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Zu breit

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Ich möchte Ihnen noch einen Einblick in meinen Beruf geben, soweit es diese Diskussion betrifft.

Redaktion und Schreibwerkstatt ermahnen Autor*innen ständig, sie sollen nichtssagende Adjektive vermeiden und stattdessen aussagekräftigere Substantive, Verben oder Wendungen bevorzugen. Das fließt nicht immer so leicht aus der Feder. Es ist oft eine Anstrengung, diese spezifischeren, mehr gefühlsbetonten Konstruktionen zu Papier zu bringen. Aber damit wächst auch die Herausforderung beim Geschichtenerzählen. Ob Sie schreiben oder nicht, an dem Tag, an dem Ihr Kind geboren wird, fangen Sie an, eine Geschichte zu erzählen. Die Art und Weise, wie Sie die Geschichte in den jeweiligen Entwicklungsstufen Ihres Kindes erzählen, bestimmt, welche Menschen sich ihm zuwenden. Sie hat einen Einfluss darauf, wer bereit ist, eine Rolle auf einer einzelnen Seite der Geschichte, einem oder mehreren Kapiteln zu spielen und wer sich ausklinkt.

Wenn ich auf zahlreiche IEP-Treffen10 und Elternabende über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren zurückblicke, erinnere ich mich nur an sehr wenige Situationen, in denen ich oder die etlichen Lehrer*innen von Bryce den Begriff Autismus thematisierten.

Es ist mir lebhaft in Erinnerung, dass wir viele Stunden lang intensive Gespräche über die sozial-emotionale Kompetenz, über die sprachliche Entwicklung, die Sinneswahrnehmung, über kurz- und langfristige Ziele geführt und versucht haben, Herangehensweisen zu erarbeiten. Man könnte damit hunderte Seiten füllen. In kleinen Schritten haben wir über Jahre hinweg die einzelnen Herausforderungen definiert, formuliert, sind sie angegangen und haben sie gemeistert. Losgelöst von Schubladendenken hatten wir einen messbaren Erfolg. Mit der Zeit und mit unserer Unterstützung lernte Bryce, seine Anliegen geschickt selbst zu vertreten, und um das, was er brauchte, zu bitten. Dabei stützte er sich auf sein eigenes Verständnis dessen, wie er lernt und verarbeitet. Wie man diesen Lern- und Verarbeitungsstil benannte, war von untergeordneter Bedeutung. Er betrachtete seinen Autismus als wichtigen und existenziellen Teil seiner selbst, erkannte aber auch klar Aspekte in seiner Persönlichkeit und seiner Sicht auf die Welt, die man als ‚typisch‘ oder ‚üblich‘ bezeichnen könnte. Er verglich sich mit Mr. Spock aus Star Trek, bei dem der Vulkanier-Anteil und der menschliche Anteil nebeneinander existieren und sein Erleben des kognitiven und sozial-emotionalen Denkens beeinflussen – manchmal auf überraschende Art und Weise, aber immer als ‚ganze‘ Person.

Um unser autistisches Kind der Welt, die es bewohnen muss, zu präsentieren, müssen wir meistens etwas ausholen. Einfache Lösungen oder oberflächliche Beschreibungen greifen nicht. Wenn wir Tagesfreizeiten besuchten, zum Schwimmunterricht gingen, neuen Lehrer*innen, Begleiter*innen begegneten, mit der Nachbarschaft oder unserem Freundeskreis in Kontakt kamen, dann habe ich die Unterhaltung nie so angefangen, dass ich einfach gesagt habe, mein Sohn ist autistisch, sondern erläutert, wie sein Autismus ihn in der aktuellen Situation beeinflussen könnte. Ich habe eine kurze Liste mit Kommunikationstaktiken und Vereinbarungen erstellt, damit er das für sich Beste aus den verschiedenen Begegnungen herausholen konnte. Ich bat die Menschen, ihn direkt anzusprechen, aus der Nähe, die Standardsprache zu verwenden und Redensarten zu vermeiden. Mehr zu zeigen als zu sagen. Seine Aufmerksamkeit auf Gleichaltrige zu richten, an denen er sich orientieren konnte. Diese Anweisungen waren simpel, aber nicht banal. Durch diese konkreten Richtlinien hatten andere Menschen, denen mein Sohn begegnete, Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass sich Erfolge für ihn einstellen konnten.

Erst kürzlich bin ich auf einen Zeitschriftenartikel gestoßen, der anschaulich schildert, dass die Fähigkeiten autistischer Menschen ein breites Spektrum umfassen. Eine Mutter, die nach einem Unterstützungsprogramm für ihren Sohn suchte, meinte: „Er ist fast ein Genie, wenn es darum geht, Fakten zu lernen. Aber er kann nichts mit ihnen anfangen.“ In der Highschool hat er in theoretischer Mathematik eine Eins, aber Alltagsprobleme kann er nicht lösen. Diese Mutter sagte, es habe vier Jahre gedauert, bis er gelernt hat, allein mit dem Bus nach Hause zu fahren. Bei uns war es andersherum: Bryce ist am anderen Ende des Spektrums, und er hat eher Probleme mit abstrakter Mathematik, ein Bereich, der vielen Menschen Schwierigkeiten bereitet. Standardisierte Tests waren immer sein Erzfeind. Aber es hat nur eine Stunde gedauert, bis ich ihm, damals war er fünfzehn, beigebracht hatte, allein mit dem Bus zu fahren. Dasselbe gilt für andere Alltagsdinge, die er lernen wollte.

Beide, der Sohn der anderen Mutter und meiner, können als autistisch bezeichnet werden, wenn man den Begriff weit fasst. Das Wort an sich, losgelöst von negativen Konnotationen, hat aber keine Bedeutung, wenn es darum geht, mit den individuellen Herausforderungen und Bedürfnissen klarzukommen. „Mein Kind ist ‚autistisch’“, diese Aussage heißt für mich nur, dass es eine Diagnose hat, die ein breites Spektrum umfasst. Es hilft mir nicht, seine Herausforderungen, seine Stärken, seine beglückenden und zugleich besorgniserregenden Eigenschaften zu verstehen. Wer gewinnt seine Zuneigung, verwirrt oder verängstigt es? Was beunruhigt, fasziniert oder beschwingt mein Kind? Das müssen wir wissen, weil es nicht sein kann, dass ein einfaches Adjektiv, das möglicherweise falsch interpretiert wird, dazu führt, dass Kinder nicht so gefördert werden, wie sie es brauchen. Hier sehe ich eine Dichotomie, eine Gratwanderung: Man muss generell akzeptieren, dass die Diagnose Autismus lautet, sonst hätte man keinen Zugang zu individualisierten Dienstleistungen. Das ist korrekt und nicht per se schlecht. Aber es liegt an Ihnen, ob Sie den Begriff dazu benutzen, um eine Entwicklung voranzutreiben, oder als Entschuldigung dafür, dass Ihnen oder anderen Grenzen gesetzt sind.

Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir das Adjektiv ‚autistisch‘ in den Mund nehmen. Das öffnet Tür und Tor zu dessen missbräuchlicher Verwendung. Es kommt überall vor, dass ein Mensch, der unkooperativ, rebellisch, emotional distanziert oder irgendwie unkommunikativ ist, abwertend als ‚autistisch‘ bezeichnet wird. Mir sträuben sich die Haare, wenn ich einen Sprachgebrauch sehe, der unseren Kindern das Recht verwehrt, als Personen mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Stärken gesehen und gefördert zu werden sowie eine Ausbildung zu erhalten. In unserer Kultur inzwischen gängige Stereotypen, bequemes Schubladendenken, tragen nur dazu bei, dass unsere autistischen Kinder nicht als ‚ganze‘ Personen in der Gesellschaft akzeptiert werden. Und genau deswegen sollte man spezifischere und positivere Worte finden, um unsere Kinder zu beschreiben.

Viele Kinder, die als autistisch diagnostiziert wurden, sind älter geworden und jetzt Erwachsene, die sich selbstbewusst als Autist*innen bezeichnen. Andere lehnen diese Etikettierung oder eine andere ab. Das ist und bleibt ihre eigene Entscheidung. Wenn es gut gelaufen ist, dann gründen sie diese Entscheidung auf eine Kindheit, die frei von Vorurteilen und voll von Möglichkeiten war. Wenn sie dann erwachsen sind, haben sie über die Jahre hinweg viele Hürden genommen. In diesen Jahren wurden sie von Erwachsenen dabei unterstützt, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, sie wurden in ihrer kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung gefördert und haben gelernt, für sich selbst einzutreten. Sie wissen, dass möglicherweise einige ihrer Probleme auf Autismus zurückzuführen sind, dass ihr Autismus aber niemals eine Entschuldigung oder ein Freischein ist.

Also ob nun ‚autistisch’, ‚mit Autismus‘, ‚Aspie‘, ‚Autie‘, ‚aus dem Spektrum‘, prüfen Sie, ob das Wort oder die Wörter zu Ihrer Realität passen und fragen Sie sich, ob sie Ihre Sicht dessen, was die Zukunft für Ihr Kind bereithält und was es unserer Welt geben kann, in irgendeiner Weise limitieren. Wenn dem so ist, dann denken Sie daran, dass nichts, wirklich nichts, vorgezeichnet ist und dass Ihre gemeinsame Zeit unzählige Möglichkeiten bereithält.

9Bekanntlich sind im Englischen mit Begriffen wie ‚teacher‘ oder ‚student‘ immer alle Geschlechter gemeint. Wir haben versucht, dem so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Gleichwohl gab es Textstellen, wo es aus rein sprachlichen Gründen eleganter oder auch einfacher war, entweder nur die männliche oder die weibliche Form zu nutzen. In dem Fall sollen stets die nicht aufgeführten Geschlechter mitgedacht werden.

10IEP steht in den USA für ‚Individualized Education Program‘ und entspricht einem sonderpädagogischen Förderprogramm in Deutschland (Anm. d. Übers.).

10 Dinge, die autistische Kinder ihren Eltern sagen möchten

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