Читать книгу 10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten - Ellen Notbohm - Страница 9

Vorwort der Autorin

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Als im Jahre 2004 mein Artikel Ten Things Every Child with Autism Wishes You Knew in der Zeitschrift Children’s Voice erschien, war ich völlig überrascht über die Reaktion der Leser*innen. Ich bekam viele Zuschriften, in denen sie mir mitteilten, dass der Artikel ein Muss sei für alle im sozialen Sektor Tätigen, für Lehrkräfte, Therapeut*innen und Angehörige autistischer Kinder. Eine Mutter schrieb: „Genau das würde meine Tochter sagen, wenn sie könnte.“ „Jedes Wort und jeder Satz ist voller Weisheiten“, schrieb eine andere. Der Artikel verbreitete sich im Internet, rund um die Welt, über die Kontinente hinweg (mit Ausnahme der Antarktis).

Angesichts des riesigen Interesses und der Verschiedenheit der Gruppen, die ihn bedeutsam fanden, fühlte ich mich richtig klein. Es waren hunderte Autismus- und Asperger-Gruppen darunter, aber auch Selbsthilfegruppen für Homeschooling, chronisch Schmerzkranke, Übergewichtige oder Innenohrgeschädigte. Auch Religionslehrer*innen, Strickkreise, Lebensmittelhändler*innen, Assistenzhundeschulen waren dabei. „Ich habe das starke Gefühl, dass Ihre Botschaft sehr viele Menschen mit Behinderungen anspricht“, schrieb mir eine Sozialarbeiterin aus dem amerikanischen mittleren Westen.

Ten Things entwickelte schnell eine Eigendynamik. Warum war die Resonanz so groß? Ich kam zu dem Schluss, dass es daran lag, dass der Artikel aus der Sicht eines Kindes geschrieben war, eine Sichtweise, die bei dem zunehmenden medialen Interesse an Autismus weitgehend unterging. Ich begrüße den lebendigen und anregenden Dialog und finde ihn produktiv. Aber liegt nicht auch eine Ironie darin, dass denjenigen, über die diskutiert wird, oftmals die Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen und einzutreten, fehlt? Ich hatte verschiedene Artikel mit ähnlichen Ansätzen gesehen: 10 Dinge, die Lehrer Eltern mitteilen möchten, was Lehrkräfte aus Sicht der Mütter wissen müssen, oder was Väter von autistischen Kindern wissen sollten. Als meine Lektorin, Veronica Zysk, mir einen dieser Artikel, in dem es um die Kommunikation zwischen Erwachsenen ging, vorlegte, habe ich sie gefragt, wer denn für das Kind spreche?

„Schreib den Artikel“, ermunterte mich Veronica.

Mein Sohn Bryce war vier Jahre alt, als die Diagnose bestätigt wurde. Ich schätzte mich glücklich, dass dank der engagierten Zusammenarbeit von Familienmitgliedern, Mitarbeiter*innen der Schule und Sozialarbeiter*innen seine Stimme Gehör fand. Ich wünschte mir sehr, dass dieser Erfolg die Regel und keine Ausnahme wäre. Dieser Wunsch inspirierte mich, den oben genannten Artikel und später die Originalausgabe dieses Buches zu schreiben.

Individuelle und kollektive Einstellungen zu Autismus formieren sich durch den Einfluss der Sprache, in der wir ihn definieren. Streitbare und provokante Bemerkungen und Ansichten, bewusst oder gedankenlos ausgesprochen, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir können darauf reagieren, wir können daran verzweifeln, oder wir beschließen, sie zu ignorieren. Doch es ist das Geschwader der unter dem Radar fliegenden sprachlichen Feinheiten und Nuancen, das die Entwicklung einer gesunden Perspektive für ein autistisches Kind beeinträchtigt. In diesem Buch werde ich Sie wiederholt darum bitten, sich zu fragen, wie die Sprache über Autismus Ihre Einstellung beeinflusst. Das wird Ihnen helfen, Autismus aus einem neuen, Ihnen bisher unbekannten Blickwinkel zu betrachten. Einiges wird Ihnen nicht begegnen:

Sie werden das Wort ‚autism‘ nur kleingeschrieben vorfinden.5 Man verwendet auch keine großen Anfangsbuchstaben bei ‚breast cancer‘ (Brustkrebs), ‚diabetes‘ (Diabetes), ‚glaucoma‘ (Glaukom), ‚anorexia‘ (Anorexie), ‚depression‘ (Depression) oder anderen Erkrankungen, die nicht auf einen Eigennamen zurückgehen, wie z. B. ‚Asperger’s‘ (Asperger-Syndrom). Wenn man ‚autism‘ mit großem Anfangsbuchstaben schreibt, suggeriert das eine Autorität und Macht, die fehl am Platze ist.

Sie werden auch folgende Wörter nicht lesen, wenn es um die Beschreibung eines autistischen Kindes geht: ‚leiden‘, ‚verfolgen‘, ‚perfekt‘, ‚pingelig‘, ‚Wutanfall‘, ‚schrullig‘, oder andere abwertende Wörter oder solche, die unrealistische, unbegründete oder unhaltbar hohe Erwartungen erzeugen.

Und auch das Wort ‚normal‘ verwende ich nur in Anführungszeichen. In der ersten Zeit nach der Diagnose unseres Sohnes bekamen wir ständig Fragen zu hören wie: „Glauben Sie, er wird irgendwann lernen, sich normal zu verhalten?“ Anfangs war ich von diesen Fragen wie vor den Kopf geschlagen, später fand ich sie nur noch anmaßend und hatte fast Mitleid mit denjenigen, die gefragt hatten. Ich lernte, die Frage mit einem Lächeln und Augenzwinkern zu beantworten und sagte: „Wenn es irgendwann mal so etwas gibt“, oder: „Nun, wir werden wohl nie wie beim Wäschetrockner auf einen Knopf drücken können, um ein Programm zu starten.“ Hin und wieder zitierte ich den kanadischen Songwriter Bruce Cockburn, der meinte, das Problem mit dem Normalen sei, dass es immer schlimmer wird.

„Was heißt eigentlich ‚normal‘?” ist mein Lieblingskapitel in dem Buch, das Veronica und ich später geschrieben haben.6 Darin antwortet eine Logopädin in der Mittelschule7 auf die besorgte Äußerung einer Mutter, dass ihr Sohn nur wenige Freundschaften geschlossen habe und ‚vielleicht nicht all die normalen Dinge machen kann, die Teenager wie wir gemacht haben‘:

„Als Ihr Sohn letztes Jahr zu mir gekommen ist“, sagt die Logopädin zu der Mutter, „waren seine sozialen Denkfähigkeiten so gut wie nicht vorhanden. Er verstand nicht, warum er den Leuten auf dem Flur ‚Hallo‘ sagen soll, er wusste nicht, wie man eine Frage stellt, um ein Gespräch am Laufen zu halten, oder wie man während der Mittagspause mit einem Gleichaltrigen ein Gespräch beginnt. Jetzt arbeitet er an diesen Dingen. Das ist ein großer Fortschritt.“

10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten

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