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Was andere in der DDR nicht machen konnten,
konnten wir machen
ОглавлениеGeboren bin ich 1932 in München und im Alter von fast drei Jahren mit meinen Eltern und meiner Schwester, die 1934 geboren wurde, in ein Dorf am Starnberger See gezogen. Mein Vater war mittlerer Beamter der Stadt München. Meine Mutter arbeitete nach der Heirat nicht mehr. Sie war in einer Schwesternschaft in Dresden selbstständig, gab alles auf und zog zu ihrem Mann nach München. In die Schule gegangen bin ich ab 1938. Ich war vier Jahre in der Volksschule und sollte auf die Oberschule kommen bzw. auf die Napola*. Mein Vater war 1925 in die NSDAP eingetreten, hatte aber keine Funktion. Für die Napola gab es ein Ausleselager, in dem ich für eine Woche war. Dort orientierte man sich am Erziehungsbild der Nationalsozialisten: »Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und schnell wie ein Windhund.« Auch mein Vater erzog mich für den Führer. Ich sprach sogar ein Abendgebet, in dem es um ihn ging. Eigentlich entsprach ich all diesen Anforderungen nicht. Trotzdem wurde mir bescheinigt, dass ich die Oberschule besuchen durfte. In Landsberg am Lech hatte ich eine Aufnahmeprüfung dafür gemacht. Dort blieb ich bis Kriegsende in einem Internat.
Wir wohnten etwas außerhalb des Dorfes. Am 30. April 1945, einem Montag, kamen die Amerikaner. Tags zuvor hatten wir keinen Strom mehr, dadurch auch keinen Radioempfang, später auch kein Wasser. Am Sonntag noch war am Bahnhof, etwa 15 Minuten vom Dorf entfernt, ein Zug mit KZ-Häftlingen abgestellt worden, der Tage lang eine Irrfahrt durch ganz Oberbayern gemacht hatte. Die Amerikaner ließen die fast verhungerten Menschen frei. Sie zogen durchs Dorf, denn die Amerikaner hatten bestimmte Wohnungen, so auch unsere, zur Plünderung freigegeben. Eine Woche später, am Sonnabend, sind sie zu uns gekommen, durchsuchten Schränke und nahmen alles, was sie brauchen konnten, mit. Sie fanden bei uns eine Zinkkiste mit einer alten Wehrmachtsuniform und gingen davon aus, dass dies eine SS-Uniform meines Vaters sein könnte. Wir konnten ihnen nichts erklären und so wurde mein Vater von ihnen geohrfeigt. Das war für mich schrecklich.
Gleich zu Kriegsbeginn 1939 wurde mein Vater eingezogen. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Als Zahlmeister, später Oberzahlmeister der Wehrmacht war seine Einheit 1941 nach Polen verlegt worden. Noch vor dem Russlandfeldzug erlitt er im Juni 1941 einen Nervenzusammenbruch und kam ins Lazarett sowie in die Reha. Meine Mutter besuchte ihn dort. Ich frage mich bis heute, ob er damals Dinge über die Judenverfolgung in Polen mitbekommen hatte. Das passte doch eigentlich nicht in sein Weltbild der Menschenwürde, so wie er es gelernt hatte. Ich habe noch eine Landkarte und einen Stadtplan von ihm mit eigenen Eintragungen. Das konnte ich nie klären. Obwohl er in der NSDAP war, den Führer liebte und stolz darauf war, ihm einmal in den 1920er Jahren persönlich die Hand gedrückt zu haben, muss ihn dies sehr betroffen haben. Er schied aus der Wehrmacht aus, hatte fast ein Jahr eine Reha-Kur in Bad Tölz, wurde entlassen und war ab 1942 wieder in seinem Beruf als mittlerer Beamter der Stadt München tätig. Er gab jedoch keine Ruhe, bis er wieder eingezogen wurde und im Heeresfürsorge- und Versorgungsamt in Augsburg arbeitete. 1944 wurden diese Tätigkeiten der Zivilverwaltung übergeben. So schied er wieder aus der Wehrmacht aus und war bei Kriegsende kein Soldat mehr.
Ich habe nie mit ihm über diese Zeit gesprochen.
Gleich nach dem Krieg sagte mein Vater: »Wir gehen am Sonntag in den Gottesdienst.« Ich fragte mich, was das soll. Die ganzen Jahre ging es ohne Kirche. Wir waren zwar ursprünglich evangelisch, aber aus der Kirche ausgetreten, gottgläubig, wie das so schön hieß. Ich musste dazu noch ein Lied auswendig lernen. Der Pfarrer lud uns Kinder zum Unterricht ein, am Montag von 8:00 Uhr bis 10:00 Uhr. Wir saßen aber bis 11:00 Uhr, weil das für uns so interessant und spannend war. Für mich vor allem, weil ich dort erstmalig erlebte, dass ich angenommen wurde, einfach so, wie ich bin, mit dem, was ich gesagt habe und was ich mir dachte, nicht bewertet wurde, ob man am stärksten, am kräftigsten oder am schnellsten war, dem Sollmaß beim Jungvolk entsprach. Ein Jahr später lud uns der Pfarrer zu einer einwöchigen Rüstzeit* ein mit Lernen, Spielen, Gesprächen. Obwohl es nicht weit von zu Hause war, wollten wir, meine Schwester und ich, unbedingt dort mitmachen und übernachten.
1948 wurde ich konfirmiert, zwei Jahre später als gewöhnlich, weil ich noch nicht so lange kirchlichen Unterricht hatte. Zur Vorbereitung auf die Konfirmation gab es eine Woche lang eine Rüstzeit*. Da bekamen wir, zehn Jungs und 30 Mädchen, eine Woche schulfrei; es entstanden da viele Bekanntschaften. Nach der Konfirmation wurde mir klar, dass ich Theologie studieren wollte – mein Vater hatte, weil er das Gymnasium besuchte, alte griechische Bücher, und die hatte ich mir vorgenommen. Mit diesem Entschluss machte ich Abitur und ging auf die kirchliche Hochschule in Neuendettelsau. In den ersten beiden Semestern lernte ich Griechisch und im dritten Hebräisch. Die weiteren Semester absolvierte ich an den Unis in Erlangen und Heidelberg. Das erste kirchliche Examen legte ich 1955 in Ansbach ab. Danach ging ich ins Predigerseminar nach Bayreuth. In Erlangen hatte ich meine erste Frau kennengelernt. Sie kam aus einem Pfarrhaus und studierte Germanistik und Geschichte. Ich habe mich mit ihr zunächst verlobt, denn wir konnten nicht heiraten. In der Landeskirche durfte man erst mit 27 Jahren heiraten, oder wenn man das zweite Examen gemacht hatte, das hatte ich aber noch lange nicht.
Zu uns ins Predigerseminar in Bayreuth war der Rektor des Predigerseminars aus Mecklenburg gekommen. Diese Kirche in Mecklenburg war die Partnerkirche von uns in Bayern. Es ging ihm darum, den Kontakt zur Partnerkirche zu festigen. Ich entschloss mich, mit meiner Verlobten nach Mecklenburg zu gehen. Dabei spielte eine Rolle, dass man innerhalb der Kirche etwas für die Partnerkirche tun wollte. Mir war das aber zu wenig, ich wollte etwas mehr erleben und erfahren. Als junger Mensch ist man bereit, den Aufbruch zu wagen, also etwas Abenteuer. Und außerdem mussten wir, damit meine Verlobte mitkonnte, vorher heiraten. So heirateten wir im Dezember 1956.
Ich kam natürlich nicht sofort nach Mecklenburg, sondern hatte erst einmal eine Vikarsstelle in Fürstenfeldbruck bei München von 1956 bis 1957, bis wir endlich die Einreisepapiere erhielten und 1957 in die DDR fahren konnten. Meine Eltern hatten nichts dagegen, das stand gar nicht zur Debatte. Wir wurden, als wir ankamen, sofort DDR-Bürger, bekamen Personalausweise der DDR. Mein zweites Examen legte ich schon in Schwerin bei der mecklenburgischen Landeskirche ab.
Die Situation war ziemlich schwierig, nicht so sehr von der mecklenburgischen Sprache her, die man gerne hörte und zu verstehen lernte, aber dass man zu wenig Kontakte zu anderen Kollegen hatte. Wir wohnten die ersten Wochen bei einem Kollegen, der ein paar Jahre älter war als ich. Ich fühlte mich ziemlich isoliert und wechselte 1965 zu einer Dorfpfarrstelle in die Nähe von Malchin. Hier war das Entscheidende für mich die Gemeindeseminararbeit, die wir zusammen mit drei weiteren Gemeinden entwickelten. Diese Idee kam von der brandenburgischen Kirche. Ich las darüber in Kirchenblättern und war angetan von der Idee, mit Gruppen in der Gemeinde Gesprächsabende zu gestalten. Dabei wurden schon in der Vorbereitung Laien, Nichttheologen, einbezogen. Wir sprachen in dieser Gemeindeseminararbeit über Bibel- und Literaturtexte. Vorgaben dazu gab es nicht, aber Texte, die vorgeschlagen wurden.
Einmal bekam ich eine Einladung mit Freistellung zu einem Studienkurs für drei Monate nach Greifswald. Wir sprachen über theologische Strömungen. So bekam ich einen weiteren Zugang zur Theologie. Dabei habe ich den Leiter des brandenburgischen Pastoralkollegs kennengelernt. Das war der Vater von Angela Merkel. Mit ihm gab es auch anlässlich eines anderen Kurses ein Nachfolgetreffen in Templin. Ich nahm teil und lernte eine Kollegin kennen, die in Brandenburg tätig war, mit der ich mich schnell sehr gut in theologischen Fragen verstand. Das war 1973.
Eines Tages besuchte sie mich in Mecklenburg mit einem Kollegen. Beide kamen von der Landjugendarbeit, suchten einen Nachfolger für Brandenburg und warben mich, bei ihnen einzusteigen. Es ging darum, mit den Berufstätigen, auch jungen Erwachsenen, die in der Landwirtschaft, in den LPGen, tätig waren, Kontakte herzustellen. Uns wurden auch mal seitens des Staates Steine in den Weg gelegt, aber im Wesentlichen hat man uns als Pfarrer machen lassen. Was andere in der DDR nicht machen konnten, konnten wir.
Meine Frau hatte inzwischen eine theologische Ausbildung gemacht, und es wurde ihr erlaubt, eine Pfarrstelle in Brandenburg zu übernehmen. Wir zogen 1974 nach Brandenburg um. Auch hier waren uns die Familienrüstzeiten* wichtig. Eine Woche im Winter, meist in den Winterferien, mit circa 40 Teilnehmern, Eltern mit ihren Kindern. Da waren zwei Pfarrer dabei und zwei Katechetinnen. So wurde für die Kinder und für die Erwachsenen etwas gemacht. Es gab Rüstzeitenheime, da konnte man zum Beispiel nach Eisenach oder Buckow fahren. Meine Arbeit mit Jugendlichen, Kindern, Konfirmanden und Familien in der Rüstzeit* behielten wir all die Jahre bei. Mit bis zu 40 Leuten haben wir gezeltet, sind gewandert. Für die Familien führten wir das auch an Wochenenden durch. Zu thematischen Abenden haben wir Bibeltexte gelesen. Den Jugendlichen übertrugen wir frühzeitig Verantwortung für die Betreuung der jüngeren Kinder.
Bei diesem Familienrüsten habe ich meine jetzige Frau kennengelernt. Ich hatte von ihr zwar schon gehört, war ihr bei kirchlichen Treffen begegnet, aber bei der Rüste in der Nähe von Potsdam sind wir uns sehr nahegekommen. Als ich nach Hause kam, wollte ich das meiner damaligen Frau nicht verschweigen und habe ihr von meiner Liebe erzählt, die ich auf dieser Rüste erlebt hatte. Ich besuchte meine zweite Frau zunächst in ihrem Dorf, wo sie mit ihren beiden Töchtern aus ihrer geschiedenen Ehe lebte, blieb über Nacht. Meine Frau konnte sich nicht vorstellen, dass ich noch mit einer anderen in einer Beziehung lebte. Ich konnte und wollte aber nicht den Kontakt zu ihr abbrechen und besuchte sie weiterhin. Daraufhin hat meine Frau sich an den Superintendenten gewandt, der ein Disziplinarverfahren gegen mich in Gang brachte. Ich musste aus dem Pfarrdienst ausscheiden, in einer zweiten Verhandlung wurde das Strafmaß auf zwei Jahre verkürzt. In dieser Zeit, 1981, bekam ich Arbeit in einem kirchlichen Krankenhaus in Berlin, wo ich Arbeiten im Hof und in den Grünanlagen, Transportfahrten für Krankenhausmaterial und ähnliche Dinge verrichten musste. Dabei konnte ich mich zumindest mit meiner jetzigen Frau und deren zwei Töchtern treffen. Beide Töchter hatten zu ihrem Vater keinen Kontakt. Gegen Ende des Jahres musste nun entschieden werden, was ich weiter mache und wo ich wohnen werde. Mir wurde die Leitung eines kirchlichen Altersheimes in einer Stadt nahe der Oder übertragen. Inzwischen waren wir geschieden. Bis zu unserer Eheschließung durfte meine jetzige Frau nicht bei mir wohnen. Unser Leben war quasi inoffiziell. 1982 im Februar heirateten wir standesamtlich. Ihre damals neun- und elfjährigen Töchter haben meinen Namen übernommen und ein Jahr später adoptierte ich sie. Sie sollten die gleichen Rechte haben wie das gemeinsame Kind, das wir erwarteten. Im Laufe des Jahres wurde unsere Tochter geboren und zwei Jahre später unser Sohn.
Zu den vier Kindern aus der ersten Ehe versuchte ich immer Kontakt zu halten. Unser Sohn, unser erstes Kind, machte damals die Ausbildung zum Diplomingenieur für Kfz-Technik und hat also keinen kirchlichen Beruf. Von den drei Töchtern studierte die erste in Rostock Theologie, hat ihren Mann dort kennengelernt und in dieser Zeit das erste Kind bekommen. Die zweite Tochter hatte nach ihrer Berufsausbildung mit Abitur in einer Papierfabrik ebenfalls angefangen, in Berlin Theologie zu studieren, hat ihren Mann, ebenfalls einen Theologen, kennengelernt, geheiratet und ist mit ihm nach Mecklenburg gezogen. Später haben sie einen Ausreiseantrag gestellt und sind in die Schweiz gezogen, wo sie heute noch leben. Die dritte Tochter hat einen Bolivianer kennengelernt, der in Deutschland studierte. Sie hat 1981 an der EOS* gerade Abitur gemacht und hatte es natürlich am schwersten gemeinsam mit der Mutter. Später heiratete sie diesen Bolivianer, konnte so die DDR verlassen und lebt in Kiel. Sie bekam vier Kinder. Nach deren Geburt oder zu deren Taufe konnte ich einen Reiseantrag stellen, den ich genehmigt bekam.
Bis zum Grundlagenvertrag 1971 gab es keine Reisen in den Westen, ich konnte weder meine Eltern noch meine Schwester besuchen. Mit dem Grundlagenvertrag änderte sich das und man konnte in dringenden Familienangelegenheiten zu Besuch reisen. Zu meinen Eltern hielt ich immer Kontakt. Sie besuchten uns regelmäßig. Wir schrieben damals noch Briefe. Telefonieren war sehr aufwendig und teuer.
1983 fragte mich der Oberkonsistorialrat, ob ich wieder in den Pfarrdienst möchte und bot mir drei Pfarrstellen an. Wir wollten in der Nähe zu Polen bleiben und möglichst intakte Kirchen, da ich vorher schon mal eine abgebrannte Kirche wieder aufbauen musste. In den Jahren davor hatte ich angefangen, Polnisch zu lernen. Wir wollte näher an die Oder. Die Stelle lag aber im Braunkohlegebiet. Im Oktober sind wir hingefahren, es schien die Sonne noch so schön. Ich sagte zu. Den Ruß der Brikettfabriken in der Luft bemerkten wir erst im Winter, als der Schnee so schmutzig wurde. 1984 übernahm ich die Pfarrstelle in G. mit vier Predigtstellen. Meine Frau war inzwischen wieder schwanger und musste längere Zeit ins Krankenhaus. So brachte ich morgens unsere Tochter in die Krippe und holte sie am Nachmittag wieder ab. Es wurde ein Sohn, 1984 geboren. Da war ich schon 52 Jahre alt.
Am 1. März sollte ich in meiner Pfarrstelle anfangen, da setzten die Wehen ein. Ich brachte meine Frau nach Frankfurt zur Entbindung, aber das Kind kam noch nicht. Ich bin zurück und kam am nächsten Tag gerade rechtzeitig wieder hin, als er geboren wurde. Als ich ihn auf dem Arm hatte, kamen mir die Tränen, ich hatte wieder einen Sohn nach so vielen Töchtern. Die große, dreizehnjährige Tochter meiner Frau war an diesem Tag, ihrem ersten Schultag, gefragt worden, wie viele Geschwister sie habe, und sie hatte geantwortet: »Zwei oder drei«, als wüsste sie es nicht. Sie konnte es wirklich noch nicht wissen.
Im Pfarrkonvent wurde gefragt, wer bereit sei, eine Schweizer Delegation von Pfarrern und Kirchenleuten, eine Gruppe von fünf Leuten, für eine Woche aufzunehmen. Ich schrie sofort: »Hier!« Ich wollte Kontakte vermitteln. Der strukturbestimmende Betrieb war die Braunkohle. Da ließ sich aber nichts vereinbaren. Das ging also nicht. Natürlich nahm ich Kontakt mit der Bürgermeisterin auf, was gut ging. Auch mit dem LPG-Vorsitzenden führten wir ein Gespräch. Mehr so nebenbei, nicht ganz offiziell. Wir wollten ja nicht, dass das abgelehnt wird. Es gelang uns, einen Gegenbesuch zustande zu bringen. Organisiert wurde er durch den Ökumenischen Jugenddienst in Berlin, der Dienstreisen bei den staatlichen Stellen vermitteln konnte. Mit zwei Leuten konnten wir in die Schweiz reisen. So fuhren die Frau des Gemeindekirchenratsvorsitzenden und ich die erste Woche in die französische Schweiz, die zweite Woche nach Zürich. Wir fuhren mit dem Zug. Auf der Rückreise haben wir unsere Partnergemeinden in Pforzheim und Wuppertal besucht. Mit dem einem Pfarrer aus der Schweiz sind wir bis heute befreundet. Wir haben unsere Kinder nicht als Kleinkinder getauft, sondern erst im Kindesalter. Das hatte meine Frau schon so mit ihren Kindern gemacht, und unsere gemeinsame Tochter suchte sich von den zwei Paten, die sie wollte, diesen Schweizer Pfarrer aus.
1989 hatte unsere Partnergemeinde in Wuppertal ein Jubiläum. Ministerpräsident Rau, der aus dieser Gemeinde stammte, nahm an den Feierlichkeiten teil. Meine Frau hat ihn in guter Erinnerung. Als Partnergemeinde hatte man uns eingeladen. Diesmal fuhren meine Frau und der Kirchgemeinderats-Vorsitzende. Nicht immer die Pfarrer sollten es sein. Sie fuhren noch zu Honeckers Zeiten und kamen nach seinem Rücktritt zurück. Es waren ihre ersten Westreisen. Dort hörte sie im Radio, dass Honecker in den nächsten Tagen zurücktreten werde. Als sie zurückkamen, waren die Grenzer deutlich freundlicher.
Der 9. November ist ein schicksalsträchtiges Datum. Wir haben erst bis zum Sonntag gewartet, ehe wir nach Berlin fuhren und in den Westteil gingen. Wir waren überwältigt. Bis dahin fühlten wir uns doch sehr eingeengt. Wir dachten, »Toll, wahnsinnig«, und sind gleich an einem der nächsten Wochenenden nach Österreich gefahren.
Abgesehen von Dienstreisen, die wir machten, haben wir privat so große Reisen in der DDR nicht gemacht, bis auf eine ganz große Reise mit meiner ersten Familie: Wir fuhren mit dem Pkw und einem Campinganhänger mit unseren drei Töchtern bis nach Jerewan. Das war ein Angebot vom DDR-Reisebüro. Leider mussten wir für drei Tage ins Krankenhaus. Da haben sie für uns eine ganze Station freigeräumt. Als wir wieder raus waren, brauchten wir eine neue Marschroute, weil ja die Übernachtungen um diese drei Tage verschoben waren. Das war und bleibt ein unvergessliches Erlebnis!
Wir haben in der Kirche im Unterschied zu nichtkirchlichen Berufen im Osten wenig Geld bekommen. Wir kamen finanziell mühsam über die Runden. Nach der Wende stieg das Pfarrgehalt schnell an, aber das von den Mitarbeitern blieb relativ niedrig. So liegt zum Beispiel mein Ruhegehalt dreimal höher als das meiner Frau. Während sie gearbeitet hat, war es besser, aber ihre Rente ist ziemlich gering.
Unterschiede zwischen Ost- und Westmännern fallen mir keine ein. Jedenfalls zu den Männern, die ich näher kenne. Ich weiß aber, dass ich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der DDR viel mehr reflektiert habe, als ich dies im Westen getan hätte. Wir mussten uns immer überlegen, unter welchen Voraussetzungen wir in der Kirche arbeiten und wo wir Ansätze oder Wege zu einem Gespräch finden können. Wie kommen wir mit den staatlichen Vertretern zurecht? Das nahm mich alles sehr in Anspruch. Wir sind in der Kirche zum Dienst erzogen worden, nicht zur Karriere, auch nicht, um vielleicht Bischof zu werden. Es geht darum, Verantwortung wahrzunehmen. Unterschiede zwischen Ost und West bestanden wie gesagt im Einkommen. Nach der Wende habe ich keine Akzeptanzprobleme von westlichen Kollegen in der Kirche verspürt. Sie bestanden wohl in der Verwaltung, nicht aber in der eigentlichen Arbeit. Durch die wieder gesetzliche Kirchensteuer kam es zu vielen Austritten. In der DDR zahlte man einfach die Kirchensteuer nicht, und so ruhte mehr oder weniger die Kirchenzugehörigkeit. Es sei denn, man wurde in gewissen Berufen zum Austritt gezwungen.
Als ich 1995 in den Ruhestand ging, engagierte ich mich weiter mit Vertretungen. 1996 begann ich im Kreisseniorenbeirat mitzuarbeiten und wurde ein Jahr später für zehn Jahre dessen Vorsitzender, war später auch einige Jahre einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Landesseniorenrates. So waren die jährlichen Seniorenwochen zu organisieren. Für die Eröffnungsveranstaltung im Kreis suchten wir Kontakt zum Theater. Dort wurde gerade das Seniorentheater gegründet. Und da machte ich gleich mit. Bis heute bin ich dabei. Abgesehen von eigenen Stücken waren wir Statisten in Faust I und II und sind mit auf Theaterreisen gegangen, unter anderem bis Südtirol.
In meinen letzten Dienstjahren habe ich das Bibliodrama entdeckt und an einigen dieser Kurse teilgenommen. Da ging es zum Beispiel darum, was unter dem Wort ›Engel‹ bei uns zum Laufen gebracht wird. Oder in einem anderen Kurs zum Vaterunser. Im großen Tagungsraum hingen an den Wänden und Türen große Blätter, auf denen immer ein Wort des Vaterunser stand. Und wir sollten uns zu einem dieser Wörter, die uns etwas sagen, stellen. Ich wählte das Wort Schuld für mich und arbeitete so meine Scheidung mit meiner ersten Frau und die darum rankenden Probleme auf.
Bei einem 14-tägigen Polnisch-Kurs in Krakau lernte ich die Studentin L. kennen, die Geschichte studierte und mit der ich heute noch nach fast 20 Jahren gut befreundet bin. Von den fast 60 Teilnehmern waren die meisten Studierende. Mit L. habe ich zwei Wochenendseminare mit deutschen und polnischen Senioren durchgeführt. Das erste in Kreisau zum Thema »Flucht und Vertreibung – können wir darüber reden«. Dass das ging, hat mich sehr beeindruckt. Ich werde das nicht vergessen. L. ist inzwischen schon lange Geschichtslehrerin.
Zur Gleichberechtigung: Die Hausarbeiten haben wir uns im Großen und Ganzen geteilt, je nach dem, was zu tun war. Kochen ist allerdings nicht mein Ding, kann ich aber, wenn es sein muss. Ich habe die Kinder ins Bett gebracht, wenn es sein musste, oder unsere kleine Tochter getröstet, als sie Schmerzen beim Zahnen hatte, oder auch sonst. Die Großen halfen bei der Hausarbeit viel mit. Ebenso war ich beim Putzen mit dabei. Die Kinder in meiner ersten Familie gingen nicht in den Kindergarten. Das war uns zu ideologisch. Anders in der zweiten.
Nach der Wende bauten wir für den Ruhestand ein eigenes Haus, in dem wir 25 Jahre lebten. Jetzt sind wir in die Stadt in eine Mietwohnung gezogen, wegen des Alters, haben das Haus verkauft und sind froh, keinen Garten mehr zu haben. Wichtig ist, glaube ich, dass wir uns als Eheleute gegenseitig viel Eigenständigkeit gewährt haben. So zum Beispiel machte ich die meisten mehrtägigen Radtouren, etwa zwölf an der Zahl, allein. Meine weiteste Fahrt war die an der Donau entlang von Wien bis hinter das Eiserne Tor in Rumänien, 2010. Die letzte weite Radtour führte von Danzig nach Riga, das war 2017, die aber zusammen mit meiner Frau und einem Dutzend weiterer Teilnehmer. Meine Frau dagegen ging zu Fuß den Camino-Weg*, zweimal, auf verschiedenen Übergängen von der spanischen Grenze bis Santiago de Compostela und in jährlichen Abschnitten von 14 Tagen von Görlitz über Eisenach bis Genf. Mit dem Fahrrad war auch ich auf dem Camino nach Santiago unterwegs, allerdings erst ab Burgos, und ich habe sie im letzten Abschnitt eingeholt. Wir machen auch sonst so manche Reise allein oder in einer anderen Gruppierung. So war sie in den USA, auf einer Dienstreise mit anderen Kolleginnen und Kollegen. Neben gemeinsamen Hobbys haben wir jeder unsere eigenen, das Gleiche gilt für Freundschaften. Ganz wichtig ist für mich das Lesen. Wir haben jeder unser eigenes Konto, sie übernimmt im Wesentlichen die Lebensmittel und ihre normalen Bedürfnisse, ich alles andere: Miete, Versicherung, die größeren Anschaffungen, Auto- und Urlaubskosten usw.
Im letzten Jahr hatte es mich leider erwischt. Ich hatte Darmkrebs. Während der OP erlitt ich einen Schlaganfall. Der Krebs konnte gut operiert werden. Vom Schlaganfall ist eine gewisse Beeinträchtigung zurückgeblieben, vor allem im rechten oberen Gesichtsfeld, sodass ich nicht mehr Auto fahren kann. Aber ich kann wieder einige Kilometer wandern und aufs Ganze geht es mir gut, wirklich gut.
Radio-Kassettenrecorder KR 2000
Hersteller: VEB Sternradio, Berlin
Design: Andreas Dietzel/Michael Stender/M. Marschhauser, 1987
Spiegelreflex-Kamera Practica „BX-20“
Hersteller: Kombinat VEB Pentacon, Dresden
Design: Manfred Claus und Reinhard Voigt