Читать книгу Eine Frau für Mama - Elmar Zinke - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеDer Taxifahrer öffnet die Tür, der Rücksitz behagt von Klopp wie die Wohnzimmercouch seiner Mutter. Er stellt seine Beine quer vor die Rückbank und denkt, der Herr am Steuer wirft ein merkwürdig Auge auf mich. Im Losfahren ruckt der Mercedes älterer Bauart, hinter der nächsten Ampelkreuzung streckt sich eine Schlaglochpiste, der Wagen legt nur mäßig an Tempo zu. In Folge unterbleibt der Sichtkontakt über den Innenspiegel. Der Schwarze in nachlässiger Kleidung lenkt einhändig, die andere Hand umschließt den Knauf der Automatikschaltung. Ein stinknormaler Nachmittag zieht an von Klopp vorüber.
Die Trennung rührt Mama dieses Mal nicht zu Tränen, geht von Klopp durch den Kopf. Zudem die Merkwürdigkeit, dass sie für unsere letzten Stunden die Garderobe eines Opernbesuches wählt. Drückt mir zudem die Daumen, als stände mir ein bedeutsamer Wettkampf bevor. Käthe, die Herzensgute, gibt sich dagegen wie immer. Diese tränenreiche Umarmung. Als bräche ich, welch Trugschluss, zu einer Weltreise auf.
Verkehrsschilder weisen die Holidayparkplätze aus, ein Zubringerbus kreuzt den Weg, eine Lufthansamaschine sinkt zur Landebahn. Die Flughafenvorboten üben in von Klopp einen Sinnestaumel aus, er fiebert vor freudiger Erregung. Das Auto taucht in den Tunnel, überwindet mit hoher Drehzahl die ansteigende Straße zum Abflugterminal, an die Frontscheibe klatscht in Handschuhfachhöhe ein Flugobjekt. Was war das?, durchzuckt es von Klopp. Schwarze Federn bestücken einen weit aufgespannten Flügel, der Fahrtwind bläst das Erkennungsmerkmal umgehend fort, zudem sichtet von Klopp im Innenspiegel griesgrämige Züge.
Der Taxifahrer stellt den Motor ab, schraubt seinen mächtigen Schädel zum Fahrgast, flucht: „Scheiß Tier.“
„Es war ein Rabe“, verbessert von Klopp.
„Ein Rabe?“, stutzt der Andere. „Die gibt es nur noch in Filmen. Gerade gestern zog ich mir totalen Mist rein. Wie hieß der noch? … Der Rabe, Prophet des Bösen.“
Von Klopps Augen blitzen vor Unbeschwertheit und ihm entfährt: „Und in Büchern. Da kommen meine beiden Raben, was mögen die für Botschaft haben? Ich fürchte gar, es geht uns schlecht.“
„Wo steht das?“, fragt der Fahrer halbherzig.
Von Klopp streicht durch die schwarze Dichte des Haares, an den Schläfen wechselt es ins Graue.
„In Goethes Faust.“
„Genau“, hellt sich das Fahrergesicht auf. „Das ist doch dieser Studiertyp, der mit dem Teufel einen Trip macht.“
„Sozusagen“, anerkennt von Klopp. „Wir breiten nur den Mantel aus, der soll uns durch die Lüfte tragen.“
„Na ja, für Ihre Reise nehmen Sie besser den Flieger. Und das Fahren kostet bei mir Neunzehndreißig.“
Von Klopp entfaltet eine Fünfzigeuronote in den vorgehaltenen Handteller, sagt freundlich: „Der Rest ist für Sie.“
Der Fahrer kratzt seine glatt rasierte Kopfhaut, die Finger vereinnahmen den Schein im Zeitlupentempo. Mit Schwung setzt er seine Dickleibigkeit in Bewegung, mit Leichtigkeit hievt er den mittelgroßen Samsonitekoffer aus dem Gepäckraum.
„Danke, Herr Doktor“, schnauft er vor Erstaunen. „Ein echt gutes Trinkgeld. Beim Einsteigen wäre ich jede Wette eingegangen, dass Sie der absolute Geizkragen sind.“
Im Flughafengebäude findet von Klopp auf Aufhieb die Schalterzone der China Airline. Aus Mangel an Kundschaft fertigt die Schalterdame der Businessclass die Reisenden der Economyclass mit ab. Sie präsentiert ein Gutelaunegesicht, ihr förmlicher Augenaufschlag gilt ihm.
„Endlich einmal erste Klasse fliegen“, scherzt er.
„Mit unserer Gesellschaft haben Sie eine gute Wahl getroffen.“
Die Frau in moosgrüner Uniform und weißem Tüchlein um den schlanken Hals äugt in den Computer, jedes Wort an von Klopp paart sie mit einem persönlichen Lächeln.
„Reichen Sie mein Gepäck bis zum Endziel durch?“, fragt er zwischendurch.
„Selbstverständlich“, gibt sie ohne Blickwechsel zur Antwort. „Allerdings erhalten Sie ihre Boardingcard nach Bangkok erst in Schanghai.“
Von Klopp schaut über sie hinweg, unter dem Wort Schanghai sieht er klein gedruckt erstmalig das Wort Frankfurt.
„Was bedeutet Frankfurt?“, reagiert er verdutzt. „Der Flug ist als Direktflug ausgewiesen.“
„Ein kleiner Zwischenstopp“, beschwichtigt die Frau. „Sie verlassen das Flugzeug nur kurz.“
Von Klopp bündelt seine Verstimmung zu einem Stoßseufzer, steuert nach dem Aushändigen der Boardingcard den Kontrollbereich an. Seit jeher übersteht er das Durchschreiten der Sicherheitsschleuse ohne Warnsignal. Eilfertig entsorgt er vom Körper alle gängigen Rotlichtauslöser, spart die silberne Halskette, den schmalen Gürtel sowie die Schuhe mit den von Metall umrandeten Schnürsenkellöchern nicht aus. Das leidige Abtasten des Körpers durch fremde Hände bleibt ihm erspart.
Der Kurzaufenthalt in Frankfurt streckt sich ohne erkennbaren Grund. Er schaltet sein Handy an, wählt die Nummer seiner Mutter.
„Hallo Mama, ich melde mich noch mal.“
„Ist etwas passiert?“, klingt sie besorgt. „Fährst Du nicht längst durch die Luft?“
„Nein, es ist nichts passiert“, beruhigt er sie mit gesalbter Stimme. „Bloß eine Zwischenlandung in Frankfurt.“
Nach einem Klicken fragt sie: „Ich höre Dich nicht. Bist Du noch unter uns?“
Er bejaht es, ergänzt mit einer Spur Heiterkeit: „Passiert ist allerdings etwas auf dem Weg zum Flughafen. Ein Rabe vollführte auf der Frontscheibe des Taxis eine Bruchlandung.“
„Was ist mit Frau Raabe?“ platzt sie mit dumpfem Groll hervor. „Ist sie etwa Deine Reisebegleiterin? Hast du mich angeschwindelt?“
„Nein“, reagiert er gelassen. „Ich reise allein. Wie immer.“
„Nichts gegen diese Frau Raabe. Sie mag eine adrette Person sein“, wendet sie in hoher Tonlage ein. „Aber geschäftlich und privat verlangen eine strikte Trennung.“
„Natürlich Mama.“
„Deine Eltern vermitteln Dir eine Lehre.“
„Ja, Mama“, bekundet er trocken.
„Bestimmt krönt der Erfolg dieses Mal deine Glückssuche“, überkommt es sie fast überschwänglich.
„Mama“, beschwichtigt er. „Wie immer stille ich mein Fernweh. Nur diese Leidenschaft! Die im Übrigen Du mir einpflanzt. In meinen Kindertagen. Mit diesen wunderbaren Bildbänden.“
„Das mag richtig und klug sein“, setzt sie plötzlich zu einer Strafpredigt an. „Und jetzt sage ich es mit aller gebotener Klarheit. Nimm endlich deine Verantwortung wahr. In unser Haus gehört eine junge Frau. Vor meinem Ableben, damit Seelenruhe mich bettet.“
„Mama, bitte …“
„Martin von Klopp“, unterbricht sie ihn forsch, „mich drängt heiliger Ernst. Ich flechte in mein Testament eine Klausel ein. Glaub mir, Du trittst das Erbe nur an, wenn am Tage meines Todes eine junge Frau von Klopp unser Haus bereichert. Ansonsten erbst Du nur Deinen Pflichtteil. Der andere Brocken geht an meine Stiftung zur Ächtung von Tierversuchen.“
„Mama“, übt er sich in Geduld, „ich bin ein Beamter im hohen Besoldungsbereich. Du kannst mich enterben, aber nicht in die Fänge der Armut treiben.“
„Sei nicht so widerspenstig“, entrüstet sie sich mild.
„Ach Mama“, lenkt er ein, „ich habe doch Dich.“
„Sei nicht kindisch!“
Von Klopp spürt ein warmes Gefühl aufsteigen, lebt es aus, sagt mit Herzklopfen: „Behalte ich dieses Ansinnen im Blick, dann einzig aus dem Grund, dass damit der innige Wunsch meiner Mama in Erfüllung geht. Insofern gilt das Versprechen, ich besorge Dir eine Frau. Zumindest mühe ich mich redlich.“
„Kindskopf du“, kehrt sie ihre versöhnliche Seite hervor, ermahnt ihn im Handumdrehen vorwurfsgeladen: „Denk auch bitte daran, alles verläuft längst in bester Ordnung, wenn …“
In von Klopp brechen Widerspruch und Argwohn aus: „Du bist ungerecht. Du kennst die Gründe. Zumindest den Hauptgrund.“
„Überdies nahm mir die Trennung meine Enkeltochter.“
„Am besten, ich mache Frau Raabe Avancen“, steigert er seine Angriffslust. „Sie ist Siebenunddreißig. Zum Kinderkriegen kein schlechtes Alter.“
„Gebäre sie ein Rudel Kinder, aber nicht von Dir“, übertrifft sie seine Schlagfertigkeit um Längen.
„Ich…“
„Du weißt, auch eine Schwarze erhält meinen Segen“, unterbreitet sie geschwind ein neuerliches Friedensangebot. „Dein Urgroßvater…“
„Ich fliege nicht nach Afrika, sondern nach Asien“, fällt er ihr ins Wort. „In Kambodscha schimmern die Menschen höchstens leicht angebräunt. Wie nach einem Besuch aus dem Sonnenstudio.“
„Beweise Deinen Realitätssinn“, ermahnt sie ihn fürsorglich. „Den Zenit Deines Lebens, Du hast ihn überschritten. Alles Wählerische kennt mittlerweile Grenzen. Ich hoffe, mein Liebling, Du bist nicht begriffsstutzig. Ich jedenfalls glaube fest daran, dass diese Reise Dein Leben grundlegend ändert.“
„Ja, Mama“, sagt er gereizt. „Jetzt sage ich Lebewohl.“
„Mein lieber Junge, gestatte mir schlussendlich noch ein Kompliment. Mit dem Halstuch und diesem khakifarbenen Aufzug siehst Du echt fesch aus. Zum Anbeißen. Wie ein reicher Farmer in den Kolonien, der auf Brautschau geht. Allein Pfeife und Hut fehlen.“
„Ich lege jetzt auf, Mama, der Flieger ist zum Einsteigen bereit“, flunkert er mit rosigen Wangen, legt auf.
Der Zwischenaufenthalt auf dem Flughafen Frankfurt/Main weitet sich zur Hängepartie. Wachsendem Unmut entflieht er durch Menschenbeobachtungen. Er nimmt seinen Spähposten stehend ein, mustert eine alleinreisende Frau, leugnet seinen Gefühlsschub.
Während des Fluges flimmern auf seinem persönlichen Monitor unentwegt die aktuellen Flugdaten, zuweilen überschreitet das Flugzeug die Grenze von eintausend Stundenkilometern, mit dem Aufsetzen schmilzt die einstündige Verspätung im Abflug auf eine Viertelstunde in der Ankunft. Eine Abfolge langer Gänge über mehrere Etagen mündet in einen riesigen Raum, Neuankömmlingen bürdet er die Eigenart des Unübersichtlichen auf. Ein unauffälliges Schild Transferservice weist auf die Angebote eines halben Dutzends uniformierter Angestellter hin, vor den Schaltern krümmen Absperrbänder im Zickzack eine Menschenschlange.
Bis zu von Klopps Direktkontakt mit einer Frau hinter Glas verstreicht eine geschlagene Viertelstunde, er erhält keine Bordkarte und keine Auskünfte für den Weiterflug. In einem schmalen Gang erahnt er den Weg zum richtigen Gate, ein Mann in Uniform stellt sich quer, von Klopp orientiert sich zur Raummitte. Hundert Meter weiter blockiert der Einreiseschalter die Suche. Eine Frau vor ihm füllt ein Formular aus, er erkennt in ihr seine Frankfurter Beobachtung, stellt sich zu ihr.
„Wir müssen den Transitbereich verlassen und uns ganz normal einchecken“, sagt sie zu ihm.
Sie schiebt ihm ihren Montblant zu, akribisch füllt er sein Formular aus. Die Situation überfordert sie, ihr Lächeln deutet es an. Der Passuniformierte nahe dem Pensionsalter lichtet ihr Dokument ab, prüft misstrauisch die Übereinstimmung des Fotos mit der Person vor ihm, blättert seelenruhig nach der letzten freien Seite für den Einreisestempel. Auch die eigene Abfertigung empfindet von Klopp als halbe Ewigkeit.
„Kommen Sie“, ruft er plötzlich ruhelos, greift den Arm seiner Reisebekanntschaft. „Wir schaffen es.“
Nach einer Rundumdrehung hetzen sie die Rolltreppe hinab ins Erdgeschoss, es mangelt eklatant an sichtbaren Informationen, Fluggästen und Bediensteten.
„Der Flughafen von Schanghai ist ein Geisterhaus“, fasst er seine Eindrücke zusammen.
„Ich nerve mal“, sagt sie, läuft einem jungen Mann entgegen.
An der Brusttasche seines weißen Hemdes zwickt ein Namensschild, seine Arme wirken überlang. Von Klopp stellt sich hinzu, das Nuschelenglisch des Mannes versteht er nur ansatzweise.
„Was hat er gesagt?“
„Closed“, sagt sie achselzuckend. „Good bye Bangkok. Wenigstens kriegen wir Tickets für die Mittagsmaschine.“
„Was ist mit unserem Gepäck?“
„Darum kümmert sich der Boy.“
Ihr Kopf nickt in die Richtung des Angestellten, wenige Schritte entfernt drückt er auf seinem Smartphone eine Nummer nach der anderen.
„Sehen wir die Angelegenheit positiv“, erfasst Heiterkeit sein Gemüt. „Der Zufall beglückt uns mit dem Reich der Mitte. Ich jedenfalls überschreite diese Grenze zum ersten Mal.“
Sie verschränkt die Arme, ihr Kopf führt eine Regung wie zur Abwehr eines Insektes aus. Der Kopf birgt müde tiefdunkle Augen und eine schmale spitze Nase. Zwei Zöpfe bündeln das kräftig blonde und volle Naturhaar mit einem Trend ins Rotstichige. Die Haartracht hebt den stark ausgeprägten Hinterkopf hervor, festigt den Anschein einer Neigung ins Unkonventionelle. Ein rehbraunes Longarmshirt aus Seide, ein gleichfarbiges Stirnband und ein melonenartiger Hut im angegrauten Weiß markieren das Auffällige der Garderobe. Mitte Dreißig, denkt er, eher ein paar Jahre darüber als darunter.
Beide folgen dem Angestellten in die benachbarte Halle. Ein Laufband bewegt Gepäckstücke durch menschenloses Gebiet, stärkt den öden Charakter des Flughafens. Von Klopps Koffer wirkt unverwechselbar durch das kräftige Rot, den Silberstreifen und einen breiten Gurt, das Auftauchen erscheint von Klopp rätselhaft. Er trägt ein Namensschild, denkt er, gewiss, aber wie mag ein chinesischer Arbeiter diese Schrift entziffern, zumal in der gebotenen Eile und eingedenk der Unmasse an Fracht. Offenbar dienen Glücksgriffe als taugliches Mittel, dem Unglück Einhalt zu gebieten.
Von Klopp hievt sein Gepäck vom Band, eine Frau taucht neben ihm aus dem Nichts auf, klebt an den Koffergriff eine neue Banderole, nimmt von Klopps Pass zur Hand, reicht ihm eine Bordkarte. Kurze Zeit später ereilt der Mitreisenden derselbe Umstand.
„Recht so“, legt sie ihre Gedrücktheit ab. „Stemmen wir uns nicht gegen das Schicksal. Bis zur Boardingtime verbleiben vier Stunden. Schon mal ein Höllentempo in luftiger Höhe gefahren?“
„Ja“, versucht er sich im Originellen. „Mit dem Flugzeug.“
„Das Flugzeug fliegt und fährt nicht.“
„Wie Recht Sie haben“, lächelt er beschämt. „Da spricht wieder mal meine Mutter aus mir. Anstelle ´Fliegen´ sagt sie immer ´Fahren´. Ganz bewusst. Um meine Nerven zu kitzeln.“
Sie schiebt ihre Unterlippe nach vorn, pustet Nase und Stirn Luft zu, sagt sachlich: „Fliegen oder fahren wir? Das stellt sich manchmal wirklich als Frage. Der Transrapid fährt in der Spitze dreihundert Sachen. Sportflugzeuge erreichen mit diesem Tempo die normale Reisegeschwindigkeit.“
„Ich bin gespannt“, frohlockt er.
Sie wechseln ausreichend Geld für die Fahrscheine, auf den Laufbändern nutzen sie die Gelegenheit zum Gehen. Der Transrapid sieht aus wie ein ICE, im Abteil mit über fünfzig Plätzen leistet ihnen eine Handvoll Mitreisender Gesellschaft. Die Beschleunigung drückt sie in die Sitze, an den Fahrzeugen auf der parallel verlaufenden Schnellstraße rauscht der Transrapid vorüber wie Autos an Pferdewagen. Nach zweieinhalb Minuten zeigt die Leuchtanzeige über der Abteiltür die Höchstgeschwindigkeit Dreihunderteins an. Mein Herz, denkt er. Wie rasch es heftig schlägt. Wie rasch es ins Unauffällige wechselt. Seine Augen gleiten zur Geschwindigkeitsanzeige, der leuchtende Zahlenwert sinkt unaufhörlich. Der Bremsvorgang spaltet sich in Sehen und Fühlen, hält er weiter Zwiesprache. Am Ende sehe ich den Stillstand durch die Zahl Null. Stillstand und Bewegung gleichen sich im Gefühl an.
„Zieht es Sie gleich wieder zurück?“
Das Ende eines Zopfes fegt über ihre Nasenspitze, sie fragt zurück: „Was meinen Sie?“
„Essen wir einen Happen“, schlägt er vor. „Chinesisch essen in China lehrt uns bestimmt eine neue Erfahrung.“
Vor dem Bahnhof senden beliebige Hochhäuser und Geschäfte ohne Glanz eine triste Vorortatmosphäre aus, an einem Achtzigmeterhaus gelobt ausgeschaltete Leuchtreklame in großen Formaten den Wandel in der Dunkelheit. Von Klopp frönt unbändiger Entdeckerlust, spart das Banale nicht aus. Sie geht wortlos neben ihm her, fingerzeigend weist er sie auf die Vielfalt der Kopfbedeckungen in der Frostkälte hin, mancherorts treiben sie ausgefallene Blüten. An einer verkehrsreichen Kreuzung streckt eine Ampel die Wartezeit. Er starrt zum roten Ampelmännchen, denkt an Bilderbuchmotive der Stadt. Sie beäugt von Klopps gezügelte Leibesfülle, die Geradlinigkeit der Nase, den gepflegten Dreitagebart, die schmalen Augen. Sie quellen vor Himmelblau über, schrägen sich an den Außenseiten.
Er hält vor einer unscheinbaren Gaststätte, zwei großflächige Drachenbilder überkleben die Schaufensterfront. Im ersten Eindruck besticht das Lokal durch die behaglich kleine Räumlichkeit, im zweiten durch eilfertige Kellnerinnen. Eine Angestellte ganz in schwarz misst von Klopps Größe im Sitzen, händigt eine Speisekarte in Chinesisch aus, verneint kichernd die Ausführung in Englisch. Speisebilder bewahren die beiden Deutschen vor einer Zufallsbestellung und ausschließlich in Abhängigkeit des Preises.
„Ich heiße übrigens Betty. Betty Winter.“
„Natürlich, höchste Zeit, dass wir uns vorstellen“, sagt er, schützt seine Unsicherheit mit der Übertreibung seines Lächelns. „Mein Name ist Martin von Klopp.“
„Verarmter Landadel?“
„Hamburger Industriellenspross.“
Ihr Gesicht drückt sichtbares Erstaunen aus, wie zum Ballauffangen hebt er die Hände.
„Mein Name steht im Übrigen für eine Geschichte“, erklärt er heiter. „Eine Geschichte, die von einem Cocktail handelt aus höchst Privatem und rein Geschäftlichem. Mein Großvater mixte ihn als weitsichtige Maßnahme zur Förderung der Reputation. Und was sagt Ihr Name über Sie aus? Ihr Name klingt nach einem Künstlernamen. Nach Kunst.“
„Nicht ganz falsch“, sagt sie, versucht sich erstmalig an einem Lächeln. „Wobei, zum Künstler taugen wir doch alle.“
„Zum Lebenskünstler?“
„Mein Wort lautet Daseinsakrobat.“
„Daseinsakrobat, beileibe, das lässt aufhorchen“, anerkennt er mit Nachdruck. „Wissen Sie, ich liebe Wörter, im speziellen Wortpaare. Zum Beispiel Lächelmund, Sinnentanz oder Frauenzimmer. Diese unüberschaubare Pracht und Herrlichkeit der Wörterehen.“
„Ihr Erbe gönnt Ihnen offensichtlich Muße für die Kunst des Daseins“, taut sie beinahe spitzzüngig weiter auf. „Also für die Daseinskunst. Oder lieber für das Kunstdasein?“
„Durch Zauberworte reifte die Sehnsucht nach geschmackvollen Worten. Dieses heiße, zuweilen auch schmerzliche Verlangen verdanke ich Mama. Also meiner Mutter.“
„Verstehe, das reine Dasein als reine Kunstform.“
„Mitnichten“, wiegelt er ab, spürt ein Erwärmen seiner Wangen. „Ich sorge für mich selbst. Empfange Gehalt für meinen Lebensunterhalt.“
„Ein Gehaltsempfänger also. Und wofür halten Sie jeden Monat die Hand auf?“
„Als Beamter gehöre ich einer Behörde an, der auch gute Menschen allerlei Böswilliges andichten. Raubritterei, Wegelagerertum, Abzockermentalität.“
Ein Ausbruch von Fröhlichkeit schmückt ihr Gesicht, sie sagt: „Nun, wie der Prototyp dieser Menschenverärgerer sehen Sie nicht aus.“
„Danke. Das ist eine echte Freundlichkeit.“
Sie essen mit Curryhuhn das gleiche Gericht, sammeln gleichermaßen die Erfahrung atemberaubender Gewürzschärfe. Sie halten tapfer ihr Lächeln aufrecht, kämpfen gegen das Höllische im Mund mit überreichlich stillem Wasser. Ein Wort beschwingt das andere, entführt sie zu einer stimmungsvollen Entdeckungsreise ins Vage. Stumme Phantasien gleichen Schweigephasen aus.
„Ich glaube, Bangkok ruft“, sagt sie hörbar traurig.
„Nehmen wir einfach den nächsten Flieger“, schlägt er vor.
„Die Bordkarte ist kein Freibrief für jede Lust“, wahrt sie einen kühlen Kopf.
Von Klopp übernimmt die Rechnung, Betty quittiert den Fingerzeig des Großzügigen mit einem Breitziehen des Mundes.
„Welches Ziel verfolgt mein Gegenüber in Thailand?“ fragt sie am Gate.
„Duzen wir uns doch bitte“, wendet er heiter ein. „Sozusagen als Anredeerleichterungsmaßnahme.“
„Gut, was zieht Dich nach Thailand?“
„Zunächst reise ich nach Kambodscha. Siem Reap. Angkor. Die Tempelstadt im Urwald. Und Du?“
„Ich steige für eine Weile aus“, entfährt ihr fahrig. „Ein Bekannter wohnt im Südosten, nahe der Grenze, auf einer Insel … Hält sich mit einer Tauchschule über Wasser... Wenn Du willst …“
„Sich mit einer Tauchschule über Wasser halten“, unterbricht er sie. „Ein schönes Wortspiel.“
„Ach so, nicht der Rede wert… Also, wenn Du willst, gebe ich Dir die Adresse. Für alle Fälle.“
„Nach Angor mache ich ein paar Tage Station in Pattaya, danach zieht mich mein Plan ins Landesinnere, in den Norden.“
Im Feixen erklärt sie unumwunden: „In Pattaya rekrutieren die Singleboys ihre pflegeleichten Frauen“.
Er mutmaßt eine halbernste Unterstellung, erklärt geschwind: „Hoffentlich reicht die Zeit für das, was Dir vorschwebt.“
„Die Zeit, die Zeit“, sagt sie und ihre Augen erlöschen. „Einmal alles vergessen.“
Sitz an Sitz tauchen sie in die milchigweiße Wolkenfront ein, leichte Turbulenzen begleiten das Durchstoßen. Erste Sonnenstrahlen durchbohren die Bordfenster, Mitreisende wehren sich durch Sichtschutzklappen. Einmal alles vergessen, denkt er. War es ein Aufschrei? Mit Atemübungen ringt er sich zu einer klärenden Fragestellung durch, sucht den Blickkontakt und gewahrt geschlossene Lider. Sie ist älter als sie ausschaut, denkt er alsbald, ihre Garderobenteile fallen teurer aus als der Eindruck es erweckt, sie blickt trauriger drein als es den Anschein hat. Ihre Nähe und diese Rätsel, was für ein reizvolles Gespann.
Ihr Kopf neigt sich zu ihm ins Unbequeme, er führt einen fragwürdig höflichen Abstand herbei, mimt den Schlafenden, nickt darüber ein. Eine Liebesszene mit fremden Personen flimmert in ihm. Er reißt die Augen auf, wirft den Kopf zur Gangseite, die Traumbilder verblassen. Zwei blutjunge Frauen schieben ein Metallwägelchen mit zollfreier Ware, von Klopp zählt zu den wenigen Käufern.
Pfeiftöne begleiten den Landeanflug, die Gelassenheit in den Verhaltensabläufen der Stewardessen zerstreut den Verdacht des Abnormen. Die unsanfte Landung öffnet Betty die Augen, im Schein des Verträumten harrt sie aus.
„Zunächst bleibe ich allein in Bangkok“, raunt sie.
„Bist Du zum ersten Mal hier?“
„Ja.“
„Sie geht Dir nicht mehr aus dem Sinn“, sagt er ergriffen. „Wie ein erlesenes Buch. Wie ein schönes Gespräch. Wie ein einmalig wundersames Wort.“
„Dann kennst Du die Stadt in einer Vollkommenheit wie Deinen Lieblingsroman.“
„Besser als die meisten Orte in Deutschland“, bestätigt er.
Vor dem Einreiseschalter entgleiten von Klopp die Gedanken, das Gepäckband fördert zuerst ihren Backpackerrucksack zutage. Auf ihrem Rücken löst er einen Verjüngungsschub aus, denkt er. Im flauen Händedruck wünschen sie einander das allgemein Übliche.