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ОглавлениеIM WARENHAUS
Neues Wiener Journal, 12. Januar 1919
Es ist drei Uhr nachmittags. Die eigentümlich träumerische Zeit, wenn noch nicht die elektrischen Lichter brennen. Eine Dämmerung wie auf freiem Felde liegt in diesem großen Käfig. Es ist wenig Kundenverkehr; die Verkäuferinnen stehen herum, plaudern miteinander, langweilen sich, grübeln nach, richten sich die Locken, pudern sich versteckt das Gesicht.
Manche sind noch jung; man hört sie über ein Wort, das die Kameradin ins Ohr geflüstert hat, laut lachen.
Aber viele, viele sind alt; haben Falten im Gesicht, Kummerringe um die Augen – das Leben und das Glück ist für sie ein für allemal verloren.
Sie stehen bei ihrem Ladentisch und verkaufen Bänder, Spitzen, Taschentücher und hundert andere Sachen, nur die Lustigkeit und Koketterie früherer Tage sind dahin. Hinter dem Ladentisch sind sie dahingewelkt und sind bissig und grob geworden. Sie beschimpfen die kleinen Lehrmädchen, die sie beneiden um ihre rosigen Wangen und glänzenden Augen, die sie hassen wegen ihrer Jugend.
»Ich bin lieber ungeschickt und dumm als alt und häßlich«, hatte ein fünfzehnjähriges Lehrmädchen im Zank zu einer vierzigjährigen Verkäuferin gesagt. So geht es zu. Der Wettstreit der Jahre im Warenhaus, eine stumme Tragödie, die Tag für Tag, Jahr für Jahr, spielt.
Vor dem Verkaufsstand für Strümpfe und Wollsachen stehen zwei junge Mädel.
»Wieviel Uhr ist es, Hedwig?«
Hedwig blickt auf ihre goldene Uhr, die sie von ihrem Geliebten geschenkt bekam, zum Dank dafür, daß es doch nicht das war, was er befürchtet hatte. »Wir können bald sperren, noch eine Stunde«, sagt Hedwig.
»Wie dumm«, meint die Kameradin, »jetzt haben wir so früh aus und man weiß doch nichts mit der freien Zeit anzufangen. Ich sitze, wenn ich heimkomme, bei meiner Mutter in der Küche und flicke unsere alten Fetzen bei der Kerze.«
»Warum nimmst du nicht ein Buch?«, fragt Hedwig.
»Ich lese nicht gern; nein; es interessiert mich nicht.«
»Na ja.«
»Man hat nichts von der freien Zeit. Früher hat es nie ein Ende nehmen wollen; es ist acht worden, es ist neun worden, und jetzt hat man auch nichts davon. Wohin soll man gehen? Alles ist so teuer.«
Hedwig hat einen Hustenanfall; sie hustet erstickt und erschrocken in ihr Taschentuch hinein.
Da flammt das elektrische Licht auf. Die Kameradin fährt zusammen.
»Hedwig, was hast du für ein bleiches, bleiches Gesicht?«
Hedwig lächelt. Wie hübsch sie ist mit dem roten Haar und den feinen, schmalen Wangen. Im grellen Licht sieht sie aus wie eine schöne Tote. Wie eine Tote auf der Bühne –
Im Konzertcafé. Sie sitzen in einer Ecke; jeder hat ein Gläschen Nougat vor sich. Ein paar Geiger und ein Klavierspieler spielen: aus den Deutschen Tänzen von Schubert.
»Ja«, sagt Hedwig, indem sie ihre Hand in die Hand ihres Geliebten legt: »Alles wird vergehen. Was ist der Mensch überhaupt? Man lacht und freut sich, man trinkt und liebt, man quält und härmt sich ab – und was ist das Ende? Man zerfällt in Staub. Alles vergeht, nur dies nicht.« Und sie summt leise mit dem Orchester die entzückende Melodie aus den Deutschen Tänzen.
Sie sitzen schweigsam.
»Hedwig, du bist nicht bei mir, du bist ganz woanders mit deinen Gedanken.«
Hedwig lächelt. Wie schön ist ihr junges Gesicht, wenn sie lächelt. Er sieht es und drückt ihre Hand.
Die Musikanten haben Pause. »Laß uns jetzt ernst reden, Hedwig. Wann kommst du zu uns ins Spital. Ich muss endlich wissen, was dir fehlt.«
»Ich werde schon kommen.«
»Komme gleich morgen. Morgen hat Doktor D. Dienst. Er ist sehr tüchtig: Er wird dir sagen –«
»Ich will es gar nicht wissen.«
Nach einer Weile sagt Hedwig: »Wie viel Prüfungen hast du noch?«
»In einem Jahr werde ich Doktor.«
»Und dann?«
»Und dann? Wie kann ich heute etwas sagen. Alles ist so ungewiß.«
»Ja, alles ist ungewiß.«
Die Musikanten spielen wieder. Den großen Gesang aus der »Bohème«.
»Ich werde heute nach Hause gehen«, sagt sie.
»So? Warum?«
»Ich habe Sehnsucht nach meiner Mutter, nach zu Hause.«
»Aber geh’.«
»Sie sieht mich eigentlich nie. Bei Tag bin ich im Geschäft und abends mit dir. Ich weiß nichts von ihr, sie nichts von mir. Wenn ich nach Hause komme, schläft sie, und in der Früh geht sie um sechs Uhr in die Arbeit.«
Hedwig schließt die Augen. Sie fühlt die Nähe des Geliebten wie einen Rausch. »Flüchtiges Glück!«, denkt sie. Wenn man jetzt einschlafen könnte und nicht mehr erwachen. Hier war es warm und licht, hier war Vergessenheit. Vergessen war die Mariahilferstraße – Fräulein, kann ich diese Socken auch in grau haben? Was kosten sie? Achtstundentag – ja – die Arbeiter werden es einmal besser haben. Es kommt eine glücklichere Zeit. Menschendämmerung!, hatte jemand in einer Versammlung ausgerufen. Auch für ihre Mutter wird es einmal besser werden. Weil sie auch zu den Arbeitern gehört. Was aber kann noch mit sechsundfünfzig Jahren besser werden … Nächstes Jahr macht er das Doktorat – ein Arzt. Die Hauptsache ist und bleibt ja aber doch ihre kranke Lunge.
Auf der Straße nimmt sie den Arm ihres Geliebten.
»Wohin gehen wir?«, fragt sie.
»Ich begleite dich natürlich nach Hause.«
»Ich will nicht nach Hause gehen.« –
Im Behandlungssaal des Krankenhauses.
Der junge Mediziner spricht mit dem Arzt.
»Wir wollen noch eine Röntgendurchsuchung machen, damit Sie es sehen können«, sagt der Arzt.
»Zieh dich noch nicht an, wir wollen noch ins Röntgenkammerl«, flüstert zitternd der Mediziner.
»Was haben Sie, Kollege; warum sind Sie so aufgeregt?«
»Gar nichts; es ist ein Mädel, das ich kenne.«
»Ach so – schade – hm, kein Zweifel, Todeskandidatin; wir werden es ja gleich sehen.«
Hedwig steht vor dem Röntgenapparat. Der Arzt und der Mediziner betrachten das Bild.
»Sehen Sie einmal, Herr Kollege.«
Und er zeigt ihm die Lunge seines geliebten Mädchens zerfallen und ausgehöhlt – ein letzter Fetzen Leben. Er sieht ihr Herz, ihr zärtliches, junges Herz; er sieht es mühsam arbeiten mit letzter Kraft.
»Verloren«, flüstert ihm der Doktor zu, »noch vier Wochen.« Dann geht er aus der Kammer.
»Hedwig, zieh dich wieder an«, er sagt es leise mit weißen Lippen.
»Ja, ja; ich weiß alles«, sagt sie, sieht ihn an und lächelt wie eine Tote.