanften Gesicht. „Ich sehe dir an, dass du was verheimlichst und ich nehme an, es hat mit einer Frau zu tun. In jeder anderen Hinsicht, würde ich deine Lüge nämlich nicht durchschauen.“

Orlando lachte. Obwohl sie nichts von seinen geheimen Identitäten und Geschäften wusste, wusste sie, dass er öfter auf Lügen zurückgreifen musste, um sich nicht verdächtig zu machen. „Tja, dann wird es wohl so sein.“, räumte er ein.

Bonita grinste zufrieden. Obwohl sie keine dumme Frau war, war sie, wie ihre Mutter, der Ansicht, ein geldschwerer, attraktiver und guter Mann wie Orlando musste eine Ehefrau finden, die ihn umsorgte und zu schätzen wusste. Bonita fand, dass man Männer bei Laune halten musste, damit sie nicht im Selbstmitleid ertranken und so hätte sie Orlando gerne verheiratet gesehen, oder auch nur überhaupt mit einer Frau fest liiert, die er nach Hause bringen und ihnen vorstellen wollte. Sie wusste, er lebte nicht zurückhaltend, was Frauen anging, aber doch hatte ihn noch keine Frau an sich binden können. Einmal hatte sich eine ihrer Freundinnen auf ihn eingelassen und er hatte mit ihr geschlafen und sie danach nicht mehr auf diese Weise beachtet. Er hatte ihr vielleicht unwissentlich das Herz gebrochen, aber getan hatte er es dennoch. Bonita selbst wollte ebenfalls die Ehe eingehen, aber bisher hatte sie noch keinen Antrag von dem richtigen Mann bekommen. Es musste ein Mann sein, der nicht nur ihr selbst alles bieten konnte, sondern einer, der auch ihre Eltern überzeugen konnte und auch bereit war, ihnen den Hof zu machen. Nur dann würde sie über die Annahme eines Heiratsantrages nachsinnen.

Orlando musste ihr die Gedanken vom Gesicht abgelesen haben, denn er sagte gequält: „Hör auf an die Ehe zu denken, nur weil ich an eine Frau denke. Du siehst schon aus wie Bella.“

„Nenn’ Mama nicht Bella. Sie ist deine Mutter und so solltest du sie auch betiteln.“, tadelte sie sogleich. Er sagte nichts, lächelte jedoch so amüsiert, dass sie ohnehin wusste, was er von ihrer Belehrung hielt. Dennoch ärgerte sie sich nur im Stillen darüber und ging lieber weiter auf seine Zukunft ein. „Wer ist diese Frau, an die du denkst?“

Orlando lächelte geheimnisvoll. „Das weiß ich auch noch nicht genau.“, antwortete er.

Bonita machte nun doch eine ärgerliche Miene. „Du verliebst dich in eine Frau –das erste Mal überhaupt- und dann ausgerechnet in eine, die du gar nicht kennst? Ich hatte dich für weniger töricht gehalten.“

„Wer sagt denn, dass ich verliebt bin?“, sagte er lachend. „Ich denke nur an sie.“

„Was bei dir ja schon gleichbedeutend ist.“, erwiderte seine Schwester unverzüglich. „Jedenfalls hast du nie zuvor so ausgesehen, wenn du an eine Frau gedacht hast. Irgendetwas Besonderes muss es demnach zwischen euch geben.“

Orlando lächelte und stellte sich Christinas wunderschönes Gesicht vor. Wie sie ihn angerempelt hatte und ihm danach in die Augen gesehen hatte. Er hatte geglaubt, ein Blitz durchzucke ihn. „Ja.“, sagte er. „Sie ist jemand Besonderes.“

Bonita blickte ihn forschend an und versuchte vergebens seine Gedanken zu erraten. „Wirst du sie der Familie vorstellen?“

Orlando lächelte erneut. „Das würde ich vielleicht, wenn sie das denn wollte.“

„Was denn, es liegt an ihr?“, fragte sie beinahe empört. „Du suchst dir gerade die eine Frau aus, die dich nicht will?“

„Wenn du wüsstest, Schwesterchen.“, sagte er und erinnerte sich dabei an Christinas Verlobung. „Allerdings muss ich zugeben, dass ich wirklich oft an sie denke. Ich möchte sie unbedingt richtig kennen lernen.“, setzte er hinzu und dachte, dass er ihre Heimat sein wollte. Diese Selbsterkenntnis wirkte beinahe erlösend auf sein Gemüt. Dass seine Möglichkeiten Christina wieder zu sehen, geringer waren als die zufällige Chance einer solchen Begegnung, ließ er dabei außer Acht.

*

Christina kam im Haus des Mannes an, der die Hilfsorganisation mit günstigen Medikamenten und Transportmöglichkeiten unterstützte.

Sie saß mit dem gebürtigen Bosnier in dessen Garten und trank kühle Margaritas. Christina war immer wieder überrascht, wie sehr er sich von seinen Kindern unterschied. Mladen war ein großer und schlanker Mann, eher sportlich als dünn und seine Haut war so braun wie seine Augen. Seine zwei Kinder jedoch unterschieden sich ungemein von ihm. Seine Tochter war gerade 16 geworden, hatte hellbraunes Haar, blaue Augen und war für ihr Alter zu übergewichtig. Dennoch war sie alles andere als hässlich und Christina vermutete, dass sie, wenn sie erst einmal die Pubertät hinter sich gebracht hatte, eine wirklich hübsche Frau werden würde. Ihr etwas jüngerer Bruder war eher zu mager als zu voll, er trug eine Brille und schien sich den ganzen Tag hinter seinen Physikbüchern zu verstecken. Er hatte noch kein Wort gesprochen seit Christina hier war.

Christina achtete jedoch nicht weiter auf die Kinder, wenngleich es ihr wie ein Vertrauensbeweis vorkam, dass Mladen sie ihr nicht vorenthielt und sie in sein privates Haus eingeladen hatte. Dennoch interessierte sie sich einfach nicht für Kinder, nicht für die von Mladen, noch für Kinder generell. Sie konnte keine richtige Beziehung zu ihnen aufbauen. Vielleicht lag es daran, dass sie ein Einzelkind war, vielleicht aber auch –zumindest Damian behauptete das- daran, dass sie selbst noch so jung war. Wenn sie Damian beim Verarzten von Kranken helfen musste und sich dabei eines Kindes annehmen musste, dann machte sie dies ohne zu zögern und dabei gelang es ihr sogar, beruhigend auf sie einzuwirken. Aber privat war sie kein Kindermensch. Damian hingegen liebte Kinder und die Kinder, mit denen sie ihn bisher gesehen hatte, liebten auch ihn. Vielleicht spürten sie, dass er den Menschen half und sie in ihrem jungen Leben bereits das Gegenteil bewirkt hatte? Sie wusste es nicht, aber solange er sie nicht mit der Gründung einer eigenen Familie behelligen würde, war es auch nicht wichtig.

Sie schüttelte den Kopf und vertrieb die Gedanken. Mladen saß vor ihr am Tisch und studierte eine der Listen, die sie ihm vorgelegt hatte. Es war eine Liste von Medikamenten, die sie im Irak dringend benötigten und er war der Mann, der sie ihr beschaffen sollte.

Es dauerte etwa zehn Minuten, in denen er jedes einzelne Medikament deutlich in seiner Erinnerung durchging, ehe er endlich wieder zu ihr aufblickte. „Gib mir eine Woche.“, sagte er schließlich.

Sie blickte ihn enttäuscht an. „Wie stellst du dir das vor, Mladen?“, fragte sie. „Ich kann doch nicht jede Woche hier her reisen. So viel Geld besitze ich nicht.“ Das stimmte nicht, aber er musste nicht wissen, dass dem so war.

„Ich würde dich ohnehin gerne hier behalten.“, sagte er. „Siehst du meine wunderschöne Tochter Stephanie? Sie wird in ein paar Tagen heiraten, hier in meinem Haus. Allerdings braucht sie noch eine Brautjungfer und diese Arbeit, dachte ich, könntest du übernehmen.“

Christina musste lachen. „Ja, sicher.“, sagte sie sarkastisch. Deine Tochter kann doch nicht älter als 16 sein.“

Mladen blickte so ernst drein, dass er Christina damit zum Schweigen brachte. „Sie ist 16.“, sagte er. „Und sie braucht eine Brautjungfer, die ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen hilft.“

„Ich fühle mich ja wirklich geschmeichelt, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ich dafür die geeignete Person bin.“, sagte Christina in dem Versuch, den Wunsch höflich auszuschlagen. Sie hatte eigentlich keine Zeit für diesen Unsinn. Ihr Verlobter wartete in einem anderen Land auf sie und sie hatte wahrhaftig andere Dinge im Kopf, um noch eine weitere Woche in Spanien Urlaub zu machen. „Sie wird doch sicher eine Menge Freunde haben. Eine ihrer Freundinnen wäre doch sicher viel lieber ihre Brautjungfer.“

Mladen blickte sie verlegen an und beugte sich verschwörerisch zu ihr vor. „Weißt du, Skylla, mein Mädchen hat eigentlich überhaupt keine Freunde.“, gestand er.

Christinas Stirn legte sich in Falten. Hatte nicht auch der seltsamste Mensch zumindest einen Freund, auf den er sich verlassen konnte? Ihr Leben war verrückt und sie selbst war gelegentlich nicht sehr umgänglich, weil es so viel in ihrem Leben gab, über das sie nicht sprechen konnte. Und selbst sie hatte Freunde. Sie hatte Freunde, die ihr wie eine Familie waren. Da sollte es für ein junges, attraktives Mädchen doch auch nicht so schwer sein, Freunde zu finden. „In Ordnung.“, gab sie nach. „Aber dann musst du mir einen weiteren Gefallen tun, kostenlos, natürlich.“

Mladen lächelte zufrieden. „Alles, was du willst.“, sagte er entschlossen. Er hatte bereits befürchtet, seine einzige Tochter müsste bei ihrer Hochzeit alleine vor dem Priester stehen. Seit seine Frau gestorben war, fehlte es dem Mädchen an weiblichen Beistand. Nun jedoch würde sie eine schöne Frau neben sich haben, die ihr Beistand geben konnte. Und sicherlich würde sie sich auch vor der Hochzeit noch genügend Zeit für Stephanie nehmen, ihr vielleicht einige sexuellen Dinge erklären können. Um selbst nicht ein solches Gespräch mit seiner Tochter führen zu müssen, war er bereit, eine Menge zu tun.

Christina zog ihre Liste zurück und schrieb, nachdem sie kurz gerechnet hatte, auf die Rückseite, was sie von ihm haben wollte. Sie schob den Zettel zu Mladen zurück. „Wenn die Medikamente rüber geflogen werden, werde ich schon im Irak sein, sodass ich die Ladung selbst annehmen kann. Dabei fallen zwei Kisten mehr nicht sonderlich auf.“ Zur Not würde sie die Beamten am Flughafen bestechen. Es gab immer eine Möglichkeit ans Ziel zu gelangen. Sie betrachtete Mladens zweifelndes Gesicht, doch sie erkannte, dass er bereits überlegte, wie schnell ihr Wunsch zu erfüllen war. Sie lächelte zufrieden. „Da du mir nun zwei Kisten schuldest, machen wir vier daraus und teilen uns den Preis.“, fuhr sie fort. „Kannst du das organisieren?“

Mladen blickte auf und sah sie an. „Nur, wenn mir Don Alejandró wohl gesonnen ist.“, antwortete er grübelnd. „Vermutlich auch so, aber mit der Hilfe der Mafia ginge es natürlich auch weitaus schneller und wäre ungefährlicher. Und so wie ich das sehe, musst du alle Kisten in das gleiche Flugzeug stecken.“

„Dasselbe.“, korrigierte sie ihn und konzentrierte sich dabei immer noch auf ihr eigenes Ziel. Er wirkte nicht überrascht über ihre Forderung, denn er hatte ihr diesbezüglich bereits einmal geholfen. „Aber du hast Recht. Wir haben eine Deadline. Kannst du dich mit der Mafia in Verbindung setzen und dieses Problem lösen?“

Er nickte. „Das werde ich ohnehin müssen um an einige der Medikamente zu kommen. Is’ nicht alles legal, was da auf deiner Liste steht.“, antwortete Mladen.

Sie grinste. „Also abgemacht?“, fragte sie drängend.

Er nickte, kurz, aber entschlossen. „Abgemacht.“ Sie reichten einander die Hände und besiegelten ihren mündlichen Vertrag damit. Seit sechs Jahren arbeiteten sie gemeinsam und bisher hatte es zwischen ihnen nie Probleme gegeben. Mladen war etwa doppelt so alt wie sie und doch hatte er auch mit ihr verhandelt, als sie gerade ein wenig älter als Stephanie heute gewesen war. Er hatte sie auch als 17-Jährige respektiert und dafür war sie ihm auch heute noch dankbar.

Christina hatte die Bekanntschaft zu Mladen für die Hilfsorganisation aufgetan und bald festgestellt, dass er Kontakte hatte, die ihr mehr als nur legale Medikamente ermöglichten. Und so hatten sie beschlossen, dass er nur mit ihr Geschäfte abschloss und nur sie die Verhandlungen für die Hilfsorganisation abschließen konnte. So war sie ständig zwischen dem Irak und Spanien hin und her geflogen und hatte so manches erkauft, was die Hilfsorganisation nicht zu wissen brauchte. Wenn sie jedoch selbst bald im Irak leben würde, würden diese Reisen für sie weniger Umstände bedeuten und ihr vielleicht noch mehr Möglichkeiten eröffnen.

Nachdem sie ihre Aufgabe vorerst erledigt hatte, täuschte sie Müdigkeit vor und wurde von Mladens Tochter zum Gästezimmer, welches ihr für die Dauer ihres Aufenthalts zugedacht war, geführt.

„Das hier ist es.“, sagte Stephanie und faltete verlegen die Hände ineinander. Aus irgendeinem Grund, wagte sie nicht, Christina direkt anzusehen.

„Vielen Dank, Stephanie.“, erwiderte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie stellte ihre Taschen im Zimmer ab und blickte zu der Tochter ihres Bekannten. Sie hatte nicht gewagt, ihr in den Raum zu folgen, erweckte jedoch auch nicht den Anschein, als wolle sie gehen. „Komm doch herein.“, forderte Christina sie also auf. Wenn sie schon ihre Brautjungfer werden würde, dann sollte sie vielleicht versuchen, ihr zumindest ein bisschen näher zu kommen. Sie erkannte ein freudiges Funkeln in den Augen des Mädchens und gleich darauf kam sie ihrer Aufforderung nach. Christina erschien es etwas merkwürdig, dass sie sogleich die Tür hinter sich schloss, aber sie vertrieb diesen Gedanken wieder. Sie hatte nicht den geringsten Grund einem Mädchen zu misstrauen. Sie selbst war in diesem Alter zwar bereits eine Gefahr gewesen, wenn es jemand darauf angelegt hatte, aber ihr war durchaus bewusst, dass sie wohl eine Ausnahme war.

Christina warf einen Blick aus dem Fenster und konnte die kleine Straße vor dem Haus überblicken. Mladen lebte mit seinen Kindern etwas abgeschieden, wenngleich die Innenstadt von El Astillero nicht weit entfernt zu sein schien. Der Ort war an der Küste gelegen und Christina liebte die Luft hier. Als sie sich wieder Stephanie zuwandte, stand diese noch immer an der Tür, senkte jedoch schnell den Blick, als Christina sie ansah.

„Sag mal, warum siehst du mich nur an, wenn ich wegsehe?“, wollte Christina wissen. Sie hielt nichts von falschem Taktgefühl. Und sie hatte es neugierig gefragt, nicht verärgert oder arrogant.

Stephanie lächelte zurückhaltend. Im nächsten Moment hob sie den Kopf und blickte Christina direkt in die Augen. „Weil Sie so wunderschön sind und ich nicht möchte, dass Sie mich für merkwürdig halten.“, sagte sie. „Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so schön ist wie Sie. Sie leuchten im Inneren.“

Nun musste Christina lächeln. Zuerst hatte sie gedacht, das Mädchen wolle sie beobachten, weil sie ihr nicht traute und sie deshalb stets musterte. Nun stellte sie erleichtert fest, dass Stephanie sie bewunderte.

Christina setzte sich auf die Fensterbank und betrachtete sie nun ihrerseits aufmerksam. Wieso sollte sie sie für merkwürdig halten? Sie wirkte wie ein normaler Teenager auf sie. „Es gibt viele schöne Frauen, meinst du nicht? Überall auf der Welt, das kann ich dir versichern.“, sagte sie, nur um irgendetwas zu sagen. „Du bist auch sehr hübsch, Stephanie. Ich bin sicher, in ein paar Jahren, werden dich viele Frauen um dein Aussehen beneiden.“ Christina hatte gesagt, was sie dachte, nicht sicher, ob es nun höflich gewesen war oder nicht. Sie hatte keine Erfahrung darin, sich Teenager zu Freunden zu machen. Und so hatte sie einfach versucht, höflich zu sein und doch nicht zu lügen. Höfliche Lügen waren ihrer Meinung nach das Schlimmste. Und Stephanie war ein hübsches Mädchen. Sie hatte jedoch kaum Selbstbewusstsein und das fand Christina aufrichtig bedauernswert.

Nun winkte das Mädchen schüchtern ab, während sie doch über das Kompliment lächelte. Dann trat sie auf sie zu und berührte eine von Christinas Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. „Ihre Haare erinnern mich an Feuer.“, sagte sie lächelnd. „Und Ihre Augen sind wie Licht, das aus der Erde fließt.“

Christina blickte mehr verwundert als geschmeichelt drein. Langsam begann sie sich in ihrer Gegenwart verändert zu fühlen, merkwürdig, aber nicht unbedingt unangenehm.

„Sie sind wie Feuer und Erde. Und so wie die beiden Elemente gegensätzlich zu sein scheinen, verhält es sich auch mit Ihrer Persönlichkeit. Sie sind das Feuer und die Erde und Sie nutzen beides.“, fuhr Stephanie unbeirrt fort.

Christina lachte leicht, in dem Versuch, ihre Unsicherheit zu verbergen. „Woher willst du das wissen?“, fragte sie forschend.

„Ich sehe mit dem Herzen und nur selten mit den Augen.“, antwortete Stephanie. „Es ist eine Gabe, die ich nutzen muss, weil ich das Glück hatte, sie zu bekommen. Die anderen verstehen das nicht. Und das ist auch der Grund dafür, dass ich keine Freunde habe. Dafür wollten Sie doch eine Erklärung, nicht wahr?“

Wenn ich gläubig wäre, würde Gott nun ein Gebet von mir hören, dachte Christina sarkastisch. Sie hielt jedoch weder etwas auf Religionen, noch auf Aberglauben. Und dennoch bereitete dieses Mädchen ihr eine Gänsehaut. Immerhin hatte sie nicht wissen können, was sie nun so entschieden behauptete.

„In Ihrer Zukunft wird es einen Mann geben, durch den Sie Ihre Stärken verbinden können.“, sagte Stephanie und lächelte. „Sie werden ihn so glücklich machen, wie er Sie.“ Sie schloss die Augen und sah sie erst nach geraumer Zeit wieder an. „Sie werden nicht länger heimatlos sein, wenn Sie ihm gestatten, Ihnen nahe zu sein. Er wird Ihnen die Heimat sein und Sie ihm das Licht, das seine Dämonen vertreibt.“

Als Christina diese Worte hörte, durchfuhr sie neuerlich eine Gänsehaut. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass Stephanie nicht von Damian sprach. Hatte sie nicht Aden Hall gegenüber erwähnt, dass sie die Heimatlose genannt wurde? Aber dieser Gedanke war absurd und Stephanie konnte davon nichts wissen. Sie hatte es nicht mit einem Wort erwähnt, also konnte dieses unheimliche Mädchen es nicht wissen. Aber gesagt hatte sie es dennoch. Im nächsten Moment glaubte Christina, selbst unheimlich zu werden, weil sie in Betracht zog, ihr zu glauben. „In Ordnung.“, sagte sie abwehrend. „Lassen wir das, ja?“

„Wie Sie wünschen.“, erwiderte Stephanie und senkte dabei wieder ihr Haupt. Sie wirkte nicht gekränkt. Scheinbar kannte sie diese Reaktion längst. „Ich wollte Ihnen noch einmal persönlich danken, dass Sie meine Brautjungfer sein werden. Das ist sehr freundlich von Ihnen, da Sie mich nicht einmal kennen.“

Christina nickte leicht, wenngleich sie dachte, dass sie bereits genug von ihr kannte, um zu wissen, warum alle anderen sie mieden. Dennoch fühlte sie sich nun, da sie wieder ein normales Gespräch führen konnten, augenblicklich behaglicher. „Ich denke, ich mache das gerne.“, sagte sie und wusste nun, dass es nicht gelogen war. Sie hatte vielleicht eingewilligt, weil sie ihre eigenen Ziele vor Augen gehabt hatte, aber nun fand sie auch, dass es nicht gerecht wäre, wenn das Mädchen während ihrer eigenen Hochzeit alleine wäre. „Allerdings finde ich es wirklich schade, dass diese Aufgabe keine deiner Freundinnen übernimmt.“

Stephanie blickte sie mit einem traurigen Lächeln an. „Die Mädchen in meiner Schule fürchten sich wegen meiner Gabe vor mir, so wie Sie sich auch. Aber diese Mädchen haben nicht Ihren Kampfgeist.“, antwortete sie erneut auf die ungestellte Frage. „Im Mittelalter wurden Menschen deshalb hingerichtet, wussten Sie das?“

Christina nickte. „Ja.“, sagte sie zusätzlich. „Die Kirche ließ im Mittelalter so gut wie alle hinrichten, die ihnen nicht gefallen haben.“

Stephanie lächelte, schwieg jedoch.

„Freust du dich auf deine Hochzeit?“, fragte Christina, um das Thema zu wechseln. „Ich finde, du bist doch noch recht jung für die Ehe.“ Als sie selbst 16 gewesen war, hatte sie angefangen, Geschäfte mit den Irakern zu machen. Damals hatte sie Ali, einen nun sehr guten Freund, kennen gelernt, der sie in dieses Terrain eingeführt hatte. Christina hatte hinein gepasst, zwischen die Rebellen und Geschäftsleute. Sie war schon damals selbstsicher und klug gewesen und so hatte man sie in dieser Männergesellschaft bald akzeptiert. An die Ehe hatte sie in diesem Alter allerdings überhaupt nicht gedacht. Auch jetzt noch, mit 23, kam sie sich eigentlich zu jung vor, um entscheiden zu können, sich auf ewig an einen einzigen Mann zu binden.

Stephanie kicherte amüsiert. „In der Heimat meines Vaters wäre ich schon längst versprochen oder gar verheiratet. Es ist ganz normal für ihn und ich kenne es auch nicht anders.“

Christina nickte einsehend. Es war eben eine andere Kultur. Und nur weil sie es sich für sich selbst nicht vorstellen konnte, bedeutete es nicht, dass es nicht für andere selbstverständlich war. Für Stephanie schien es das zu sein. „Und dein baldiger Ehemann?“, fragte sie. „Liebst du ihn?“

„Ich kenne ihn noch nicht.“, antwortete Stephanie.

Christina nickte verstehend, wenngleich sie diese arrangierten Ehen verachtete. Kultur hin oder her, sie konnte keinen Sinn darin sehen, zwei Unbekannte miteinander zu verheiraten. Und auch wenn diese Ehen statistisch weniger oft geschieden wurden als gewöhnliche Ehen, konnte sie es dennoch nicht begreifen. Wo war die Leidenschaft? Sollte nicht jeder Mensch zumindest die gleiche Chance erhalten, sich unsterblich zu verlieben? Ihrer Meinung nach war eine verrückte, unlogische Beziehung noch immer besser als eine lieblose, die vielleicht für ewig hielt. Einen Fehler zu machen, war besser, als nie das Risiko einzugehen.

„Versuchen Sie, das zu verstehen, Miss.“, sagte Stephanie, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Mein Vater hat diesen Mann für mich ausgesucht und somit steht fest, dass wir einander in diesem Leben gehören werden. In der Kultur meines Vaters werden die Dinge so geregelt. Auch seine Eltern haben entschieden, mit welcher Frau er den Bund der Ehe eingehen sollte und Sie sehen, dass dabei zwei Kinder herausgekommen sind.“

Christina nickte erneut. „Ich finde es dennoch falsch.“, sagte sie ehrlich und machte sich auch sonst keine Mühe, ihre Abneigung gegen diese Tradition zu verbergen. „Ich würde niemals einen Fremden heiraten, nur weil das jemand so verabredet hat. Ich bewundere dich, dass du diese Bürde ohne Widerworte auf dich nimmst.“

„Sehen Sie, ich freue mich darauf, einen Ehemann zu bekommen.“, sagte Stephanie. „Ich weiß, dass Sie dies nicht recht verstehen können, aber, wenn ich so frech sein darf, ich verstehe Sie auch nicht.“

Christina lächelte freundlich. Sie war dankbar, wenn die Menschen ihr mit Ehrlichkeit begegneten.

„Wieso zieren Sie sich, Ihren Verlobten zu heiraten?“, fragte Stephanie dann. „Für eine Frau ist es doch immer gut, wenn sie einen Mann an ihrer Seite hat, der sie beschützen kann.“

Christina blickte sie nahezu fassungslos an. Sie hatte mit niemanden, den dieses Mädchen kennen konnte, über ihre Verlobung gesprochen. „Woher weißt du davon?“, fragte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.

„Ich kann es sehen.“, antwortete Stephanie und erfüllte damit Christinas Befürchtung. „Aber ich glaube nicht, dass Sie ihn heiraten werden. Sie werden einen Mann finden, der besser zu Ihnen passt. Und Sie werden eine Wahl haben –ganz anders als ich. Es ist nicht Ihre Schuld, dass Sie den anderen lieben werden. Das Schicksal bestimmt das.“

Christina glaubte ihr kein Wort und wollte sie unbedingt los werden. All die Dinge, die sie sagte, konnten nicht wahr sein. Vielleicht war sie einfach eine gute Beobachterin. Doch am meisten wunderte sie, dass dieses Mädchen gebildet sprach und manchmal sehr klug wirkte und im nächsten Moment hielt sie an Traditionen fest, die nichts mit Schicksal und Hoffnung zu tun hatten.

Stephanie deutete eine kleine Verbeugung an und lächelte freundlich. „Bis morgen, Skylla. Schlafen Sie gut.“, sagte sie. Gleich darauf hatte sie das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen.

Christina blieb einen Moment lang regungslos auf der Fensterbank sitzen. War dieses Mädchen verrückt? Ich glaube, ich werde allmählich selbst verrückt, dachte sie dann. Wieso schenke ich Stephanies Worten überhaupt Beachtung? Die Antwort wusste sie sofort. Einige von Stephanies Worten waren so real gewesen, dass sie Eindruck hinterlassen hatten. Sie hatte nichts von Damian wissen können und hatte ihn dennoch, wenn auch nicht namentlich, erwähnt. Sie hatte von dem Feuer und der Erde in ihr gesprochen und damit auf die zwei Personen gedeutet, die Christina verkörperte, ihre Identitäten. Auf der einen Seite war sie die gewöhnliche Verlobte, die in einer Hilfsorganisation arbeitete und den Menschen half, und auf der anderen Seite war sie leidenschaftliche Rebellin, die auch bereit war einem Menschen das Leben zu nehmen.

Dann gestattete sie sich nicht länger, an diesen Gedanken festzuhalten. Sie war zu bodenständig um an derlei Dinge zu glauben und sie hatte ganz andere Sorgen und Aufgaben als sich damit zu beschäftigen.

Augenblicklich fühlte sie sich besser. Sie sprang von der Fensterbank herunter und begann, sich für die Nacht umzuziehen.

Als sie sich aufs Bett legte und die dünne Decke über ihren Körper zog, gingen ihre Gedanken allerdings erneut einen Weg, den sie nicht zulassen wollte: Aden Hall. Obwohl sie ihn abgewiesen hatte, konnte sie nicht sagen, dass es sich richtig angefühlt hatte. Er hatte sie mit seiner geheimnisvollen Art fasziniert und es ließ sie an ihn denken, weil sie wusste, dass er gefährlich war. Er hatte es nicht gesagt und nicht angedeutet, aber sie spürte es so sicher, dass sie nichts umstimmen könnte. Dass sie schon nach einem einzigen Gespräch von ihm hingerissen war, ließ sie sich jedoch über sich selbst ärgern. Sie schalt sich eine Närrin, da sie überhaupt an ihn dachte. Ich bin verlobt und sollte nur an den Mann denken, den ich heiraten werde. Also stellte sie sich Damians Gesicht vor. Er war schlank und groß, hatte eine etwas zu große Nase, aber schöne Zähne. Sein Lächeln hatte sie vor etwas mehr als einem Jahr dazu bewogen, seinen Einladungen zum Essen nachzugeben. Seine Frisur hatte sich mit der Zeit geändert. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er seine braunen Haare sehr kurz getragen, mittlerweile reichten sie ihm jedoch bis zu den Ohren. Christina machte sich nicht sonderlich viel aus Äußerlichkeiten, aber sie bestritt nicht, dass es bei einer ersten Begegnung hauptsächlich darauf ankam. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich in einen Mann zu verlieben, der ihr vom Aussehen her gänzlich widerstrebte. Aber sie glaubte, dass sich dieses Aussehen durch den Charakter in der Wahrnehmung veränderte und der Gefallen des Verstandes die Augen zu täuschen vermochte. Damian war kein hässlicher Mann, aber sie war auch nicht von seinem Aussehen hingerissen gewesen. Sie hatte sich vielmehr auf ihn eingelassen, weil er intelligent und gebildet war und das fand sie attraktiv. Aden Hall hingegen hatte sie sogleich auch optisch fasziniert.

Allerdings störte sie sich weniger an Damians Aussehen, als an seinen charakterlichen Mängeln. Manchmal war er dermaßen selbstverliebt, dass sie sich fragte, warum er sie heiraten wollte, wenn er nur sich selbst zum Glücklichsein brauchte. Und er wusste nicht, was Fürsorge in einer Partnerschaft bedeutete oder er interessierte sich einfach nicht genug für sie. Doch sobald ihr Ärger verflogen war, legten sich auch ihre Vorwürfe und sie glaubte, überzureagieren. Manchmal glaubte sie auch, dass es mehr ihre als seine Schuld war. Immerhin kannte sie sich nicht mit ernsthaften Beziehungen aus und es war durchaus möglich, dass sie zu viel erwartete. Sie wollte Leidenschaft und Streitereien, aber auch Geborgenheit und Zuneigung. Sie wollte alles und er konnte es ihr natürlich nicht geben. Allerdings ärgerte es sie, dass er es nicht einmal versuchte. Wenn sie mit ihm über ihre Wünsche sprach, tat er das meistens als kindliche Sehnsüchte ab, die ohnehin utopisch waren.

Und nun würde sie ihn bald heiraten. Sie hatten zwar kein Datum festgelegt, weil Christina sich noch nicht festlegen wollte, aber sie würden im Irak heiraten und dahin war sie ja bereits unterwegs. Dennoch wollte sie sich mit dieser Entscheidung nicht drängen lassen. Sie wollte sehen, wie es war, mit ihm zusammen zu leben. Würden sie sich auch noch verstehen, wenn sie einander jeden Tag sahen, dann glaubte sie, dass auch eine Ehe funktionieren würde.

Sie war dabei eine große Distanz zu ihren Eltern und Freunden aufzubauen und dies schmerzte sie noch immer in der Seele. Auch wenn sie es für ihren baldigen Mann tat. Immer wieder zweifelte sie an dieser Entscheidung. Nicht, weil es sie störte in Bagdad zu leben, sondern weil er es entschieden hatte, nicht sie. Sie hatte noch nie ein Land für ein anderes verlassen, um einen anderen Menschen nahe zu sein. Sie war immer gegangen wohin sie es gewollt hatte und hatte sich auch diesbezüglich nicht gerne festlegen lassen. Allerdings konnte sie mit Damian nicht darüber reden. Wie sollte er auch verstehen, dass sie in ihrem jungen Leben schon in einigen Ländern gelebt hatte? Er würde sie fragen, wie sie sich das hatte leisten können und darauf könnte sie ihm nicht antworten. Und so verhielt es sich mit den meisten Dingen. Sie konnte nicht mit ihm reden, beziehungsweise sein Verständnis erwarten, weil sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Es war nicht seine Schuld, sondern ihre.

Als sie sich mit Damian über ihre gemeinsame Zukunft unterhalten hatte, hatte sie gemerkt, dass er sich Kinder wünschte. Er wünschte sich eine gewöhnliche Familie. Sie hatte ihn daraufhin verlassen wollen, um ihm die Chance zu geben, eine Frau zu finden, mit der sein Wunsch greifbarer wäre. Doch er hatte sie angefleht, nicht zu gehen. Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte und es ihm dann egal wäre, ob sie nun Kinder hätten oder nicht. Wenngleich er diesen Plan eher auf unbestimmte Zeit verschoben hatte, als ihn abzuschreiben. Dann hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte ihn gefragt, ob er es nur getan hatte, um zu verhindern, dass sie ihn verließ, aber er hatte geantwortet, er habe es ohnehin vorgehabt. Er hatte ihr einen schönen Verlobungsring gekauft und sie hatte seinen Antrag wage angenommen. Mit derlei Dingen kannte sie sich nicht aus. Sie wusste nicht einmal, wie man einen gemeinsamen Haushalt führte, weil sie nie mit einem Mann zusammen gelebt hatte. Ihr Leben wurde von ihrer Arbeit bestimmt, nicht von einem Mann und dabei wollte sie es durchaus belassen. Dass sie zugestimmt hatte, ihm in den Irak zu folgen, hatte mehr damit zu tun, dass sie dort einige geschäftliche Angelegenheiten regeln könnte. Und da sie eine Invasion durch die Amerikaner kommen sah, stellte sie sich auf einen Guerillakrieg ein, bei dem sie nicht untätig bleiben wollte. Es würde eine Menge zu tun geben, wenn der Krieg erst käme und wenn sie ehrlich war, war eben das der Grund für ihre Reise. Doch sie hatte Damian glauben lassen, dass sie es aus Liebe zu ihm tat. Dieser Glaube schien ihn mehr zu überzeugen, als ihre bloße Annahme seines Heiratsantrages. Und ihr war es nicht wichtig, was genau ihn in seinem Vertrauen zu ihr bestärkte. Wichtig war nur, dass er ihr traute und keine misstrauischen Fragen stellte. Die Wahrheit würde ihn in seinen Grundfesten erschüttern, die Lügen machten ihn hingegen zufrieden. Christina schämte sich dafür, ihn immer wieder zu belügen. Nicht weil sie Schwierigkeiten mit dem Lügen an sich hatte, sondern weil sie wusste, sie hätten keine Zukunft, wenn er die Wahrheit kennen würde. Und auch dafür gab sie sich selbst die Schuld. Er war nur ein Mann. Und sie war sich sicher, dass es wohl keinen Mann gab, der mit ihren Geheimnissen würde umgehen können. Es ging also weniger um den Betrug durch die Lüge, als viel mehr um die Gefahr, die Christina selbst bedeutete. Und deshalb versuchte sie es mit Damian. Jeder andere Mann hätte die gleichen Probleme mit ihr gehabt und da war es ebenso gut eine aufrichtige Beziehung mit ihm zu versuchen, wie mit allen anderen. Sie musste sich damit abfinden, nicht selbst geliebt zu werden, weil sie selbst es gewesen war, die eine andere Person spielte. Damian liebte Luna, aber vor Skylla würde er sich fürchten. Und wenn sie ehrlich war, gestand sie sich ein, dass Skylla sich natürlicher anfühlte, aufrichtiger, mehr sie selbst. Er konnte nur einen Teil von ihr haben und ihm reichte das. Also hatte er es verdient, dass sie ihm zumindest einen Versuch einräumte. Vielleicht würden sie, gegen alle Wahrscheinlichkeit, glücklich zusammen werden.

Christina seufzte und rieb sich über die schmerzenden Augen. Sie hatte lange nicht geschlafen und der schwere Abschied von Sally lag ihr zusätzlich auf der Seele.

Sie konnte wirklich nicht sagen, wie ihre Ehe mit Damian funktionieren sollte oder würde. Jedoch wusste sie ganz sicher, was sie beruflich tun würde. Da sie von nun an in Bagdad leben würde, könnte sie die Hilfsorganisation stärker, da vor Ort, unterstützen. Mladen hatte ihr nun bereits eine Hilfe erwiesen, indem er ihr die fürs Krankenhaus und die Organisation benötigten Medikamente und den Flugzeugtransport zusicherte. Christina hatte sowohl die Menge, als auch einige Medikamente der eigentlichen Liste geändert. Sie rechnete mit einem Krieg und so war es besser, vorbereitet zu sein. Das Krankenhaus würde von ihr erhalten, was es verlangt hatte, die Hilfsorganisation würde mehr erhalten, als sie bezahlen könnten. Christina bezahlte all die neuen, nicht immer bereits zugelassenen Medikamente von ihrem eigenen Geld. Doch sie ahnte, dass die Iraker, wenn der Krieg erst gekommen war, jede Hilfe brauchen würden. Und ihre Kollegen beim Roten Halbmond wussten, dass sie die Bestellungen zu ändern pflegte. Sie wussten auch, dass die Organisation dafür nicht finanziell würde aufkommen müssen und deshalb waren sie so verschwiegen wie Christina selbst. Nachdem sie das erste Mal eine Lieferung geändert hatte, waren ihre Kollegen eher dankbar, als ungehalten gewesen. Immerhin hatte sie die Liste um teure, aber nützliche Dinge ergänzt und über das Geld kein Wort verloren. Und seither handhabten sie es weiter so. Keiner verlor ein Wort darüber und es funktionierte zu der Zufriedenheit aller. Doch auch davon erfuhr Damian nichts. Das Krankenhaus, in dem er arbeitete, war ein Amerikanisches. Meistens erhielten sie ihre Medikamente also aus den Staaten selbst und wenn man doch Christina um Hilfe bat, machte sie sich bei ihnen nicht verdächtig. Sie wusste auch, dass viele Iraker den Amerikanern misstrauten und sich lieber gar nicht medizinisch versorgen ließen, ehe sie zu ihnen ins Krankenhaus gingen.

Christina drehte sich auf den Rücken und blickte gegen die Zimmerdecke. Obwohl sie sich ermattet fühlte und ihr Körper sich nach Schlaf sehnte, gelang es ihrem Verstand noch immer nicht, abzuschalten. Sie dachte an so viele Dinge und wusste letztendlich auf keinen fragenden Gedanken eine genaue Antwort. Stets beantwortete sie ihre eigenen Fragen mit Hoffnungen oder Wahrscheinlichkeiten. Allmählich war sie es leid, sich weiterhin damit zu beschäftigen. Wieso war das Private so viel unsicherer als das Geschäftliche? Sie befahl sich selbst, alles etwas lockerer zu sehen. Sie würde einfach abwarten müssen und sehen, was geschehen würde. Vielleicht hatte Stephanie ja Recht und das Schicksal würde alles für sie regeln. Sie würde abwarten, sich keinen unsicheren Plan zurecht legen und hoffen, dass sie im richtigen Moment schon wüsste, was zu tun wäre. Bis es so weit war, wollte sie versuchen ihren aufgezwungenen Urlaub in Spanien zu genießen und sich bemühen, eine gute Brautjungfer zu sein.

Die Partisanen

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