Читать книгу 10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten - Ellen Notbohm - Страница 10
„Aber er hat nur zwei Freunde gefunden“
Оглавление„Ich würde das anders formulieren: Er hat zwei Freunde gefunden! Der eine teilt sein Interesse an Modelleisenbahnen, der andere das am Laufen. Er weiß aber, wie Sie sich fühlen. Also werde ich Ihnen erzählen, was er mir neulich gesagt hat. Er sagte: ‚Ich will nicht viele Freunde. Ich kann nicht mit vielen Freunden umgehen. Mehr als einer zur gleichen Zeit überfordert mich. Aber mit diesen beiden Freunden kann ich über Dinge reden, die mich interessieren. Ich bin froh, dass ich sie habe.“
„Wenn Sie durch diese oder eine andere Schule laufen“, fährt die Logopädin fort, „werden Sie eine große Bandbreite an ‚normalem‘ Verhalten in der Mittelschule sehen. ‚Streberhaft‘ normal, sportlich normal, musikalisch normal, künstlerisch normal, technikaffin normal.
Kinder fühlen sich zu Gruppen hingezogen, in denen sie sich sicher fühlen. Fürs Erste hat Ihr Sohn seine Gruppe gefunden. Wir (Sie und ich) bewegen uns auf einem schmalen Grat: Wir müssen seine Entscheidungen respektieren und ihm gleichzeitig die Fähigkeiten beibringen, die er braucht, um sich wohlzufühlen und seine Grenzen zu erweitern.“
Ihr Kind hat viele verschiedene soziale Identitäten. Indem Sie alle und Ihr Kind somit auch als Ganzheit akzeptieren, definieren Sie Ihre Sicht auf das ‚Normale‘ neu und individuell.
Die zehn Aspekte, die ich in diesem Buch behandle, beschreiben mein Kind. Nicht alle lassen sich auf andere autistische Kinder übertragen. Einige der typischen Merkmale oder speziellen Bedürfnisse variieren. Sie sind bei jedem Kind anders und ändern sich im Tagesverlauf, von einem Tag auf den nächsten, im Laufe der Jahre. Zuweilen treten sie gleichzeitig auf oder sie manifestieren sich auf andere Art und Weise, wenn sich das soziale Umfeld oder die Örtlichkeiten ändern, sowohl was körperliche Reaktionen als auch die Interaktion mit anderen Menschen betrifft. Sie werden vielleicht bemerken, dass ich in diesem Buch manchmal bestimmte Punkte mehrfach beleuchte. Das liegt nicht daran, dass ich unbedacht etwas wiederhole oder meine Worte aufbauschen will, sondern ich habe erkannt, dass man oft etwas mehrfach hören muss oder dass man mehrere Erklärungen braucht, um etwas vollständig zu begreifen und zu verarbeiten. Wir müssen uns das selbst zugestehen, damit wir es genauso bei unseren Kindern handhaben können. Das ist ein wesentlicher Aspekt, wenn man den Bedürfnissen autistischer Kinder beim Lernen gerecht werden will. Es ist die Schwelle zu einer Welt der Wahlmöglichkeiten, für Sie und für Ihr Kind. Diese Welt ist viel größer, als Sie sich anfangs vielleicht vorstellen können.
Erziehung und Bildung, Therapie, Wachstum und Entwicklung (auch Ihre eigene), können die Begrenzungen, die durch die typischen Verhaltensweisen bedingt sind, aufheben. Und einige dieser Grenzen und typischen Verhaltensweisen können so modifiziert werden, dass sie letztlich als Stärken hervortreten. Später, wenn Sie das Buch ausgelesen haben, hat sich Ihre Sicht auf das Autismus-Spektrum und Ihr Kind möglicherweise verändert, Sie fühlen sich besser informiert und weniger machtlos als zuvor. Das hoffe ich jedenfalls.
Aber wozu überhaupt diese dritte, überarbeitete Auflage von Ten Things Every Child with Autism Wishes You Knew, wenn die erste und zweite Auflage Millionen von Leser*innen erreicht haben und die Resonanz so positiv war? Warum an etwas rühren, wenn es funktioniert? In seinem Buch und Film Journey of the Universe beschreibt der Evolutionsphilosoph Brian Thomas Swimme die Milchstraße. Sie sei nicht greifbar, nicht fassbar, sie fluktuiere. Und das trifft auch auf das Autismus-Spektrum zu. Man kann es mit einer in ständigem Wandel befindlichen Galaxie innerhalb des Weltalls vergleichen. Wir befinden uns in einem Kontinuum, zuweilen sausen wir herum, zuweilen bleiben wir stehen, aber jedes Teilchen – Kind, Elternteil, Lehrkraft, Geschwister, Großeltern, Freund*innen oder Fremde – hat seinen eigenen Platz in dieser (manchmal flüchtigen und schwer fassbaren) Ordnung. Mit der Zeit wechselt man den Platz.
Erfahrungen und Reifeprozesse verändern unsere Sichtweise. In den Jahren zwischen der ersten und zweiten Auflage von Ten Things hatte mein Sohn die Schule abgeschlossen und wurde erwachsen, was damit einherging, dass er den Führerschein machte, an Wahlen teilnehmen durfte, die oft irrationale Welt des Datings kennenlernte, das College besuchte und einen Arbeitsplatz fand. Nicht verwunderlich, dass sich damit auch meine Haltung zu Autismus veränderte. In diesen Jahren stieg die Zahl der Menschen, bei denen eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde, weltweit kontinuierlich an. Wohl jede*r auf der Welt (abgesehen von denjenigen, die aus Zynismus einen Kult machen) war darüber verblüfft und beunruhigt. Durch meine eigenen Erfahrungen, aber auch angesichts derer anderer Menschen, die durch Ten Things in mein Leben getreten waren, änderte sich meine Position.
Autismus ist und bleibt ein komplexes Thema. Die zahlreichen autistischen Kinder, die, außer im Fall einer Katastrophe, zu autistischen Erwachsenen werden, die einen berechtigten und bedeutsamen Platz in der Gesellschaft beanspruchen, erfordern unsere Aufmerksamkeit, auch von denjenigen, die lieber ihr Gewissen und öffentliche Mittel nicht belasten möchten. Mit im Laufe der Jahre geschärftem Blick verteidigen wir unsere Kinder und treten für sie ein. Aber wir wurden einberufen, sie nicht nur zu verteidigen, sondern auch weiterzugeben, was sie zu sagen haben. Heutzutage müssen Eltern autistischer Kinder nicht nur Durchhaltevermögen, Neugier, Kreativität, Geduld, Zähigkeit und Diplomatie aufbringen, sondern auch den Mut, über den Horizont hinauszuschauen und Zukunftsträume zuzulassen.
Eltern eines autistischen Kindes zu zu sein erfordert den Mut, über den Horizont hinauszuschauen und Zukunftsträume zuzulassen.
In den Jahren, die auf die zweite Auflage von Ten Things folgten, explodierte das Thema Autismus regelrecht in den sozialen Medien. Das kann man kaum ignorieren. Diese Flut von Informationen und Thesen ist für die Eltern autistischer Kinder wie ein nicht endender Tsunami, ständig ändert sich etwas oder wird neu interpretiert. Es hat immer Scharlatane, gerissene Verkäufer und Hysteriker gegeben, aber heutzutage ist es viel schwieriger, sinnvolle Informationen von Clickbaiting8, Wahrheiten von Halbwahrheiten oder Lügengespinsten zu unterscheiden.
Nach wie vor haben wir aber nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Und mehr denn je wünschen und benötigen Eltern Informationen, die kurz und bündig und einfach zu verstehen und umzusetzen sind, insbesondere, wenn sie ihre (Autismus-)Reise erst beginnen. Deshalb habe ich beschlossen, Ten Things zu aktualisieren und zu optimieren. Ich habe mich auf das Grundlegende und das Wesentliche konzentriert und den Schwerpunkt auf den Aspekt gelegt, der für Sie eine Ihrer wichtigsten Kräfte darstellt: Sie haben eine Wahl! Und wie Sie diese Wahlmöglichkeit nutzen können, um die für ihr Kind besten Entscheidungen aus einem Spektrum von Alternativen und Möglichkeiten herauszufiltern, das von ‚keine Wahl‘ bis zu ‚eine überwältigende Anzahl an Wahlmöglichkeiten‘ reicht.
Somit bleibt sich die dritte Auflage von Ten Things im Kern treu, geht aber auch mit der Zeit. Die Kernaussage ist die zeitlose, Grenzen überschreitende und interkulturelle Natur der zehn Aussagen. Ich beschreibe an vielen Stellen, wie sich meine Sicht seit den ersten beiden Auflagen geändert hat. Fassen Sie das nicht so auf, dass ich mich damit brüsten will, dass Eltern in früheren Jahren im Vergleich zu heute es so viel schwerer hatten und Ihnen durch die Blume sagen will, dass Sie es heute ja so viel einfacher haben. Meine persönliche Meinung zählt nicht so viel, aber die Verschiebungen in der Sichtweise illustrieren lebhaft, wie sehr sich Dinge mit der Zeit verändern, wie sehr wir beeinflusst werden können – zum Guten wie zum Schlechten – wenn in der Technologie, Erziehung und Bildung und in der Medizin Fortschritt, Stagnation oder Versagen zu verzeichnen sind. Auch Ihre eigene Entwicklung und ‚Reise‘ durch das Spektrum und das Universum prägt Ihr inneres Sein und Ihre Sicht auf die Welt. In Anbetracht meiner Erfahrungen und Erkenntnisse hinsichtlich Autismus in den letzten 15 Jahren sehe ich keine einschneidenden Veränderungen in meiner Haltung. Aber zuweilen wird jemand meinen, einen plötzlichen Gesinnungswandel bei mir festzustellen.
Lassen Sie sich nicht einreden, dass eine veränderte Haltung, die sich auf neue Erfahrungen und Informationen gründet, einem ‚plötzlichen Gesinnungswandel‘ entspricht. Ganz im Gegenteil, es ist die Unfähigkeit oder der Unwille, flexibel zu denken – und das auch von anderen zu erwarten – eine Starrheit, die unsere Kinder verletzt und für unsere Gesellschaft nicht gut ist. (Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass es gerade diese Starrheit und eine nicht vorhandene gedankliche Flexibilität ist, die viele Menschen bei autistischen Kindern kritisieren und woran sie verzweifeln.) Wir können unseren grundlegenden Werten treu bleiben und dennoch einen Blick über den Horizont werfen und uns ein Wachstum der Seele erlauben. Und dazu sollten wir auch unsere Kinder ermutigen. Man nennt das Anpassung. Man nennt es Lernen, und wir werden hoffentlich weiser und integrer in unserer Sichtweise auf Autismus und die Herausforderungen, denen unsere Kinder begegnen. Bedenken Sie, dass mit dem Ausdruck ‚Survival of the Fittest‘, der auf Darwin zurückgeht, nicht die Stärksten oder die Klügsten oder die Glückspilze gemeint sind, sondern diejenigen, die sich am besten an eine neue Situation anpassen können.
Wer ergreift das Wort für das Kind? Es ist ziemlich vermessen, davon auszugehen, dass jeder von uns in den Kopf eines anderen Menschen sehen und das Wort für ihn ergreifen kann. Ich nehme dieses Risiko auf mich, weil ich es für unbedingt notwendig halte, zu verstehen, wie das autistische Kind die Welt erlebt. Es obliegt uns, die dem autistischen Kind eigenen Varianten im Denken, in der Kommunikation und in dem Umgang mit der Welt zu akzeptieren und sie wertzuschätzen. Dazu müssen wir seinen Gedanken und Gefühlen eine Stimme geben, auch wenn wir uns bewusst sind, dass diese Stimme nicht sprechen oder sich sonst wie artikulieren kann. Wenn wir das nicht tun, dann verkümmern die Potenziale des autistischen Kindes, bleiben für immer unentdeckt. Es liegt an uns, zu reagieren und zu handeln.
5Im Englischen werden Substantive anders als im Deutschen in der Regel nicht mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben (Anm. d. Übers.).
61001 Great Ideas for Teaching and Raising Children with Autism and Asperger’s, deutsche Ausgabe: 1001 Ideen für den Alltag mit autistischen Kindern und Jugendlichen.
7In den USA folgt die ‚middle school‘ (Mittelschule) auf die ‚elementary school‘ (Grundschule) und umfasst die Klassenstufen 6 bis 8, zuweilen auch die Klassenstufen 5 oder 9. Auf die ‚middle school‘ folgt dann die ‚high school‘. Im weiteren Text werden die Begriffe ‚Mittelschule‘ und ‚Highschool‘ verwendet (Anm. d. Übers.).
8Clickbaiting (von engl. bait, der Köder) bzw. Klickköder, z. B. reißerische Überschriften (Anm. d. Übers.).