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BILDER DES ELENDS. RACHITIS


Neues Wiener Journal, 9. März 1919

Es kann nicht oft genug geschildert werden, in welchem Grade der Not Menschen leben.

Unmenschlich hart ist der Leidensweg einer Mutter mit ihrem rachitischen Kind auf dem Arm!

Die Rachitis ist eine Volkskrankheit, welche der Armut, der Sonnenlosigkeit, der unsozialen Bauart entspringt.

Es gibt viele tausend Häuser mit Kellerwohnungen in allen Bezirken Wiens. Wenn man diese Häuser besucht, fällt vor allem eines auf: Die Ausnutzung des Raumes ist bis ins Fanatische gesteigert. Es gibt Häuser, in denen mehr als hundert Kinder leben. Ich habe vor zwei Tagen in der Brigittenau ein Haus gesehen, es ist das Doppelhaus Rauscherstraße 8/10, in dem nie Stiegen gekehrt werden, ein Hof, in dem vier Fensterfronten von vier Stockwerken gehen, ist ein einziger Kehrichthaufen; alle Parteien des Hauses entladen in diesen Hof – wahrscheinlich durch die Fenster – den Mist. Eine Straßenreinigung gibt es in diesen Gegenden überhaupt nicht, es wurde mir gesagt, der »Mistbauer« komme oft wochenlang nicht. Wie der Gesundheitszustand dieser Menschen aussieht, bei denen die zehn Plagen der alten Ägypter zu Hause sind, läßt sich denken. Von den Kindern aber sind fast alle rachitisch. In den größten Kinderkrankenanstalten, wo ich meine Studien der rachitischen Kinder machte, sagten mir die Ärzte, es gehörte zu den größten Seltenheiten, einmal ein Proletarierkind zu sehen, das ganz ohne Rachitis wäre.

Die Behandlung dieser rachitischen Kinder in den Spitälern ist – das muß gesagt werden – eine Farce, eine Komödie. Man kann es nicht begreifen, wie überhaupt sich Ärzte finden, die sich zu derartigem hergeben; daß nicht alle die Arbeit hinhauen und davonrennen. Ihr ganzes »Ordinieren«, die ganze »Ambulanz« ist für nichts. Die Ärzte können nicht helfen! Sie schauen die Kinder an; sie verschreiben Heilmittel, die nicht zu bekommen sind, Milch, die nicht zu bekommen ist. Sonne, Luft und Nahrung, dies alles ist nicht zu haben. Was also geschieht mit den Kindern? Nichts. Sie sterben auch nicht. Wenn nicht durch ein besonderes glückliches Eingreifen der Natur eine Diphterie oder Lungenentzündung eintritt und rasch einem unglücklichen Leben ein Ende macht, wachsen diese Kinder heran und erreichen sogar ein oft recht hohes Alter. Wie aber sieht das Leben solcher Menschen aus? Mit Ausnahme des Aussätzigen (Lepra) kann man sich keinen körperlich und seelisch unglücklicheren Menschen denken, als einen durch Rachitis in der Kindheit Verunstalteten. Durch äußere Deformation bleibt er für sein ganzes Leben ein Gezeichneter. In der Kindheit die Sorge und Qual der Mutter, wird er im schulpflichtigen Alter das Gespött der Kameraden, das Ziel grausamer Kindertyrannei, unfähig zum frohen Spiel, unfähig zum ernsten Lernen, wächst das Kind in das Jugendalter hinein. Es kann keinen Beruf finden, wo Körperkräfte nötig wären; es ist von vornherein bankrott. Unlust und Menschenscheu treiben es zur Grübelei und zur Schwermut. Es kommt die Zeit der Geschlechtsreife, der klopfenden Herzen, des stürmischen Blutes. Das verunstaltete Geschöpf muß einsam gehen. Das Mädchen oder der Mann, den es liebt, nimmt jemand anderen. Jahre des Grames, der Not, der Verlassenheit bringen vorzeitiges Altern, allgemeine Entkräftung, eine müde Bettlergestalt sucht und findet den einzigen Freund in dem Tod, der spät, aber doch kommt. Dies ist der gewöhnliche Verlauf des Lebens eines Kindes armer Leute, dessen Rachitis nicht zur Heilung kam, und das sein Gebrechen durch ein ganzes Dasein schleppen mußte, jede Stunde ein Fluch, jeder Tag eine Hölle.

Wir träumen von der Gleichheit aller Menschen, wenn einmal der kämpfende Sozialismus der siegende wird.

Von Geburt sind wir alle gleich. Alle waren einmal nackte, hilflose Kindlein. Von der Wiege bis zum Grabe ist nur eines für den Menschen entscheidend: Lebt er in der Atmosphäre des Kapitals oder in der Atmosphäre des Elends. In der Atmosphäre des Kapitals bedeutet: Es ist genug Geld da, dem Menschen durch die Zuführung von Nährwerten die Gesundheit seines Körpers zu geben und zu erhalten; Bildungsmöglichkeiten sind da, eine Fülle der Freude, des Vergnügens, der Feste; hat es eine Begabung, es kann sie in Ruhe ausbilden, ist es ehrgeizig, die höchsten Stellen stehen ihm offen.

Wie ganz anders der Arme, dessen Kindheit schon korrumpiert ist, der, von Hunger und Kälte gequält, im Lasterpfuhl heranwächst, nichts anderes kennt, als sich zu verlaufen, seine Seele, sein Herz, seine Lungen, das Mark seiner Knochen und – wohin verlaufen? –, um immer für den nächsten Tag den ärgsten Hunger stillen zu können. So leben Millionen Menschen auf der ganzen Erde. Freudlos, hoffnungslos. Ihre Kindheit ist angefüllt mit Prügel, ihre Jugend mit Schreckensträumen, ihre Mannheit mit harter Arbeit, mit der planmäßigen Ausnutzung ihres Leibes, mit der Schändung ihres Menschentums; ihr Alter ist Gram und Sorge; wenn Krankheit dazu kommt, wohl die scheußlichste Tragödie Mensch, die sich denken läßt. So werden Millionen Menschen auf der ganzen Welt dem Kapitalismus geopfert.

Die dynastischen Regierungen der Jahrhunderte haben die Menschheit verwüstet; die Eroberungssucht und Raubgier der Monarchen haben die nationalen Schranken aufgerichtet; der Haß der Länder untereinander ist erwacht.

Der Glanz und die Macht des Thrones haben den Ehrgeiz der Schurken geweckt. Das Geld hat regiert! Man konnte sich Würden und Orden kaufen; man hatte einen Titel und war wer! Man konnte auf den anderen herabsehen: Wer bist du eigentlich?!

Und die Massen mußten für die einzelnen die Reichtümer erarbeiten. Mit den Opfern ihres Lebens und des Lebens ihrer Kinder. Von allen Staaten am schlechtesten bestellt war es um den österreichischen.

Einem Greis mit getrübtem Verstande war das Schicksal der Millionen bedenkenlos in die Hand gegeben. Die Rührseligkeit, die man einem verkalkten alten Mann durch Jahre entgegenbrachte, die Sucht, in seine Nähe zu gelangen, ihm zu gefallen, ihm zu dienen, sengte alle Energien auf, die an die Völker gewandt werden sollten. Jubiläumsfestzüge, eucharistische Kongresse, Jagdausstellungen (im Rahmen des allerhöchsten Jagdherrn) mit ihrer Unmenge von Kosten waren die größten Sorgen, die man hatte, während die Massen des Volkes wie in einem Kerker lebten.

Die Sozialdemokratie war noch jung und zaghaft. Sie hatte erst ein Lichtlein gesehen.

Es soll anders werden. Heute rückt der Sozialismus immer mehr mitten in die strahlende Sonne. Und der Sozialismus verlangt menschliche Wohnungen für alle, ein bißchen Freude, ein bißchen Ausruhen, ein bißchen Glück für alle! Und es muß endlich der Anfang gemacht werden.

Es gibt kranke, verkrüppelte Kinder, aus denen kranke, verkrüppelte Menschen werden, weil sie ohne Hilfe bleiben.

Wir haben das Schloß Schönbrunn, das das Projekt eines Unternehmens für Kinder ist. (Man denke an die herrliche Sonne der Tirolwiese.) Schönbrunn könnte eine geeignete Heilstätte für rachitische Kinder werden.

Die Ausrede, es wären keine Mittel da, gilt nicht. Es gibt angehäufte Millionen. Ohne Anarchie und ohne Bruderkrieg, bloß aus innerster Überzeungung, auf dem Wege der Vernunft, haben die Besitzer der Millionen zu einer entsprechenden Vermögensabgabe verpflichtet zu werden. In aller Güte und Freundschaft sei ihnen nur das Beispiel hingestellt: die Mutter aus der feuchten Kellerwohnung – eine von Tausenden – in grenzenlosem Hunger und Elend und ein Millionär im Übermut des Überflusses – ist das nicht ein elementares Beispiel? Müßte der Millionär sich nicht schämen seines Geldes, wenn er erführe, daß er in derselben Stadt mit verhungerten, kranken Menschen zusammenwohne, die Menschen sind, von einer Mutter geboren, wie er!

Wir haben Schönbrunn, wir haben Besitzer angehäufter Vermögen, wir haben Arbeitslose, die auf Arbeit warten; wir haben rachitische Kinder, deren kranke, erweichte Knochen nach der Sonne lechzen: Wie nahe läge da die Tat!

Flüchtiges Glück

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